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Einleitung. Die ökonomische und soziale Sphäre der irischen Gesellschaft war während des 18. Jahrhunderts nicht minder kolonial überformt als die politische.

Darum wird in diesem Kapitel zunächst danach gefragt, welchen spezifischen Beitrag koloniale Wirtschaftsbedingungen zur Entstehung gesellschaftlicher Kon-fliktpotentiale beisteuerten, indem die Genese und Entwicklung zentraler ökono-mischen Gegensätze in der irischen Gesellschaft rekonstruiert wird. Erst im zwei-ten Schritt erfolgt dann die Annäherung an den Bereich der sozialen Ungleich-heit.263 Die Sozialstruktur264 der irischen Gesellschaft im 18. Jahrhundert ist als Resultat anderer gesellschaftlicher Entwicklungsfaktoren zu betrachten, unter denen im vorliegenden Fall besonders koloniale und wirtschaftliche Faktoren her-vorstechen. Daher bietet es sich an, erst die ökonomischen Entwicklungen zu ana-lysieren,265 bevor man die daraus resultierenden sozialen Konsequenzen – vor allem soziale Friktionen zwischen kolonial oder ökonomisch fundierten Bevölke-rungsgruppen – erörtert.

Die Voraussetzung hierfür ist allerdings, daß man sich eingangs einen Überblick über die grundsätzlichen Wirtschaftsparameter der irischen Gesellschaft ver-schafft. Diese Aufgabe ist aufgrund der Quellenlage und historiographischer Um-stände jedoch nicht einfach zu lösen. Zentrale wirtschaftsgeschichtliche Quellen über das 18. Jahrhundert wurden der Öffentlichkeit überhaupt erst im Zuge der Öffnung des Public Record Office of Ireland im Jahr 1867 zugänglich gemacht.266 Nur wenige irische Historiker wagten sich an diesen ungeordneten Bestand und nur einer – JAMES ANTHONY FROUDE – mit dem Ziel, eine umfassende Analyse gesellschaftlicher (also auch wirtschaftsgeschichtlicher und sozialer)

263 In Anlehnung an H.-U. Wehler wird ‚soziale Ungleichheit’ definiert als das „Ergebnis des Zusammenwirkens von ungleicher Macht- und Herrschaftsverteilung, ökonomischer Lage und kulturellen Entwürfen der Weltdeutung.“ Vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte 1, S. 11.

264 Definiert als „Gesamtheit der relativ dauerhaften Grundlagen und Wirkungszusammenhänge sozialer Beziehungen und der sozialen Gebilde (Gruppen, [Schichten – MR], Institutionen und Organisationen) in einer Gesellschaft“, wobei die Gesellschaft als Gesamtheit eines gegebenen oder vorgestellten Beziehungsgefüges von einzelnen, aber in interaktivem Austauschverhältnis stehenden Komponenten begriffen wird. Vgl. Schäfers, Grundbegriffe, S. 330-332, Zitat S. 330.

265 Wobei ‚Wirtschaft’ kurz und bündig als Strukturen und Prozesse der Produktion, Distribution und Konsumption ‚knapper’ gesellschaftlicher Ressourcen (Waren und Dienstleistungen) definiert wird. Vgl. Schäfers, Grundbegriffe, S. 438.

gen vorzulegen.267 Nachfolgende Historiker am Ende des 19. und Anfang des 20.

Jahrhunderts – darunter auch der bedeutendste irische Historiker des 19. Jahrhun-derts, W.E.H. Lecky – orientierten sich an seinen Thesen, so daß bis zur Zerstö-rung des Public Record Office of Ireland im irischen Bürgerkrieg 1922, in der wichtige Quellen für immer verloren gingen, kein substantieller theoretischer oder methodischer Fortschritt der irischen Wirtschaftsgeschichte zu verzeichnen ist.268 Durch die Aktenvernichtung wurde FROUDES Monopolstellung weiter zementiert:

Seine Thesen, die bis 1922 nicht grundlegend kritisch überprüft worden waren, entzogen sich nun scheinbar aus quellentechnischen Gründen der Kontrolle.269 Erst in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre gingen revisionistische irische Wirt-schafts- und Sozialhistoriker daran, FROUDES Thesen auf den Prüfstand zu stellen, zu modifizieren und sukzessive zu neuen Interpretationen vorzustoßen.270

