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Archiv "Bertrand Russell - der langlebig Liebende" (27.02.1985)

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Academic year: 2022

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Nur entsprechend aus- und wei- tergebildete Ärzte sind in der La- ge, die infektiologischen Proble- me, wie sie durch die Entwicklung der modernen Medizin immer häufiger werden, adäquat zu be- handeln. Es ist daher auch ein Er- fordernis für die klinische Versor- gung von Patienten, infektiolo- gisch geschulte Ärzte zu haben.

Die Infektiologen müssen von Haus aus eine gründliche klini- sche Aus- und Weiterbildung ha- ben, da nur diese sie befähigt, von Klinikern als Konsiliarius akzep- tiert zu werden. Infektionsabtei- lungen mit eigenen Betten ent- sprechen nicht mehr den Bedürf- nissen von heute. Zu dem Verant- wortungsbereich eines klinischen Infektiologen sollte auch die pa- tientenbezogene Hospitalhygiene gehören. Eine enge Zusammenar- beit zwischen klinischem Infektio- logen und dem Mikrobiologen ist im Interesse einer optimalen Pa- tientenversorgung und der Ausbil- dung der Infektiologen wesentlich und stellt auch eine Bereicherung für die Mikrobiologie dar.

II> Es sollten deswegen Stipen- dien vergeben werden, die eine klinische Weiterbildung in Infek- tiologie in entsprechend qualifi- zierten Zentren ermöglicht. Dies dürfte für die erste Zeit einen zweijährigen Aufenthalt vorwie- gend in den USA erforderlich ma- chen. Nur so dürfte es möglich sein, eine dem fellowship ver- gleichbare Ausbildung zu gewähr- leisten. Vorrangig ist die Einrich- tung von Modelleinrichtungen in einigen Universitätskliniken 2).

Anschrift für die Verfasser:

PD Dr. med. Reinhard Roos Dr.-von-Haunersches Kinderspital

Lindwurmstraße 4 8000 München 2

2) Zu dieser Frage ist auf Initiative der Paul-Martini-Stiftung, Mainz, ein Me- morandum mit dem Titel „Zur Situa- tion der klinischen lnfektiologie in der Bundesrepublik Deutschland" erar- beitet worden. (Vgl. „mb Der Arzt im Krankenhaus und im Gesundheitswe- sen", Heft 4/1984).

m

an fragt sich, wem dabei weniger wohl war, dem König oder dem Philoso- phen. Es muß beiden schon ziem- lich sonderbar vorgekommen sein, als Bertrand Russell 1950 mit der höchsten zivilen Auszeich- nung, die Seine Britische Majestät zu vergeben hat, behängt wurde.

Ein so wenig zu unbedachten Äu- ßerungen neigender Monarch wie King George ließ sich bei der Preisübergabe denn auch zu der Bemerkung hinreißen: „Sie haben sich manchmal in einer Weise auf-

geführt, die nicht erträglich wäre, wenn sie sich jeder zu eigen machte."

Die höchste Auszeichnung für denselben Mann, der während des ersten Weltkrieges wegen Verunglimpfung der amerikani- schen Alliierten nicht nur seine Professur verloren hatte, sondern auch noch sechs Monate ins Ge- fängnis gesperrt worden war. Der höchste Verdienstorden für einen Lehrer, dem nur zehn Jahre vor- her ein amerikanischer Ankläger in öffentlicher Gerichtsverhand- lung vorgeworfen hatte, er sei

„geil, unzüchtig, wollüstig, liebes- toll, erotomanisch, aphrodisia- kisch, würdelos, engstirnig und ohne jede Moral".

Aber Russell bekam nicht nur den britischen Order of Merit, sondern im selben Jahr auch noch den No- belpreis. Manche seiner Biogra- phen haben daraus den Schluß gezogen, 1950 sei Russell dann doch endlich eine Respektsper- son geworden.

