Deutsches Ärzteblatt
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16. Januar 2015 A 87M E D I Z I N R E P O R T
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er Einsatz von Opioiden wurde primär für starke Schmerzen bei Tumorerkrankungen definiert. Hierzu veröffentlichte die WHO 1986 ihr bis heute gültiges Stufenschema (2). Seit Mitte der 1990er Jahre nehmen die Opioid- verordnungen kontinuierlich zu (3), wobei die Zahl der abgegebenen Tagesdosen 2002 erstmals die der Nichtopioid-Analgetika übertraf (4).Nach Daten der AOK Hessen/
KV Hessen nahm im Zeitraum von 2000 bis 2010 die Behandlungsprä- valenz der retardierten WHO-Stu - fe-2-Opioiden um 178,6 Prozent, des nichtretardierten Morphins um 178,2 Prozent und der retardierten WHO-Stufe-3-Opioiden um fast 400 Prozent zu.
Konzentrierte sich die Verord- nung von Opioiden vor allem auf Tumorpatienten (7), werden diese Substanzen heute längerfristig vor- wiegend bei chronischen nicht-tu- morbedingten Schmerzen (CNTS) verordnet. So waren 2010 insge- samt 76,7 Prozent aller Opioid- empfänger CNTS-Patienten (3).
Zur Verordnung von Stufe 3-Opioiden sind spezielle Betäu- bungsmittelrezepte erforderlich. Die Bundesopiumstelle im Bundesin- stitut für Arzneimittel und Medi- zinprodukte (BfArM) hat im Jahr 2010 mehr als zehn Millionen BTM-Rezepte an ambulant tätige Ärzte ausgegeben, was eine Ver- doppelung innerhalb der letzten zehn Jahre darstellt (11).
Für die American Pain Society ist eine Langzeittherapie ab einem Zeitraum von 90 Tagen gegeben (8). Als Vorteil der Verordnung von Opioiden bei starken Schmerzen
Verfahren (inklusive Patientenedu- kation) und/oder Lebensstilmodifi- kation sollen eine medikamentöse Schmerztherapie ergänzen (13).
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Über individuelle Risiken die- ser medikamentösen Therapie muss aufgeklärt werden – zum Beispiel über Sturzgefahr und Verwirrtheit bei älteren Menschen.●
Häufig unterscheiden sich Opioiden und Nichtopioide mehr nach den Nebenwirkungen, eine Überlegenheit bestimmter Opioide ist nicht belegbar.●
Chronischer Schmerz als (Leit-) Symptom psychischer Stö- rungen (Depression, anhaltende so- matoforme Schmerzstörung, gene- ralisierte Angststörung, posttrauma- tische Belastungsstörung) und funk- tionelle Störungen (gastrointestinal, urologisch, gynäkologisch) sollen nicht mit opioidhaltigen Analgetika behandelt werden.Wie lange sollen die Opioide ge - geben werden?
Nach aktuellem Wissensstand an- hand von randomisierten klinischen Studien (RCTs) gibt es eine Rei- he von Empfehlungen für den Ein- satz von Opioiden (Tabelle): Die S3-Leitlinie LONTS empfiehlt, dass bei klinisch bedeutsamer Redukti- on von Schmerzen und/oder kör - perlichem Beeinträchtigungserleben bei unwesentlichen Nebenwirkun- gen unter einer zeitlich befriste- ten Therapie (vier bis zwölf Wo- chen) eine weitere Gabe erwogen werden soll.
Hochwertige Studien liegen aller- dings dazu nicht vor, entsprechend ist eine weitere Therapie als indivi- dueller Heilversuch anzusehen.
Ab 1. 1. 2015 dürfen zur Ver- schreibung von Betäubungsmitteln ausschließlich Re- zepte mit fortlaufen- der neunstelliger Rezeptnummer ver- wendet werden, die
seit März 2013 von der Bundesopium-
stelle heraus- gegeben werden.
gilt ihre fehlende Organtoxizität.