FROUDES Kernthese war, daß britisches Mißmanagement und mangelnde britische Unterstützung für die anglo-irischen Kolonisten den Hauptgrund für die wirt-schaftliche Zurückgebliebenheit der irischen Gesellschaft darstellten.271 Er zeich-nete das düstere Bild einer anarchischen, korrupten und gesetzlosen Gesellschaft, in der die anglikanische Kolonie zusehends verfiel, der Absentismus der Landbe-sitzer stieg, der Schmuggel florierte und alle anglo-irischen Bemühungen, in Ir-land eine florierende Wirtschaft aufzubauen, ‚englischem Neid’ zum Opfer fie-len.272 Außerdem sei durch die absichtliche Nichteinhaltung der Strafgesetze ge-gen die Katholiken der Präsenz der protestantischen Anglo-Iren jede zivilisatori-sche Qualität genommen worden.273 Spätestens bei dieser letzten These horcht der Leser auf: FROUDE war ein Ascendancy-Hardliner, ein anti-katholischer Falke.

266 L.M. Cullen, Economic Development, 1691-1750, in Moody/Vaughan, History of Ireland 4, S.

123-158, S. 123. (Fortan zitiert als: Cullen, ED I)

267 Vgl. J.A. Froude, The English in Ireland in the 18th Century, 3 Bde, London 1872-74.

268 So zumindest das Urteil von L.M. Cullen, der als einer der profiliertesten Kenner der irischen Wirtschaftsgeschichte des 18. Jahrhunderts gilt. Vgl. Cullen, ED I, S. 127-129. Ähnlich auch S.J.

Connolly, 18th Century Ireland – Colony or Ancien Régime, in: Boyce/O'Day, Making, S. 15-33, S. 17f. Zu Cullens Standing in der Debatte vgl. Connolly, ebd., S. 20-22.

269 Cullen, ebd., S. 123-130.

270 Connolly, 18th Century Ireland, S. 20-23.

271 Connolly, Companion, S. 210; Cullen, ED I, S. 124.

272 Froude, English in Ireland. Zum Absentismus vgl. Bd. 1 S. 277, Bd. 2, S. 22; zum Schmuggel vgl. Bd. 1, S. 446-498; zum zivilisatorischen Einfluß der englischen Kolonie in Irland und ihrem Verfall vgl. Bd. 1, S. 499f.; zu englischen Handelsrestriktionen vgl. Bd. 1, S. 263-268, 395, 398-401; zur Gesetzlosigkeit vgl. Bd. 1, S. 408-445.

273 Froude, Bd. 1, S. 378. Antikatholische Bemerkungen sind in Froudes Werk so zahlreich, daß kein Seitennachweis möglich ist. Man nehme einfach einen der drei Bände zur Hand, öffne ihn an beliebiger Stelle und sobald die Sprache auf Katholiken kommt, hagelt es Invektiven.

Um so erstaunlicher ist es, daß seine Interpretationen zumindest partiell auch noch nach der Unabhängigkeit Irlands salonfähig waren. Die republikanisch-irische Nationalgeschichtsschreibung übernahm natürlich nicht den anti-katholischen, sehr wohl aber den anti-englischen Argumentationsstrang. Als Paradebeispiel dieser nationalistischen Wirtschaftsgeschichtsschreibung kann GEORGE O’BRIENs Economic History of Ireland in the 18th Century von 1918 gelten.274 O’BRIEN

konstruierte einen scharfen Kontrast zwischen der Zeit vor und nach „Grattan’s Revolution“: Seiner Interpretation zufolge wurde die irische Wirtschaft bis 1782 durch britische Interventionen vollständig ruiniert, während ab 1782 – angeblich aufgrund der Befreiung vom britischen Protektionismus – in Irland ein Wirt-schaftsboom einsetzte.275 Leider ignoriert diese These vollständig das ökonomi-sche Langzeitwachstum, das sich in signifikanten Änderungen in der iriökonomi-schen Inf-rastruktur, der Landbewirtschaftung und dem enormen Wachstum der Leinenpro-duktion niederschlug.276

Aus dieser ideologischen Belastung der irischen Wirtschaftsgeschichte, deren tatsächlicher Umfang hier nur angedeutet werden konnte, ergibt sich zwingend die Notwendigkeit, zunächst die grundlegenden wirtschaftlichen Entwicklungslinien und Faktoren zu identifizieren und zu gewichten.

a) Grundlegende Entwicklungslinien der irischen Wirtschaft (1691-1782)

Vier Faktoren waren für die Entwicklung der irischen Wirtschaft während des 18.