Das wäre ja auch im Alter von 78 Jahren so etwa an der Zeit gewe-

sen. Es trifft sich jedoch so, daß ich ihn gerade um diese Zeit ken- nenlernte. Ich empfand ihn gar nicht als „Respektsperson". Den Mann, dem Order of Merit und No- belpreis bevorstanden, hatte auch seine alte Universität, aus der er 1916 hinausgeworfen worden war, nicht mehr ignorieren können.

Trinity College Cambridge hatte ihn wieder als Professor für Phi- losophie berufen. Man wollte ihm schließlich nicht ein Leben lang vorhalten, was man nun wohl sei- ne „Jugendsünden" nannte. Wo-

zu freilich eine großzügige Ausle- gung des Begriffes „Jugend" ge- hört.

Immerhin war Russell 57 Jahre alt, als er das Skandalon verfaßt hatte, und 68, als ihm in New York des- wegen der Prozeß gemacht wur- de. Die Skandalschrift heißt „Mar- riage and Morals", „Ehe und Mo- ral". Sie ist gerade in dem rühri- gen kleinen Verlag der Darmstäd- ter Blätter wieder erschienen, und der Leser kann sich darin ein Bild machen von dem „geilen Wollüst- ling", der gewiß für die freie Liebe eintrat, aber auch ernste Worte für den Wert der Ehe fand. Es gibt keinen Satz in diesem Buch, den ich einem vierzehnjährigen Kind vorzulesen zögern würde, weil ich fürchtete, seine Moral oder gar seine Seele damit zu verletzen.

Wenigstens den Schlußabsatz des Buches möchte ich zitieren. Er heißt so: „Die Lehre, die ich predi- gen möchte, ist keine Lehre der Hemmungslosigkeit. Sie erfordert fast so viel Selbstbeherrschung wie die konventionelle Lehre.

Aber die Selbstbeherrschung wird mehr darauf verwendet werden,

Bertrand Russell

der langlebig Liebende

Rudolf Walter Leonhardt

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sich der Einmischung in die Frei- heit anderer zu enthalten, als die eigene Freiheit zu beschränken.

Man kann, glaube ich, hoffen, daß diese Achtung vor der Persönlich- keit und der Freiheit anderer bei richtiger Erziehung von Anfang an verhältnismäßig leichtfällt. Aber für diejenigen von uns, die in dem Glauben erzogen wurden, daß sie ein Recht haben, im Namen der Tugend gegen die Handlungen anderer ein Veto einzulegen, wird es fraglos nicht einfach sein, sich diese angenehme Form der Ver- folgung zu versagen. Vielleicht ist es sogar unmöglich. Daraus kann aber nicht geschlossen werden, daß es für diejenigen unmöglich ist, denen von Anbeginn eine we- niger beengende Moral beige- bracht wurde. Das Wesen einer guten Ehe ist die Achtung vor der Persönlichkeit des anderen, ge- paart mit der tiefen körperlichen, geistigen und seelischen Intimität, die aus der echten Liebe zwi- schen Mann und Frau das Frucht- barste alles menschlichen Erle- bens macht. Wie alles, was groß und kostbar ist, erfordert eine sol- che Liebe ihre eigene Moral. Häu- fig läßt es sich auch nicht vermei- den, ein kleines Opfer um der gro- ßen Sache willen zu bringen; aber ein solches Opfer muß freiwillig sein, denn wenn es das nicht ist, zerstört es gerade die Grundfeste der Liebe, um deretwillen es ge- bracht wurde."

Das ist mehr als das zufällige En- de eines zufälligen Buches. Zufäl- le gab es bei Russell nicht, bis ins hohe Alter hinein nicht. Er hat al- les durchdacht mit seinem un- heimlich schnellen, schlagferti- gen, witzigen Verstand, auch sei- ne Leidenschaften, von denen er wahrhaftig nicht frei war.

Seine dreibändige Autobiogra- phie beginnt Russell mit einem Prolog „Wofür ich gelebt habe".

Der erste Satz heißt: „Drei Leiden- schaften haben mein Leben be- herrscht, einfach, aber unheim- lich stark: die Sehnsucht nach Liebe, die Suche nach Wissen und

das schier unerträgliche Mitgefühl mit den Leiden der Menschen."

