Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 106⏐⏐Heft 15⏐⏐10. April 2009 A703
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eit Mai 2008 ging das Bay- state Medical Center, Spring- field (Massachusetts, USA), Hin- weisen nach, dass der US-amerika- nische Anästhesist Dr. Scott S. Reu- ben über zwölf Jahre hinweg Studien zur perioperativen Schmerztherapie gefälscht haben soll. Als Ergebnis dieser Untersuchungen veröffentlich- te die Zeitschrift „Anesthesia and Analgesia“ am 20. Februar eine Liste mit 21 Studien, die einer unabhängi- gen Untersuchung zufolge auf ge- fälschten Daten basieren (1). In der S3-Leitlinie – „Behandlung akuter perioperativer und posttraumatischer Schmerzen“ (2) – wurden insgesamt sieben Studien zitiert, die Reuben als Erstautor erstellte. Vier dieser Studi- en sind laut dieser Liste gefälscht (3–6) (Tabelle).In dem Kapitel „Eingriffe an der Wirbelsäule“ existieren zwei Kern- aussagen, zu denen neben anderen Studien jeweils eine der gefälschten Studien angeführt wurde. Dabei handelt es sich zum einen um die Aussage, dass die prophylaktische präoperative Gabe von Nichtopio- iden bei Nukleotomien/Laminekto- mien aufgrund fehlender wissen- schaftlicher Belege der prozedu- renspezifischen Wirksamkeit einer prä- versus postoperativen Gabe nicht empfohlen werden kann (Empfehlungsgrad = Grade of Re- commendation/GoR: C).
Zum anderen geht es um die Aussage, dass nach Eingriffen am Beckenkamm intraoperativ ein lang wirksames Lokalanästhetikum in Kombination mit einem Opioid lokal appliziert werden sollte (GoR: B). Die Studien von Reuben et al. werden aus der Reihe der Stu- dien, die zur Begründung dieser Aussagen angeführt wurden, ent- fernt. Dies wird aber nichts an den Kernaussagen selbst ändern, da die darüber hinaus zitierten Studien und
die Konsistenz der Studienergebnis- se (auch ohne die Studien von Reu- ben et al.) die formulierten Empfeh- lungen ausreichend belegen.
Des Weiteren existieren im allge- meinen Teil der S3-Leitlinie („Me- dikamentöse Verfahren“ und „Nach- stationäre Weiterbehandlung und ambulante Chirurgie“) vereinzelte Aussagen, zu denen Studien von Reuben et al. als Referenz angege- ben wurden. Hierbei handelt es sich allerdings um keine expliziten Emp- fehlungen wie bei den beiden oben genannten Kernaussagen. Die ent- sprechenden Aussagen sollen bei Fehlen weiterer Belege gestrichen werden.
Da in dem Zusammenhang mit dem Fälschungsskandal in der Wis- senschaft in der Presse häufig auch mögliche Probleme der Finanzie- rung durch die Pharmaindustrie ge- nannt werden, sei hier nochmals darauf hingewiesen, dass die Ent- wicklung der S3-Leitlinie „Behand- lung akuter perioperativer und post- traumatischer Schmerzen“ durch kei- ne Industrieförderung beeinflusst wurde. Explizit heißt es dazu in der Leitlinie (2):
„Die Erstellung der Leitlinie er- folgte in redaktioneller Unabhän-
gigkeit von den mitherausgebenden Organisationen/Fachgesellschaften.
Mittel für die Aufwandsentschädi- gung für die methodische Unterstüt- zung, Kosten für Literaturbeschaf- fung und Büromaterial wurden von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Schmerztherapie (DIVS) und dem Institut für For- schung in der Operativen Medizin (IFOM) der Universität Witten/Her- decke zur Verfügung gestellt. Die DIVS hat über Verträge mit ver- schiedenen Pharmafirmen einen Fi- nanzpool geschaffen. An der Finan- zierung waren die Firmen Bristol Myers Squibb, Pfizer und Mundi- pharma beteiligt. Die Firmen haben keinerlei Einfluss auf die Leitlinien- erstellung gehabt und keine Vorab- informationen über die Inhalte er- halten. Für die Unterstützung bei der Realisierung der Leitlinie sei ausdrücklich gedankt.
Die im Rahmen des Konsensus- verfahrens angefallenen Reisekos- ten für die Teilnehmer wurden von den jeweils entsendenden Fach- gesellschaften/Organisationen über- nommen. Alle Teilnehmer der Kon- sensuskonferenz legten potenzielle Interessenkonflikte schriftlich offen (Formblatt in der Internetversion un- ter http://leitlinien.net), um der Ge- fahr von Verzerrungen entgegen-
zutreten.“ I
Prof. Dr. rer. nat. Edmund A. M. Neugebauer, Monika Becker, Priv.-Doz. Dr. med. Stefan Sauerland, Prof. Dr. med. Heinz Laubenthal
Anschriften der Verfasser Ifom – Institut für Forschung in der Operativen Medizin
Private Universität Witten/Herdecke gGmbH Ostmerheimer Straße 200, 51109 Köln Prof. Dr. med. Heinz Laubenthal Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Schmerztherapie, Heckertstraße 50, 44807 Bochum
WISSENSCHAFTSBETRUG/GEFÄLSCHTE STUDIEN
Auswirkungen auf die S3-Leitlinie?
Eine Stellungnahme deutscher Schmerzforscher zu den Empfehlungen der
„Behandlung akuter perioperativer und posttraumatischer Schmerzen“
TABELLE
Studien von Scott S. Reuben*
Gefälscht Als nicht Total gefälscht eingestuft
In S3-Leitlinie Ja 4 3 7
zitiert Nein 17 12 29
Total 21 15 36
* Die hier angeführte Gesamtzahl publi- zierter Primärstudien wurde anhand der in Pubmed gelisteten Artikel ermittelt.
Vierfeldertafel zu gefälschten und bislang als nicht gefälscht eingestuften publizierten Studien von Scott S. Reuben (als Erstautor), die in der S3-Leitlinie „Behandlung akuter perioperativer und posttraumatischer Schmerzen“ zitiert bzw. nicht zitiert sind.
Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit1509
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Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 106⏐⏐Heft 15⏐⏐10. April 2009 A1
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LITERATUR 1. Shaver SL:
http://www.aaeditor.org/HWP/Retraction.No tice.pdf.
2. Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Schmerztherapie (DIVS) (Gesamtverantwor- tung: Laubenthal H, Becker M, Sauerland S, Neugebauer E): S3-Leitlinie „Behandlung akuter perioperativer und posttraumatischer Schmerzen“ 2008 Deutscher Ärzte-Verlag Köln und (AWMF-Reg.-Nr. 041/001).
http://www.awmf.org.
3. Reuben SS, Buvanendran A, Kroin JS Rag- hunathan K: The analgesic efficacy of cele- coxib, pregabalin, and their combination for spinal fusion surgery. Anesth Analg 2006;
103: 1271–7.
4. Reuben SS, Connelly NR, Maciolek H: Posto- perative analgesia with controlled-release oxycodone for outpatient anterior cruciate li- gament surgery. Anesth Analg 1999; 88:
1286–91.
5. Reuben SS, Ekman EF: The effect of cy- clooxygenase-2 inhibition on analgesia and spinal fusion. J Bone Joint Surg Am 2005;
87: 536–42.
6. Reuben SS, Vieira P, Faruqi S, Verghis A, Ki- laru PA, Maciolek H: Local administration of morphine for analgesia after iliac bone graft harvest. Anesthesiology 2001; 95: 390–4.