Jahrhunderts von zentraler Bedeutung: Irlands agronomische Wirtschaftsbasis, das Bevölkerungswachstum, der Aufstieg der Textilproduktion zur Leitbranche der irischen Volkswirtschaft sowie die kolonialen Rahmenbedingungen, unter denen Wirtschaft betrieben wurde. Alle anderen ökonomischen Entwicklungen sind daraus entweder direkt ableitbar oder aber aus dem Wechsel zwischen diesen vier Faktoren erklärbar. Hier werden zunächst nur die ersten drei Faktoren abge-handelt, die kolonialen Wirtschaftsbedingungen, die im Zentrum des Interesses stehen, werden separat diskutiert.

274 Connolly, 18th Century Ireland, S. 17.

275 G. O’Brien, The Economic History of Ireland in the 18th Century, Philadelphia 1977 (Reprint der Originalausg. 1918), S. 173-289.

276 Cullen, ED I, S. 130.

Die agronomische Wirtschaftsbasis. Durch Irlands Mangel an ausreichend gro-ßen Kohle- und Eisenerzvorkommen – den conditiones sine quibus non für die Industrialisierung im Nachbarland Großbritannien – war die irische Volkswirt-schaft primär auf die LandwirtVolkswirt-schaft angewiesen. Durch diese Abhängigkeit, die nicht nur die Ernährung der Bevölkerung, sondern auch das irischen Manufaktur-wesen betraf, das zum überwiegenden Teil von der Weiterverarbeitung landwirt-schaftlicher Produkte lebte, entstand ein klassisches „Bottleneck“-Dilemma: We-gen der relativen Inelastizität der Ressource Land ging die Expansion industriell verwendeter Anbauflächen (für Flachs, Hopfen, Hanf etc.) stets zulasten der für die Subsistenz benötigten Ackerfläche. Da der Landamelioration aufgrund der Feuchtigkeit und Qualität der Böden enge Grenzen gesetzt waren, ließ sich die Gesamtproduktivität der Landwirtschaft schließlich nur noch auf zwei Arten stei-gern: Entweder durch Erhöhung des Arbeitseinsatzes (wobei eine sinkende Pro-duktivitätsrate pro Kopf in Kauf genommen werden mußte) oder durch die Subsi-tution des variablen durch konstantes Kapital (d.h. durch Maschinen oder effi-zienzsteigernde technische Neuerungen). Insgesamt bedeutete die landwirtschaft-liche Fundierung der irischen Wirtschaft daher, daß eine finite Wachstumsgrenze vorgegeben war: Wirtschaft und Bevölkerung konnten nur in dem Maß wachsen wie es die Erträge des Bodens erlaubten – eine malthusianische Banalität mit be-trächtlichen Konsequenzen, wie sich während der Hungerkrisen des 18. Jahrhun-derts immer wieder zeigte.

Die zweite Folge der agronomischen Wirtschaftsbasis war eine regionale Diffe-renzierung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und Performanz nach klimati-schen Voraussetzungen und der Qualität der Böden. Grob vereinfacht verfügten der Osten und Südosten Irlands – also Leinster und Ostmunster – über fruchtbare-ren Boden und weniger Niederschlag, wähfruchtbare-rend der Boden vor allem im Westen, in Connacht, weniger fruchtbar ist und das Klima deutlich feuchter.277 Diese Un-terschiede hatten Folgen für die Bewirtschaftungsformen: Die kommerzielle, marktorientierte Landwirtschaft konzentrierte sich im Osten und Südosten, wäh-rend die Subsistenzlandwirtschaft ihren Schwerpunkt im Westen hatte.278

277 Andrews, Geographer’s View, S. 19.

278 Dickson, New Foundations, S. 99f; L. J. Proudfoot, Urban Patronage and Social Authority, The Management of the Duke of Devonshire’s Towns in Ireland, 1764-1891, S. 28f.