Manche haben Schwierigkeiten, dem englischen Philosophen, der ja Hohn und Spott ausgießen konnte und dessen witzige For- mulierungen gefürchtet waren wie die eines Voltaire, diese ganz ernsten, beinahe pathetischen Tö- ne abzunehmen.

Einmal war er, wie so oft in sei- nem Leben, totgesagt worden, diesmal in China. Das notierte er so: „Die Chinesen, so wurde mir erklärt, wollten mich am See des Westens beisetzen und zu mei- nem Gedächtnis einen Schrein er- richten. Es tut mir eigentlich leid, daß daraus nichts geworden ist.

Ich wäre doch dann vielleicht eine Art Gott geworden. Und wäre das nicht sehr chic gewesen für einen Atheisten?"

Die Schwierigkeiten, Russells Ton richtig zu treffen, haben natürlich auch mit der Übersetzung zu tun.

Zwei Sätze eines der brillantesten Stilisten unserer Zeit, des klassi- schen Philologen Gilbert Murray, die dieser an seinen Freund Ber- tie richtete, würde ich gern an das Pin-Board mancher schreibenden Kollegen hängen: „Allen Autoren mißlingt es, in verschiedenem, aber in erschreckend hohem Ma- ße, genau das zu sagen, was sie wirklich meinen. Und die Überset- zer, die im allgemeinen weniger gute Schriftsteller sind und deren Aufgabe auch schwerer ist, versa- gen da noch kläglicher."

Bertrand Russell teilte diese Auf- fassung völlig. An Arroganz fehlte es ihm nicht. Aber diese Arroganz konnte sich schließlich auf ein Le- benswerk und eine Persönlichkeit stützen, die an Eindruckskraft schwer zu überbieten sind. Sieb- zig Bücher hatte dieser Mann ge- schrieben, davon keines „mit der linken Hand", und trotzdem noch Zeit zum Leben gefunden.

Der junge Gelehrte hatte, zusam- men mit seinem Cambridger Kol- legen A. N. Whitehead, in seinen

„Principia mathematica" zu- nächst einmal die ganze klassi- sche Mathematik auf den Kopf ge- stellt. Wenn er danach sich Fra- gen der strengen Logik zuwandte, das mochte angehen. Aber was hatten „Ehe und Moral" damit zu tun? Durfte sich ein strenger Phi- losoph, der auch noch von der Mathematik herkam, in Bücher über „Macht" und über „Erzie- hung" verlieren, durfte er über

„Das Lob der Muße" schreiben?

Obwohl das in der englischen Welt etwas weniger ausgeprägt ist als in deutschen Landen: In den Vorwürfen, die auf Russells Moral zielten, schwang doch immer auch ein bißchen „Schuster bleib bei deinem Leisten" mit.

Aber was diesen Bertrand Russell auf eine so ungewöhnliche Weise jung gehalten hat, dazu gehörte eben jene Suche nach Wissen, je- ne Neugier auf höchster Ebene, jenes immer wieder Überdenken und Verknüpfen scheinbar alltäg- licher Ereignisse. Er hatte gar kei- ne Zeit, alt zu werden. Er mußte noch so vieles erst erfahren, dann verarbeiten, dann darüber schrei-

ben oder reden. Und da seine Denkweise weder auf geschwätzi- ges Sich-Ausbreiten noch auf Tiefenbohrungen ausgerichtet war, neigte er dazu, ein Thema nach drei bis fünf Jahren für erle- digt zu halten.

Daß er das Thema „Ehe und Mo- ral" nicht länger den Theologen und Medizinern überlassen woll- te, ist leicht zu verstehen, wenn man diese intellektuelle Neugier als Hauptantriebskraft seines Le- bens verstanden hat.

