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Archiv "Ernährung und Psyche – Essen: Ein Wechselspiel zwischen Kopf und Bauch" (27.10.2000)

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ie wohl größte Gefahr für die menschliche Gesundheit geht von einer ungesunden Lebensweise und in erster Linie von einer falschen Ernährung aus. Doch obwohl hochwer- tige Lebensmittel in der Industriege- sellschaft in ausreichender Menge – ja sogar im Überfluss – verfügbar sind und obwohl das Wissen in der Bevölke- rung um die Grundregeln einer gesun- den Ernährung so groß ist wie nie zuvor, nehmen ernährungsbedingte Störun- gen (Übergewicht) und Folgeerkran- kungen (Hypertonie und Diabetes mel- litus) stetig zu. Zwar antworten auf Be- fragen bis zu 80 Prozent der Bevölke- rung, auf Gesundheit, eine gesunde Ernährung und körperliche Fitness zu achten, die Realität aber entlarvt solche Befragungsergebnisse als krasse Fehl- einschätzungen des eigenen Verhaltens.

Damit besteht offensichtlich eine deutliche Diskrepanz zwischen dem Wunsch, sich gesund zu ernähren, und dem tatsächlichen Essverhalten; wir es- sen allenthalben zu viel, zu fett und zu süß. Das Essverhalten wird dabei aber keineswegs primär vom Hunger be- stimmt, wie beim 3. Aid-Forum (Aus- wertungs- und Informationsdienst für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten e.V.) in Bonn deutlich wurde. Es handelt sich vielmehr um ein komplexes Gesche- hen, das von sozialen, aber auch von psy- chischen Faktoren gesteuert wird.

Erziehung, Gewohnheiten und Tradi- tionen spielen eine Rolle, aber auch das eigene psychische Befinden. „Das Ess- verhalten ist Teil unseres Sozialverhal- tens. Gemeinsam essen stellt Nähe her, schafft Wir-Gefühl und befriedigt unser Bedürfnis nach sozialen Kontakten“, so

brachte Dr. Paul Breloh (Bundesge- sundheitsministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten) zumindest einen der Teilaspekte auf den Punkt.

Eines der bedeutsamsten Gesund- heitprobleme dürfte dabei das Überge- wicht sein. So bringen den statistischen Erhebungen zufolge 20 bis 50 Prozent der Deutschen zu viele Kilos auf die Waage, nahezu jeder Sechste ist adipös.

„Tendenz steigend“, so Prof. Susanne

Klaus vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung in Potsdam-Reh- brücke. Viel wird nach ihren Worten ge- forscht, um die Ursachen der Über- ernährung zu ergründen. Dabei suchen

die Ernährungswissenschaftler nach kurzfristigen und auch nach langfristi- gen Signalen, die Gefühle wie Hunger, Appetit und Sättigung steuern.

Vielfältige Faktoren werden in die- sem Regelkreis wirksam von Phänome- nen wie dem Grad der Magendehnung über Hormone, die vom Gastrointesti- naltrakt gebildet werden, wie Insulin und Glucagon bis hin zu Botenstoffen wie dem Leptin, einem offensichtlich adipostatischen Signal, das vom Fettge- webe sezerniert wird und die Nahrungs- aufnahme drosselt. „Bei Adipösen wird offensichtlich dieses Leptinsignal nicht mehr richtig verstanden, es bildet sich eine Leptinresistenz“, erklärte die Wis- senschaftlerin in Bonn.

Die Ursachen der Leptinresistenz könnten durchaus genetisch determi- niert sein. So nimmt man unter ande- rem an, dass bei Adipösen der Leptin- transport über endotheliale Zellen der Blut-Hirn-Schranke herabgesetzt ist, sodass ein Andocken an die neuronalen Leptinrezeptoren nicht erfolgen kann.