Das wiederum hatte Auswirkungen auf die sozialen Strukturen: Im Osten orien-tierten sich die Großgrundbesitzer an dem Ziel, möglichst hohe Marktprofite aus dem Ernten zu erzielen. Diese Marktorientierung galt auch für den Einsatz von Arbeitskräften: Durch langfristige Pachtverträge und die Verhinderung zu starker Unterteilung der Ackerfläche in zu kleine Parzellen wurde das Bevölkerungs-wachstum in dieser Region unter Kontrolle gehalten. So entstand eine Schicht kommerziell orientierter Groß- und Mittelpächter, die das Land mit ihrer Familie und während der Erntezeit mit der Hilfe von ein paar Spalpeens (Saison-Landarbeiter) bearbeiteten. Aufgrund der wachsenden Konkurrenz um Pachtver-träge stieg auch das durchschnittliche Heiratsalter, weil zukünftige Pächter ihre Familienplanung hintanstellen mußten, bis es ihnen gelang, eine Pacht zu erwer-ben.279

Ganz anders dagegen stellt sich die Situation im Westen dar: Hier konnten die Großgrundbesitzer wegen der schlechteren Böden größere Profite aus einer ex-tremeren Unterteilung des Landes ziehen als aus Ernteerträgen. Deshalb ging es in dieser Region vor allem darum, durch immer stärkere Parzellierung und kurze Laufzeiten der Pachtverträge die Pachteinkünfte zu maximieren.280 Langfristig resultierte diese Entwicklung jedoch zwangsläufig in sinkenden Pro-Kopf-Einkommen und drückte so große Teile der Landbevölkerung immer näher an das Existenzminimum – und in Zeiten schlechter Ernten auch deutlich darunter.

Bevölkerungswachstum. Im Zeitraum von 1750-1845 war das irische Bevölke-rungswachstum nach dem englischen und finnischen das dritthöchste in ganz Eu-ropa.281 Vor dem Hintergrund der Großen Hungersnot (1846-1850) ist dieser Ent-wicklung viel historiographische Beachtung zuteil geworden. Dennoch liegen das exakte Ausmaß, ja, selbst der zeitliche Beginn dieses Bevölkerungswachstums nach wie vor im Dunkeln, da vor dem irischen Zensus von 1821 keine verläßli-chen Daten vorliegen. Alle Zahlen in der Literatur beziehen sich daher auf mehr oder weniger zuverlässige Kalkulationen auf der Basis von Haussteuerlisten. Nur soviel scheint sicher: In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wuchs die irische Bevölkerung nur langsam, stagnierte – besonders während der Rezession der

279 Proudfoot, Patronage, S. 28f.; kritisch gegenüber dem Konzept der ‘dual economy’ dagegen Smyth, Men, S. 24.

280 M. Beames, Peasants and Power, The Whiteboy Movements and Their Control in Pre-Famine Ireland, New York 1983, S. 3; Proudfoot, Patronage, S. 27.

281 C. Ó Grada, The Great Irish Famine, London 1989, S. 12.

1720er Jahre – oder war womöglich sogar leicht rückläufig (während der Hunger-krise der frühen 1740er Jahre), während sie in der zweiten Jahrhunderthälfte sehr dynamisch wuchs. Um eine ungefähre Vorstellung von der Größenordnung des Bevölkerungswachstums zu bekommen: Vom späten 17. bis zum Ende des 18.

Jahrhunderts wuchs die Bevölkerung von etwa zwei auf rund fünf Millionen Men-schen an, wobei diese beiden Zahlen lediglich als ungefähre Richtwerte aufgefaßt werden sollten. 282

Die Ursachen des Bevölkerungswachstums sind ebenfalls bis auf den heutigen Tag nicht abschließend geklärt. Darum muß es an dieser Stelle genügen, kurz ei-nige Faktoren zu benennen, die eine Rolle in dem Prozeß spielten, ohne daß es möglich ist, das relative Gewicht der einzelnen Faktoren zueinander zu bestim-men.283 Überhaupt erst ermöglicht wurde das starke Bevölkerungswachstum

282 Kenneth Hugh Connell, der Pionier der irischen Demographiegeschichte, schätzt, daß die irische Bevölkerung zwischen 1687 und 1791 von 2,16 auf 4,75 Millionen anstieg. Hierbei ist von Bedeutung, daß wegen der Rezession der späten 1720er Jahre und der verheerenden Hungersnöte der 1740er Jahre das Bevölkerungswachstum stagnierte: zwischen 1725 und 1754 blieb die Be-völkerung bei etwa drei Millionen Menschen stehen. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zog das Bevölkerungswachstum dann an. Diese Zahlen Connells korrigierten traditionelle Schätzun-gen, die im gleichen Zeitraum von einem Bevölkerungswachstum von 1,3 auf 3,85 Millionen Menschen ausgingen Vgl. K.H. Connell, The Population of Ireland 1750-1845. Oxford 1950, S.