Schließlich war er siebenundfünf- zig Jahre alt und konnte auf ein

Leben mit vielen Frauen zurück- blicken. Daß er damals erst die Hälfte seiner ehelichen Erfahrun- gen hinter sich hatte, konnte er wirklich nicht ahnen. Und immer hat er sich zu dem Satz bekannt:

„Ich für meinen Teil verdanke den Frauen, die ich geliebt habe, sehr viel und wäre ohne ihren Einfluß viel engherziger geblieben." I>

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Bertrand Rus- set liebte und schätzte nicht nur viele Frau- en, er wurde auch von vie- len aufs höch- ste verehrt, so etwa von Va- nessa Red- grave, die ihn bei einer Anti- Atom-Ka mpa- gne nachhal- tig unterstütz- te. Wer die Schauspiele- rin aus neue- ren Auftritten kennt, wird sie bei dieser Ge- legenheit — ei- nem Essen zu Ehren Russels im Jahre 1961, Russe) war damals 89 — kaum wieder- erkennen.

Foto: dpa Wahr ist außerdem, daß es neben

der wissenschaftlichen Neugier die Frauen waren, denen er jene vitale Spannkraft verdankte, die ihn weit über jede Altersgrenze, wo immer einer sie ziehen mag, hinaustrug. Das fing ganz rüh- rend, beinahe viktorianisch-puri- tanisch an. Bei seinem Onkel Rol- lo lernte er als Siebzehnjähriger Alys Pearsall Smith kennen und verliebte sich keusch in sie, die keusche Amerikanerin, die noch dazu aus einer puritanischen Quä- ker-Familie stammte. Vier Jahre später machte er ihr einen Heiratsantrag. Und da er gerade sein Universitätsexamen bestan- den hatte, und auch volljährig ge- worden war, heiratete er sie ge- gen den Widerstand seiner Fami- lie.

Alys war eine Frau, die sich von ih- rem puritanischen Herkommen frei zu machen versuchte. Sie war auf unaufdringliche Weise hübsch, auf eher unschuldige Weise attraktiv. Sie liebte Bert- rand und wollte ihn ganz für sich.

Aber obwohl er um ihretwillen Ab- stinenzler geworden war, ging sie ihm doch wohl allmählich auf die Nerven mit ihren fanatischen Emanzipationsbemühungen, die ihm als eine Art neuer Prüderie mit umgekehrten Vorzeichen er- schienen sein müssen. Und da heißt es dann in der Autobiogra- phie, nach siebenjähriger Ehe, schlicht: „Eines Nachmittags nahm ich das Fahrrad heraus, und plötzlich, während ich eine Land- straße entlangfuhr, wurde mir klar, daß ich Alys nicht mehr lieb- te."

Das Fahrrad muß in Russells Lie- besleben eine große Rolle ge- spielt haben. Wir werden ihm je- denfalls gleich noch einmal wie- der begegnen. Zunächst quälte sich die Ehe hin, neun Jahre lang.

Beide waren einander treu. Aber auch bei bestem Willen konnte er mit ihrem nächtlichen Werben nichts anfangen.

Entscheidendes fand, wie sich das für einen englischen Lord beina-

he gehört, in Paris statt. Dort lern- te er Lady Ottoline Morell, die Frau eines politischen Freundes, näher kennen. Den Rest erzählt Ernst Sandvoss in seiner ro-ro-ro- Biographie mit so schönem, an seinem Thema geschultem lako- nischen Ton, daß ich ihn zitieren möchte: „Sobald er von (Ottoline in) Paris zurückgekommen war, sprach Bertrand mit (seiner Frau) Alys. Sie war außer sich vor Wut und bestand auf Scheidung... Ot- toline wollte jedoch wegen ihres Kindes nicht geschieden werden.

Nachdem Alys ein paar Stunden lang getobt hatte, gab Bertrand ih- rer Nichte Unterricht in Locke- scher Philosophie, die sie zu ih- rem Abschlußexamen brauchte.

Danach setzte er sich aufs Rad und fuhr davon." Das war das En- de seiner ersten Ehe, die also im- merhin siebzehn Jahre gedauert hatte, wobei sich die Scheidung dann allerdings noch elf Jahre hinzog.