Zwar ist noch nicht endgültig geklärt,

dass eine Störung in diesem Transport zu Übergewicht führt, doch weist nach Meinung der Wissenschaftlerin die Tat- sache darauf hin, dass bei Übergewich- tigen im Vergleich zu den Plasmaspie- P O L I T I K

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A2828 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 43½½½½27. Oktober 2000

Ernährung und Psyche

Essen: Ein Wechselspiel zwischen Kopf und Bauch

Die Versuche, Patienten zu einer gesunden Ernährung zu motivieren, verlaufen oft frustran, weil bei der Beratung das komplexe Regelwerk, welches das Essverhalten steuert, nicht genug berücksichtigt wird.

Medizinreport

Mit dem Bild „Ohne Worte“ hat Dr. Rita Böing aus Korschenbroich den Publikumspreis 2000 der Aeskulap-malt-Ausstellung ge- wonnen, die im Mai anlässlich des 48. Deutschen Ärztekongresses in Berlin zu sehen war. Quelle: Pohl-Bos- kamp GmbH & Co.

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geln nur niedrige Leptinspiegel in der Zerebrospinalflüssigkeit zu finden sind.

Als weiterer möglicher Grund für eine Leptinresistenz wird zudem die Beein- trächtigung der Übermittlung von Lep- tin-Rezeptor-Signalen durch bestimmte Suppressorsubstanzen diskutiert.

Doch nicht nur Leptin steuert die Nahrungsaufnahme, auch weitere Neu- rohormone wie das Neuropeptid Y so- wie Melanocortine sind in diesem Be- reich aktiv, und auch auf der Ebene ihrer Regulation könnten genetische Defekte die Energiehomöostase und die Regula- tion des Körpergewichtes beeinflussen.

Essen ist nicht nur Sättigung, sondern auch Genuss

Dennoch: Nur in den wenigsten Fällen dürften es tatsächlich die Gene eines In- dividuums sein, denen die „Schuld“ am Übergewicht zuzuweisen ist. Viel be- deutsamer scheinen erworbene Regel- mechanismen zu sein, und diese bauen sich nach Prof. Joachim Westenhöfer (Fachbereich Ökotrophologie der Fach- hochschule Hamburg) schon von den ersten Lebenstagen an auf. Denn Essen ist nicht nur die Befriedigung von Hun- ger, sondern zugleich auch Genuss, und das Essverhalten, das schließlich an der Mutterbrust beginnt, ist nach Westen- höfer immer eingebettet in einen sozia- len und in einen emotionalen Bezug.

Die Grundsteine des Ernährungs- verhaltens liegen damit in der frühe- sten Kindheit, und sie werden durch eine zutiefst menschliche Fähigkeit, nämlich die Fähigkeit zu lernen, be- einflusst. Drei Prozesse spielen nach Westenhöfer dabei eine zentrale Rolle:

❃ Dadurch, dass Menschen immer wieder etwas essen oder ausprobie- ren, gewöhnen sie sich langsam an ei- nen Geschmack und lernen, ihn zu lieben.

❃ Durch Eltern, Geschwister und Gleichaltrige, bei denen Speisen und Getränke Anerkennung oder Missach- tung finden, wird eine soziale Kompo- nente vermittelt.

❃ Physiologische Konsequenzen der Nahrungsaufnahme verändern Erwar- tungen und damit auch Präferenzen oder Aversionen gegen bestimmte Nah- rungsmittel und Geschmäcker.

Eng sind nach Westenhöfer die Bezie- hungen zwischen dem Essverhalten und dem psychischen Befinden. „Menschen essen, um zu feiern, um sich zu belohnen, um sich zu entspannen oder um sich zu trösten“, sagte Westenhöfer. Derartige emotionale Ausdrucksformen gehören zu einem normalen Essverhalten dazu, problematisch aber werden sie, wenn Menschen in Bezug auf einzelne dieser Funktionen nicht mehr über Handlungs- alternativen zum Essen verfügen. Dann nämlich ist eine übersteigerte Nahrungs- aufnahme (zum Beispiel, um sich zu trö- sten) programmiert, und dem Überge- wicht wird der Weg geebnet.