25. Durch nachfolgende Studien wurden Connells Zahlen aufgrund neuerer Erkenntnisse über die Quellen und ausgefeiltere Kalkulationsmethoden wieder nach unten korrigiert. Daltrey, Dickson und Ó Gráda nehmen in den kritischen 1740er Jahren eine effektive Bevölkerungsregression von 2,5 auf 1,9 Millionen Menschen an und siedeln das Bevölkerungsniveau in der ersten Jahrhun-derthälfte bei deutlich unter drei Millionen an. Vgl. S. Daltrey u.a., 18th-Century Irish Population:

New Perspectives from Old Sources, in: Journal of Economic History 41 (1981), S. 601-628, S.

624. Clarkson wiederum nahm keine Bevölkerungsregression an, während sich aber ansonsten seine Zahlen mit denen Daltreys und seiner Kollegen im wesentlichen decken. Vgl. L.A. Clarkson, Irish Population Revisited, 1687-1821, in: J.M. Goldstrom u. ders. (Hgg.), Irish Population, Econ-omy, and Society. Oxford 1981, S. 13-35, S. 26.

283 Für das vor allem in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts einsetzende Bevölkerungswachstum hat man die unterschiedlichsten Gründe verantwortlich gemacht: das frühe Heiratsalter der vor-wiegend katholischen Unterschichten, ihren Kinderreichtum, der durch die Umstellung der Ernäh-rung auf eine billige, aber nahrhafte Kartoffel- und Milch-Diät ermöglicht wurde, eine konservati-ve Sexualmoral, die keine Geburtenkontrolle in der Familie zuließ, ein Absicherungsbedürfnis der Eltern, für die Kinderreichtum eine Versicherungs- und Altersvorsorgefunktion gehabt haben kann, und fallende Mortalitätsraten. Fast alle diese möglichen Ursachen für das Bevölkerungs-wachstum sind aber mehr oder weniger heftig angezweifelt worden. Ó Gráda z.B. hält für die Zeit vor dem Großen Hunger fest, daß das AAM (average age at marriage) für Irland nicht besonders niedrig gewesen sei: 30 Jahre für Männer und 25,5 für Frauen. Vgl. C. Ó Gráda, The Great Irish Famine. London 1989, S. 12ff. Drake hält die Bedeutung des Heiratsalters ebenfalls für übertrie-ben, gibt das AAM aber niedriger als Ó Gráda mit 25 Jahren für Männer und 22 Jahren für Frauen an. Vgl. M. Drake, Population Growth and the Irish Economy, in: Cullen (Hg.), Formation of Irish Economy, Cork 1968, S. 65-76, S. 67, 75. Cullen wiederum hat der Nahrungsumstellung als allei-nige Ursache für das Bevölkerungswachstum widersprochen und deutlich gemacht, daß eine Nah-rungsumstellung auch auf die ökonomische Entwicklung der unteren Strata der Landbevölkerung zurückgeführt werden kann. Vgl. Cullen, Emergence, S. 140-171. Die Debatte zeigt, daß man in Bezug auf die Wirkung einzelner Ursachen des Bevölkerungswachstums über Spekulationen kaum hinauskommt. Mokyr und Ó Gráda zogen denn auch 1984 die insgesamt enttäuschende

durch die Umstellung der Ernährung der Landbevölkerung auf die Kartoffel. Die Substitution des Haferbreis, der Haferkuchen oder – in anderen Regionen – der Erbsen und Bohnen durch die Kartoffel hatte diverse Vorteile, die alle das Bevöl-kerungswachstum anheizten: Erstens ermöglichte es die Bewirtschaftung schlech-terer Böden, weil die Kartoffel eine weniger anspruchsvolle Pflanze ist, zweitens konnte die gleiche Anbaufläche deutlich mehr Menschen ernähren, wenn Kartof-feln anstatt Hafer angebaut wurden, drittens bedurfte die Kartoffel nach der Ernte keiner weiteren Bearbeitung (sie mußte weder gedroschen noch gemahlen wer-den) und außerdem war die Ernährung aus Kartoffeln und Buttermilch außeror-dentlich gesund.284 Die Genügsamkeit der Kartoffel stimulierte die Nutzung feuchter und steiniger Böden, vergrößerte also zumindest vorübergehend leicht die Elastizität der Ressource Land. Gleichzeitig begünstigte der Ertragreichtum der Pflanze aber auch die Parzellierung des Landes – mit dem Ergebnis, daß die Bevölkerung weiter wuchs.285