In der nächsten Zeit gab es dann immer wieder Frauen. „Bertie", wie sie ihn nannten, fühlte sich nun nicht mehr verpflichtet, jede gleich immer zu heiraten; was auch schlecht möglich gewesen

wäre, da er ja nach dem Gesetz noch immer verheiratet war. Die Frauen oft auch. Die Russell-Ken- ner würden es mir nicht verzei- hen, wenn ich hier die Schauspie- lerin Colette, mit vollem Namen Lady Constance Malleson, nicht wenigstens nennen würde. Erhei- tert hat ihn das, unserem Wissen nach, einzige Verhältnis zu einer Deutschen, und sie war die Frau eines Psychoanalytikers. Russells Kommentar: „Es gehört in diesem Beruf offenbar zur Etikette, daß der Mann mit seiner eigenen Ehe- frau nichts anzufangen weiß."

Seine Freundin Dora Black hatte Russell mit auf die Chinareise des Jahres 1920 genommen. Er heira- tete sie dann, so schnell er die Scheidung durchkriegen konnte, ein paar Wochen vor der Geburt seines ersten Sohnes. Dora hatte ihn nicht zur Ehe gedrängt. Sie wollte Kinder (und bekam dann ja auch zwei Jahre später noch eine Tochter), aber sie wollte sie für sich, ob mit oder ohne Ehemann.

Dora Black war die wirklich Eman- zipierte unter Bertrands Ehefrau- en. Da sie beide über Kindererzie- hung eigene und einander nicht widersprechende Vorstellungen

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hatten, machten sie zusammen ei- ne fortschrittliche Schule auf, die freilich bald ins Gerede kam. Die Kinder, so hieß es, liefen dort nackt herum und würden anti-au- toritär, vor allem gegen die Autori- tät des Staates erzogen. Das war wohl so. Das fünfte seiner nicht beiläufig so genannten zehn Ge- bote aus dem Jahre 1951 heißt:

„Hab keinen Respekt vor der Au- torität anderer, denn es gibt in je- dem Falle auch Autoritäten, die gegenteiliger Ansicht sind." Und das dritte hieß: „Versuche nie- mals, jemanden am selbständigen Denken zu hindern, denn das wür- de dir gewiß gelingen."

Im ständigen Austausch mit Dora Bleck, die sich an selbständigem Denken so wenig hindern ließ wie an selbständigem Handeln, hat Bertrand Russell „Ehe und Moral"

geschrieben. Die späten zwanzi- ger Jahre waren überhaupt die fruchtbarste Zeit des Schriftstel-

lers Russell. Aber der Schule tat das nicht gut. Russell wurde von den Kindern geliebt; aber auch wenn er mit ihnen sprach, konnte er seinen Witz nicht verleugnen, wenn er mit ihnen spielte, seine Exzentrik nicht ablegen. Und er hatte dann noch immer zu wenig Zeit für sie. Vielleicht auch für Do- ra. Die hatte die Lehren ihres Herrn und Meisters allzu gut ge- lernt und sich, als ihr danach zu- mute war, einen neuen Freund genommen. Die Ehe hielt pro for- ma noch fünf Jahre und wurde 1936 geschieden.

Wenn das Leben mit verschiede- nen Frauen nicht wenig dazu bei- getragen hat, daß wir es schwer finden, entscheidende physische oder psychische Einschnitte zwi- schem dem dreißigsten und dem siebzigsten Lebensjahr des Lords zu finden, dann kann man doch nicht sagen, daß Bertrand Russell die Frauen wechselte. Vermutlich ebensooft wechselten die Frauen ihn.