Demgegenüber steht jedoch, dass die Zahl der unbeabsichtigten To- desfälle durch Opiatüberdosierung in den USA höher ist als die durch Kokain- und Heroinüberdosierun- gen zusammen (9, 10).
Gerade die Langzeitbehandlung bei Nichttumor-Schmerzen rückt Opioide in den Fokus kontroverser Diskussionen. Von Experten wird auf Evidenzlücken durch fehlende hochwertige Studien beim Lang- zeiteinsatz dieser Arzneimittel hin- gewiesen. Für Deutschland wurde im Juni 2009 die S3-Leitlinie
„Langzeitanwendung von Opioiden bei nicht-tumorbedingten Schmer- zen“ (LONTS) veröffentlicht, die überarbeitete Version am 30. Sep- tember publiziert (12).
Danach muss die Verordnung von Opioiden bei chronischen nicht- tumorbedingten Schmerzen im We- sentlichen drei Aspekte berücksich- tigen:
Bei welchen Schmerzen sollte ein Opioid verordnet werden?
Bei der Verordnung von Opioiden sollen im Rahmen einer partizipati- ven Entscheidungsfindung mit dem Patienten der mögliche Nutzen und Schaden einer Therapie im Ver- gleich zu anderen medikamentösen Therapieoptionen sowie zu nicht- medikamentösen Behandlungsop- tionen besprochen werden.
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Eine alleinige Therapie mit opioidhaltigen Analgetika soll bei chronischen Schmerzsyndromen nicht durchgeführt werden.●
Selbsthilfeangebote und physi- kalische und/oder physiotherapeuti- sche und/oder psychotherapeutische OPIOIDEMorphine werden immer sorgloser verschrieben
Die Langzeitbehandlung bei Nichttumor-Schmerzen rückt die Opioide in den Fokus kontroverser Diskussionen.
Nicht selten setzt der Wunsch der Patienten nach effektiver Analgesie die Ärzte unter Druck.
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Wie werden die Empfehlungen im Alltag umgesetzt?
Nicht selten erfolgen nicht leitlinien- konforme Behandlungen mit starken Opioiden bei Patienten mit funktio- nellen oder somatoformen Störun- gen. Elf Prozent der Versicherten mit der Diagnose Fibromyalgie der Bar- mer Ersatzkasse (BEK) lösten in mindestens einem Quartal Betäu- bungsmittelrezepte für starke Opioi- de im Zeitraum 2008 bis 2009 ein.
23 Prozent der Versicherten der BEK/GEK mit der Diagnose einer somatoformen Schmerzstörung er- hielten im Jahr 2009 mindestens eine Verordnung von starken Opioiden.
In einer prospektiv randomisier- ten US-Studie litten 40 Prozent der mit Opioiden behandelten chro- nischen Schmerzpatienten unter zusätzlichen affektiven Störungen (Depression und Angst), die wie- derum mit einem deutlich erhöhten Fehlgebrauch der Opioide einher- gehen (14). Zudem können Patien- ten mit somatoformen Schmerz - störungen und/oder hohem Lei- densdruck starke Handlungsappel- le an ihren Arzt übertragen, was zur Verordnung vermeintlich stark wirksamer Schmerzmittel verleiten kann (15).
Nach Daten der Barmer GEK unter ihren Versicherten wurden in den Jahren 2006 bis 2010 wegen Kopfschmerzen zu 15,9 Prozent Opioide der WHO-Stufe 2 und zu 7,5 Prozent Opioide der WHO-Stu- fe 3 verordnet. Dieses Verschrei- bungsverhalten widerspricht so- wohl der S3-Leitlinie LONTS als auch der S3-Leitlinie der Deut- schen Migräne- und Kopfschmerz- gesellschaft zur Akutschmerzthe - rapie und Rezidivprophylaxe der Migräne.