Fallende Sterblichkeitsraten stellten den zweiten zentralen Faktor dar, der das Bevölkerungswachstum beeinflußte. Zum Teil mögen diese auch durch die ge-sunde Ernährung mitherbeigeführt worden sein, wichtiger scheint jedoch gewesen zu sein, daß Ernteausfälle seit den 1750er Jahren nicht mehr zu Hunger und Epi-demien führten.286 Das wiederum hängt mit der Expansion der Leinenproduktion und den steigenden Einkünften vieler irischer Familien aus dem Verlagswesen – dem Spinnen und Weben von Leinenstoffen, das von den Frauen und Kindern besorgt wurde – zusammen: Dadurch entstand eine zusätzliche

Bilanz: „As for the period surveyed here [das 18. Jahrhundert - MR], three decades of debate have not exhausted the questions raised by Connell. Many of the most interesting issues - the regional dimension, the role of rural industry, the importance of religious factors, the extent of pre-Famine adjustment to population pressure, the economic and social determinants of fertility and nuptiality - remain controversial.“ J. Mokyr u. C. Ó Gráda, New Developments in Irish Population History, 1700-1850, in: Economic History Review 37, 4 (1984), S. 473-488, S. 488.

284 Zur Gesundheit der Ernährung vgl. Beams, Peasants, S. 2; Ó Gráda, Irish Famine, Tabelle 1.3, S. 27, zum Unterschied im Ertrag vgl. Beames, ebd., der eine Kalkulation der Poor Inquiry Com-missioners von 1830 vorlegt, wonach ein Acre (=ca 4050 qm) Anbaufläche mit Kartoffeln 1.920 Personen einen Tag ernähren kann, während die gleiche Anbaufläche Hafer nur 392 Personen ernährt. Nicht unterschlagen werden sollen auch die Nachteile des Kartoffelanbaus. Kartoffeln sind schlecht lagerbar und sie verursachen bei Beförderung höhere Transportkosten (vgl. Beames, Peasants, S. 3), so daß die Kartoffelbebauung notgedrungen lokalen Charakters war: Es war daher bei lokalen Engpässen unter den Transportbedingungen des 18. Jahrhunderts nicht möglich, schnell Entsatz zu schaffen.

285 Entsprechend war die Bevölkerungsdichte im Westen, der Kernregion der Subsistenzlandwirt-schaft, ungefähr doppelt so hoch wie im Osten und Südosten, wo die kommerzielle Landwirtschaft dominierte. Vgl. Proudfoot, Patronage, S. 25f.

le, die Verluste aus der Subsistenzlandwirtschaft kompensieren konnte.287 Auch die Einkünfte aus der Leinenproduktion stimulierten jedoch die Parzellierung, weil nun weniger Land notwendig war, um eine Familie zu unterhalten. Das führ-te wiederum zu höherem Bevölkerungswachstum.

Im Gegensatz zu den Ursachen sind die Folgen der demographischen Expansion mehr als deutlich: Unter den gegebenen Umständen bedeutete dynamisches Be-völkerungswachstum eine Verknappung der Ressource Land, entsprechend eine größere Konkurrenz zwischen den Kleinpächtern, die sich wiederum in schlechte-ren Pachtbedingungen, höheschlechte-ren Pachten, kleineschlechte-ren Parzellen und sinkenden Ein-kommen der Kleinpächter niederschlug.288 Das Zusammenspiel von agronomi-scher Wirtschaftsbasis und Bevölkerungswachstum setzte so eine Pauperisie-rungsspirale in Gang, die zwar im 18. Jahrhundert noch nicht zu einem Crash in der Größenordnung des Großen Hungers von 1846-50, aber gegen Ende des Jahr-hunderts zu erheblichen sozialen Spannungen in der ländlichen Bevölkerung führ-te.289 Darüber hinaus senkte das Bevölkerungswachstum den Anreiz zur Techni-sierung der Landwirtschaft und verschlechterte das Investitionsverhalten der Großgrundbesitzer. Da Arbeitskräfte zahlreich vorhanden und dementsprechend billig waren, mußte zur Produktivitätssteigerung kaum in konstantes Kapital in-vestiert werden.290 Darüber hinaus erklärt das Bevölkerungswachstum zusammen mit dem dynamischen Wirtschaftswachstum in der zweiten Jahrhunderthälfte auch das rasante Anwachsen der Städte: Je größer der Pauperisierungsdruck desto grö-ßer war auch die Anziehungskraft der Städte. Allein Dublins Bevölkerung wuchs