Die Ehe, die er 1936 mit Patricia Spence, genannt Peter, schloß, war seine kürzeste, dauerte sie

doch „nur" dreizehn Jahre. Und über ihr Ende schrieb Russell:

„Als meine Frau sich 1949 ent- schied, sie habe genug von mir, fand unsere Ehe ihr Ende." Er hat- te Peter bei der Arbeit kennenge- lernt, sie war Assistentin gewe- sen. Und das war sie eigentlich dreizehn Jahre lang geblieben:

seine Assistentin. Bis es ihr reich- te. Weder seiner ersten noch sei- ner zweiten Frau ähnlich, war Pe- ter ein ziemlich moderner Typ. Sie gab, was sie zu geben hatte, und das waren Schönheit, Bereitwillig- keit und Hausfreundlichkeit, wenn ich es einmal so nennen darf, daß es ihr gelang, auch in ein neu be- zogenes Haus sehr schnell eine freundliche Atmosphäre zu brin- gen. Ihrer Bereitwilligkeit ver- dankt Russell seinen zweiten Sohn, sein drittes Kind, dem er wieder ein im Rahmen seiner Möglichkeiten rührender Vater war. Und es muß keine der ande- ren drei Frauen Russells kränken, wenn Photographien Peter als die bei weitem attraktivste ausweisen.

Sie erwartete dafür, nicht nur ge- liebt zu werden, sondern auch sich in den Strahlen neuen Ruhms, die für Russell aufgegan- gen waren, zu sonnen und das standesgemäße Leben einer Da- me führen zu können, deren Mann immerhin zum ältesten briti- schen Adel gehörte und der einen entsprechenden Stil auch zu schätzen wußte.

Russell wäre gewiß bereit gewe- sen, ihr all das zu geben. Aber sie hatten das Pech, daß er nun gera- de mit dieser Frau die schweren Jahre in Amerika durchleben mußte, weil er von einer Reise während des zweiten Weltkrieges nicht rechtzeitig zurückkommen konnte. Die Russells waren dort nicht geradezu arm. Aber es muß- te doch sehr gespart werden. Von gesellschaftlicher Repräsentation konnte keine Rede sein. Und dann mußte sie auch noch in New York diese Verleumdungskampagne miterleben um des Buches „Ehe und Moral" willen, das ihre volle Billigung selbst dann nicht hätte finden können, wenn es nicht in

die Dora-Black-Periode gehört hätte. Ein Jahr, ehe ihr Exmann nun endlich wieder der war, als den sie ihn geheiratet hatte, ein ehrenwertes Mitglied der Gesell- schaft also und nun gar Pour-le- Mähte- und Nobelpreisträger, hat- te sie sich von ihm scheiden las- sen. Sie könnte es bereut haben.

Russell hatte, wie seine Kinder glaubhaft versichern, bis zuletzt zu ihr gehalten und hätte seiner- seits auf Scheidung nicht ge- drängt. Aber das wäre nicht gut- gegangen.

Da sind wir nun also zurück im Jahre 1950, in dem der Earl of Russell von Seiner Britischen Ma- jestät King George Vl. den Order of Merit und dann auch noch in Stockholm den Nobelpreis verlie- hen bekam, und den besonders für sein Werk „Ehe und Moral", wie die für ihr Alter ganz schön aufsässigen Mitglieder der Schwedischen Akademie hinzu- zufügen sich nicht verkneifen konnten. Und Bertrand Russell war inzwischen in jenem Alter, das sogar für östliche und fernöst- liche Staatschefs als leicht über dem Durchschnitt gilt. Zeit, von der dritten jener Quellen zu re- den, aus denen er, wie auf der Su- che nach Wissen und aus der Sehnsucht nach Liebe, jene Kraft zog, die das Alter scheinbar spur-

los an ihm vorübergehen ließ: von dem, was er das schier unerträgli- he Mitgefühl für die Leiden der Menschen nannte.