Besonders komplex sind die Zusam- menhänge zwischen Stress und Essver- halten, zu den physiologischen Reak- tionen auf Stress gehört eine Drosse- lung aller mit der Verdauung und der Nahrungsaufnahme in Zusammenhang stehenden Prozesse und damit auch ei- ne ausgeprägte Minderung des Appe- tits, ein Phänomen, das im Volksmund gut bekannt ist (etwas schlägt auf den Magen). Aufgrund von Lernprozessen reagieren nicht wenige Erwachsene heutzutage aber genau umgekehrt, in Stresssituationen wird vermehrt Appe- tit gespürt und auch vermehrt gegessen, ebenfalls ein Phänomen, das auf Dauer Übergewicht provoziert.

Stress hemmt kognitive Kontrolle des Essverhaltens

Eine solche Reaktionsweise findet sich vor allem bei „gezügelten Essern“, also bei Menschen, die langfristig versu- chen, ihre Nahrungsaufnahme bewusst einzuschränken, um abzunehmen oder um wenigstens nicht zuzunehmen. We- stenhöfer: „Beim gezügelten Esser kann das System der kognitiven Kon- trolle des Essverhaltens durch Stress gehemmt und außer Kraft gesetzt wer- den. Infolge eines solchen Kontrollver- lustes kommt es in Belastungssituatio- nen dann im Vergleich zu der sonst praktizierten Einschränkung der Nah- rungsaufnahme zu einer kompensato- risch erhöhten Nahrungszufuhr.“

Ein Schlüssel gegen das Übergewicht liegt damit automatisch in der Präventi- on, die im Idealfall bereits im Kindesal- ter anzusetzen hat. Dann nämlich wer-

den zentrale Geschmacksvorlieben ge- bahnt, das Kost- und Ernährungsver- halten, der spätere Konsum- und Le- bensstil wird geprägt. Von zentraler Be- deutung in dieser Zeit ist nach Dr. Sabi- ne Schmidt (Institut für Ernährungswis- senschaften der Universität Gießen) die Verfügbarkeit von Lebensmitteln.

„Kinder lernen zu essen und zu mögen, was sie kennen, also das, was in der Umgebung häufig verfügbar ist“, so die Ernährungswissenschaftlerin. Statt Fleisch und Wurst sollte deshalb regel- mäßig Obst und Gemüse angeboten werden, da diese Nahrungsmittel dann auch im späteren Leben eher gewählt werden.

Auf die natürlichen Instinkte der Kinder vertrauen

Von ausschlaggebender Bedeutung aber ist nach Schmidt ein weiterer Punkt: Es muss angestrebt werden, die natürliche Wahrnehmung von Hunger und Sättigung zu erhalten und zu stär- ken. Statt der üblichen Aufforderung an die Kinder, mehr zu essen oder gar den Teller leer zu essen, sollte man im Alltag bei der Erziehung mehr auf die natürlichen Instinkte und die physiolo- gische Regulation vertrauen und Kin- der nicht zur Nahrungsaufnahme moti- vieren. Schmidt: „Das Auffordern zum Essen verringert bei den Kindern das Gespür für das Sattsein, weil die elterli- che Zuwendung und Autorität in die- sem Moment als wichtiger empfunden wird als die eigene Sättigung.“ Schon durch solch einfache, aber wiederholte Signale kann, möglicherweise bei ent- sprechender genetischer Prädispositi- on, ein wesentlicher Grundstein für die spätere Entwicklung einer Adipositas gelegt werden.

Wenngleich diese neuen Forschungs- aspekte bislang nur bedingt Hilfen für die Therapie adipöser Erwachsener in der Praxis liefern, bieten sie doch ein er- hebliches Potenzial in Bezug auf die Ernährungsberatung betroffener Fami- lien. Dabei aber handelt es sich um ei- nen höchst relevanten Aspekt: Immer- hin ist derzeitigen Erhebungen in Deutschland zufolge rund jedes sechste Kind zum Zeitpunkt der Einschulung eindeutig übergewichtig. Christine Vetter P O L I T I K

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A2830 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 43½½½½27. Oktober 2000

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