286 M.E. Daly, Social and Economic History of Ireland Since 1800, Dublin 1981, S. 5; Cullen, ED I, S. 149f.

287 Cullen, ebd., S. 148f.

288 Beckett, Making, S. 173. Die Landpresie stiegen zwischen den 1660er und 1790er Jahren um den Faktor 10. Vgl. Dickson New Foundations, S. 106

289 Wie groß die Armut war läßt sich anhand folgenden Zahlen exemplarisch ermessen: 1791/92 hatten 11 % der irischen Bevölkerung ein Bruttoeinkommen pro Kopf, das höher als 20 £ lag, 30

% ein Einkommen zwischen 20 und 5 £ und 59 % ein Einkommen von unter 5 £ pro Kopf. Vgl.

Dickson, New Foundations, S. 98.

290 Es gab sicher Verbesserungen – den Einsatz von Düngemitteln, die Einfuhr ertragreicherer Rinder- und Pferderassen, ausgeklügeltere Formen der Anbaupflanzenrotation (vgl. Daly, History, S. 3; Proudfoot, Patronage, S.46-48) –, aber der technische Fortschritt blieb – insbesondere im Westen – unter seinen Möglichkeiten. Zu Verbesserungen, die von den Großgrundbesitzern durchgeführt wurden, vgl. auch ebd., S. 107f.

zwischen 1685 und 1800 von ca. 65.000 auf knapp 200.000 Einwohner um mehr als das Dreifache an.291

Textilproduktion als wirtschaftlicher Leitsektor. Das zentrale Problem der irischen Landwirtschaft in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts war die man-gelnde Nachfrage nach irischen Agrarprodukten im Ausland. Aufgrund fehlender Exportchancen und begrenzter Absatzmöglichkeiten auf dem relativ kleinen iri-schen Binnenmarkt, der um 1700 nur ca. zwei Millionen Verbraucher umfaßte, führten gute Ernten daher eher zu fallenden Preisen für Agrarprodukte als zu einer Profitsteigerung.292 Nur wenn in Irland die Ernten gut waren, während in angren-zenden Ländern die Ernten ausfielen oder Seuchen die Viehbestände dezimierten, ließen sich kurzfristig substantielle Gewinne realisieren. So sorgten z.B. Ernteaus-fälle in Schottland 1698 in Irland dank des gestiegenen Exportaufkommens für die schnelle Erholung von den Folgen des Stuart-Erbfolgekriegs.293 Analog dazu ver-ursachte eine Rinderpest und schlechte Ernten auf dem Kontinent zwischen 1711 und 1714 einen Exportboom für Getreide, Rindfleisch und Butter, der kurzfristig die Preise scharf ansteigen ließ.294 Sobald sich die Lage auf dem Kontinent jedoch wieder beruhigt hatte, sank die Nachfrage nach irischen Agrarprodukten wie-der.295 Rücklagen für schlechte Zeiten waren auf diese Weise kaum anzuhäufen.

Das Zusammenwirken von ungünstiger Exportnachfrage, schlechten Ernten und kurzfristigen, aber extremen Preisfluktuationen machte die irische Volkswirt-schaft in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts anhaltend anfällig gegenüber mo-netären und Versorgungskrisen. Obendrein wirkten sich Krisen im landwirtschaft-lichen Bereich sofort wachstumshemmend auf die anderen ökonomischen Berei-che aus: Ernteausfälle sorgten wegen der inelastisBerei-chen Lebensmittelnachfrage bei höheren Preisen für die Grundversorgung in anderen Bereichen für Konsumrück-gänge, umfangreiche Lebensmittelimporte in Krisenzeiten resultierten überdies in

291 Vgl. Proudfoot, Patronage, S. 31. Andere irische Handelszentren – vor allem Hafen- und Marktstädte wie Cork, Limerick, Waterford oder Kilkenny – legten ebenfalls beträchtlich zu. Vgl.