Weitverbreitet ist ja die Pensio- närsidee von dem Senior, der nun nach den Kämpfen des Lebens sich behaglich zurücklehnt und dessen Reife ihm neue und weni- ger von Ehrgeiz und Leidenschaf- ten verzerrte Einsichten in das Wesen der Welt gewährt. Russell hat dieses Bild für ebenso falsch wie unerwünscht gehalten. Er schrieb: „Sie sagen, die Zeit ma- che einen Menschen reif. Das glaube ich nicht. Die Zeit macht einen Menschen furchtsam, und die Furcht macht ihn zu Zuge- ständnissen bereit, und er bemüht sich, diese Bereitschaft zu Zuge-

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ständnissen anderen als Reife er- scheinen zu lassen. Und mit der Furcht kommt das Bedürfnis nach Zuneigung, nach etwas mensch- licher Wärme, um den Schauder vor der Kälte des Weltalls fernzu- halten. Wenn ich Furcht sage, dann meine ich nicht nur oder nicht an erster Stelle persönliche Furcht: die Furcht vor dem Tode oder der Hinfälligkeit oder der Ar- mut oder irgendso einem rein menschlichen Mißgeschick. Ich denke dabei an eine eher meta- physische Furcht. Ich denke an je- ne Furcht, die die Seele befällt durch die Erfahrung des Bösen, dem alles Leben unterworfen ist:

den Verrat der Freunde, den Tod jener, die wir lieben, die Entdek- kung der Grausamkeit, die in je- der durchschnittlichen Men- schennatur lauert."

Wie sollte so jemand schreiben können, der diese Furcht nicht in der eigenen Seele erfahren hätte?

Sich ihr nicht auszuliefern, darauf kommt es an; sich von ihr nicht unterkriegen zu lassen, das Selbstmitleid aufgehen zu lassen in dem großen Gefühl für die bei- nahe unerträglichen Leiden der Menschen. Und dann etwas zu tun.

Es ist sicher nicht ganz richtig, Russells Leben und Arbeit in drei etwa gleich große Abschnitte glie- dern zu wollen: 1. der Mathemati- ker, 2. der Philosoph, 3. der Frie- denskämpfer. Schon als Dreißig- jähriger war Russell mit auf die Straße gegangen, um für die Gleichstellung der Frauen zu re- den und zu demonstrieren, und er erzählt, wieviel schwerer es gewe- sen sei, 1907 für Frauenrechte einzutreten als 1914 gegen den Krieg. Während des ersten Welt- krieges und auch später immer wieder hat er als Pazifist ge- kämpft. Wobei er stets Mühe hat- te, seine besondere Art des Pazi- fismus ausreichend klarzuma- chen. Die einfachste Formel, auf die er sie gebracht hat, lautete:

Ich bin Pazifist, aber nicht unbe- dingt. Es gab also für ihn Bedin- gungen, die den Krieg rechtfertig-

ten. Er ließ solche Bedingungen, wenn auch erst sehrspät, für den Krieg gegen Hitler gelten. Aber er war 1948 sogar bereit, die Andro- hung eines Krieges gegen die Sowjetunion zu befürworten, um diese zur nuklearen Abrüstung zu zwingen, solange die USA im Al- leinbesitz der Atombombe war.

Richtig ist: Die letzten Jahre im Leben Bertrand Russells galten vor allem dem Kampf um den Weltfrieden. Im Alter von Neunzig noch erklärt er „Im Gegensatz

zur konventionellen Erwartung werde ich mit zunehmendem Al- ter immer rebellischer."

In einer seiner wenigen Reden im Oberhaus hatte er schon kurz nach Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki ge- warnt: „Auch andere Nationen (gemeint war vor allem die So- wjetunion) könn'en Atombomben bauen, und bald wird es eine noch viel schrecklichere Waffe, wird es die Wasserstoffbombe geben."

1949 hatten die Russen einsatzfä- hige Atombomben. Von da an kämpfte Russell allzeit und über- all dafür, daß die Welt sich einigen müsse, wenn sie nicht zugrunde gehen wolle. Er kämpfte mit sei- ner stärksten Waffe, dem Wort. Er war nach wie vor in den fünfziger Jahren ein brillanter Redner. Und er schrieb Bücher, die freilich im-

mer mehr den Charakter von Pamphleten und Erbauungschrif- ten annahmen.