Diskussion und Ausblick
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Verordnungshäufigkeit und Verordnungsdauer von Opioiden bei chronischen nicht-tumorbedingten Schmerzen stehen im Widerspruch zur Evidenz und zu Leitlinien.●
Der ausgeprägte Patienten- wunsch nach effektiver Schmerz- linderung kann die behandelnden Ärzte unter Druck setzen.●
Unter der Vorstellung, dass starke Schmerzmittel geeignet sind,starke Schmerzen unabhängig von ihrer Grunderkrankung zu lindern, werden vor allem Analgetika der Stufe-III auch bei nichtopioid-sen- siblen Schmerzen eingesetzt.
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Vor allem bei chronischen nicht-tumorbedingten Schmerzen muss zwischen Respondern und Nonrespondern unterschieden wer- den. Opioide lassen nur bei 25 Pro- zent dieser Patienten eine 50-pro- zentige Schmerzreduktion erwarten (16). Eine Vorhersage, welche Pa- tienten als Responder anzusehen sind, ist nicht möglich (17).●
Bei den Schmerzsyndromen mit Opioidempfehlung soll ausge- hend von geringen Dosen langsam auftitriert werden, wobei 120 mg/d Morphinäquivalente nicht überschrit- ten werden sollen.●
Umso wichtiger erscheint, die psychische Komorbidität aus- reichend zu würdigen, wozu genü- gend Zeit für das Anamnesege- spräch und geeignete Fragebögengenutzt werden sollen. Die Ein- schätzung von Depressivität und der „Psychoprothese“ Schmerz in der Abwehr beispielsweise emotio- naler Kränkungen kommen in der Versorgungsrealität jedoch oft zu kurz.
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Ein differenzierter Einsatz der verfügbaren Opioide mit interdis- ziplinärer Indikationsstellung, re- gelmäßiger Therapiekontrolle und vor allem mit Einbeziehung multi- modaler Konzepte kann bei chroni- schen Schmerzen nicht nur zur nachhaltigen Symptomkontrolle bei- tragen, sondern ist zudem auch ökonomisch effizient.▄
Dr. med. Dipl.-Inf. Andreas Werber Prof. Dr. med. Marcus Schiltenwolf Konservative Orthopädie und Schmerztherapie
der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie Universitätsklinikum Heidelberg
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Literatur im Internet:www.aerzteblatt.de/lit0315 oder über QR-Code TABELLE
Gesicherte Indikationen und Kontraindikationen zur leitlinienbasierten Schmerztherapie mit Opioiden
gesicherte Indikationen (starke Empfehlung – Opiate sollen/sollten angewendet werden) weitere Indikationen (offene Empfehlung – Opiate können angewendet werden)
Kontraindikationen (Opiate sollen nicht angewendet werden)
Krankheitsbild
diabetische Polyneuropathie
Postzosterneuralgie
neuropathische Schmerzsyndrome (Phantomschmerz, Schmerz nach Rückenmarksverletzungen, PNP [außer diab. PNP und PZN])
chronischer Arthroseschmerz chronischer Rückenschmerz Fibromyalgiesyndrom rheumatoide Arthritis primäre Kopfschmerzen
Schmerzen bei funktionellen Störungen (gastrointestinal, urologisch, gynä- kologisch), insbesondere Reizdarmsyndrom und Fibromyalgiesyndrom chronischer Schmerz als (Leit-)Symptom psychischer Störungen (Depression, anhaltende somatoforme Schmerzstörung, generalisierte Angststörung, posttraumatische Belastungsstörung)
chronische Pankreatitis
chronisch entzündliche Darmerkrankungen
nichtverantwortungsvoller Gebrauch opioidhaltiger Analgetika (schädlicher Gebrauch oder Weitergabe von Medikamenten an unberechtigte Personen und/oder schwerwiegender Zweifel an verantwortungsvollem Gebrauch, z. B.
unkontrollierte Medikamenteneinnahme und/oder anhaltende fehlende Bereitschaft oder Unfähigkeit zur Einhaltung des Behandlungsplans) schwere affektive Störung und/oder Suizidalität
Dauer der Anwendung 4–12 Wochen
4–12 Wochen 4–6 Wochen
4–12 Wochen 4–12 Wochen 4–12 Wochen bis 6 Wochen