M.L. Cullen, Economic Development, 1750-1800, in: Moody/Vaughan, History of Ireland 4, S.

156-195, S. 182 (fortan zitiert als Cullen, ED II); Foster, Modern Ireland, S. 203; für die Darstel-lung eines zeitgenössischen Beobachters vgl. Carty, Ireland, S. 129-131. Zusätzlich zur Migration zwischen Stadt und Land stieg auch die saisonale Migration zwischen einzelnen Grafschaften, etwa wenn Ernten, Jahrmärkte oder Bauvorhaben anstanden.

292 Cullen, ED I, S. 134, 142f.

293 Ebd., S. 133-135.

294 Ebd., S. 143.

295 Ebd., S. 144.

einer negativen Außenhandelsbilanz und schlechteren Wechselkursen.296 In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam es deshalb wiederholt zur Katastrophe:

1709/10 führte die Koinzidenz von schlechten Ernten und einem Einbruch der Exportnachfrage zur Hungerkrise, 1726-28 zogen schlechte Ernten eine Hunger-not und allgemeine Rezession nach sich.297 Am schlimmsten war jedoch die Hun-gerkrise von 1740/41: Schlechte Getreide- und Kartoffelernten im Jahr 1739 zehr-ten die Bevölkerung aus und als der scharfe Frost im Winter 1739/1740 zu einem kompletten Ernteausfall führte, wurden die Menschen erst vom Hunger und dann vom einer Fieberepidemie dahingerafft.298 Die Zahl der Todesopfer ist nicht exakt zu bestimmen, muß aber sehr hoch gewesen sein: Zeitgenössische Zahlen schwanken zwischen 80.000 und 400.000 Toten.299

Die potentiellen Folgen dieser strukturelle Schwäche der irischen Volkswirtschaft wurden erst durch die Expansion der Leinenproduktion beseitigt, die bereits am Anfang des Jahrhunderts allmählich begann, aber erst um die Jahrhundertmitte ihre ganze Dynamik entfaltete.300 Gleichzeitig war die Leinenproduktion auch der Motor der Kommerzialisierung der irischen Landwirtschaft und ein zentraler Sti-mulus für infrastrukturelle Verbesserungen301 und technische Innovationen. Inso-fern kann die Leinenproduktion zumindest in der zweiten Jahrhunderthälfte mit Fug und Recht als Leitsektor und Schrittmacher der irischen Volkswirtschaft be-zeichnet werden.

Für das beeindruckende Wachstum der Leinenproduktion302 gab es eine Reihe von Gründen. Zum einen befreite die britische Regierung irische Leinenstoffe (als Kompensation für den Exportverbot auf irische Wollstoffe) vollständig von Im-portzöllen, so daß die irischen Leinenstoffe auf dem britischen Markt (ab 1696)

296 Ebd., S. 145, 150.

297 Ebd., S. 145.

298 Ebd., S. 146, Beckett, Making, S. 174.

299 Beckett, ebd.

300 Cullen, ED I, S. 148f.

301 Der Straßenbau wurde vor allem in zwei Phasen während der 1730er und der 1760er Jahre vorangetrieben, der Kanalbau begann bereits während der frühen 1730er Jahre, erreichte aber seine Höhepunkte in den 1750er, frühen 1770er und 1780er Jahren. Vgl. Cullen, ED II, S. 183f.

302 1700 lag der Leinenexport noch bei 300.000 Yards p.a., 1730 schon bei über 4 Mio. Yards, 1750 wurde zum ersten Mal die 10.-Mio.-Yards-Schallmauer durchbrochen, aber der zweiten Hälfte der 1760er Jahre oszillierte er um die 20-Mio.Yards-Marke, 1800 lag allein der Export bei 35,6 Mio. Yards in einem Gesamtwert von über 5 Mio. Pfund. Vgl. O’Brien, Economic History, S. 202f; Proudfoot, Patronage, S. 27. Punktuell wurde sogar die 40-Mio.-Yards-Marke weit über-schritten: 1796 lagen die Leinenexporte bei über 47 Mio. Yards. Vgl. Connelly, Companion, S.

317.