1954 stellte ihm die BBC ihre Mi- krophone zur Verfügung. Er sprach über die Gefahr, die den Menschen durch einen Atomkrieg droht. Eine konzentrierte und kor- rigierte Form des Vortrags schick- te er an Albert Einstein, der den Entwurf gerade noch unterschrei- ben konnte, ehe er starb. Russell gewann weitere zehn Unterschrif- ten von bedeutenden Forschern in Ost und West. Auf dieser Unter- schriften-Sammlung basiert die Pugwash-Konferenz, die ihren ei- genartigen Namen von der ersten Tagung am Geburtsort des Geld- gebers im kanadischen Nova Sco- tia bezieht. Es folgten Russells Briefe an Eisenhower und Chruschtschow, an Chru- schtschow und Kennedy während der Kuba-Krise, an Nehru und Tschu En-lai zur Bewältigung des indisch-chinesischen Grenzkon- flikts.

Aber Russell schrieb durchaus nicht nur an die Großen dieser Welt. Auch die Kleinsten konnten, wenn sie Glück hatten, Antwort auf ihre Briefe bekommen. Oder war es nicht immer Glück? Da hat- te doch ein junger Mensch na- mens Grasse an Lord Russell ge- schrieben. Er hatte so viel davon gehört, daß dieser offenbar nie- mals alt werdende Mann so gro- ßes Verständnis gerade für die Probleme der Jugend habe. Was sicher richtig war. Russell liebte seine Studenten, diese Liebe drückte sich aufs angenehmste darin aus, daß er niemals langwei- lige Vorlesungen hielt. Und die Studenten liebten ihn. Wer Rus- sell hören wollte, mußte früh kom- men.

Jung-Grasse also schrieb: „Ich treibe — lasse mich einfach trei- ben. Viel Zeit verbringe ich mit Le- sen und dem Anhören von Musik.

Diese Art zu leben macht mir viel Freude, aber ich weiß auch genau, daß es so nicht für immer weiter- gehen kann. Ich wäre gern Lehrer,

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aber ich habe einen Widerwillen vor diesen Aufnahmeprüfungen.

Ich kann mir einfach keine un- wichtigen Daten merken. Was soll ich tun? Arbeiten? Oder wieder zur Schule gehen? Ich will eine Arbeit haben, aber körperliche Ar- beit paßt nicht zu mir. Ich bin nicht wie die anderen. Ich mag Ideen, Vorstellungen ..."

Da jedoch donnerte der jugend- freundliche Lehrer Russell: „Ihr Brief scheint mir in viel zu großem Maß von Ihrer eigenen privaten Welt eingenommen und ziemlich selbstgenießerisch. Wenn Sie stu- dieren wollen, dann studieren Sie und bummeln Sie nicht mit Wunschvorstellungen herum. Kör- perliche Arbeit ist kein Unglück.

Kennzeichen der Unreife ist es, wenn man sich selber so furcht- bar ernst nimmt. Ich hoffe, Sie denken darüber nach. Mit freund- lichen Grüßen, Bertrand Russell."

Natürlich konnte Russell nicht alle Briefe, an Staatsoberhäupter wie an Oberschüler, allein bewältigen.

Seit 1960 etwa hatte er Helfer und einen Sekretär, von dem er sich später in gütigem Zorn getrennt hat.

Die Aktivitäten und Schriften Bert- rand Russells in den sechziger Jahren scheinen mir noch gründ- licher kritischer Analyse zu bedür- fen. Nicht alles, was da mit ihm getan wurde, hat Bertrand Russell immer gewollt. Nicht alles, was da in seinem Namen geschrieben wurde, hat er selber geschrieben.

Man braucht sich nur einmal die drei Bände der Autobiographie genau anzusehen. Jedem philolo- gischen Anfänger muß dann auf- fallen, daß der dritte nicht oder wenigstens nicht durchgehend die authentische Handschrift der beiden ersten trägt. Obwohl es ja wahrhaftig schwer genug ist, ein einigermaßen richtiges Bild von Bertrand Russell zu gewinnen, wurde die Epoche seiner letzten zehn Jahre verfälscht. Nicht da- von, daß der mehr als Neunzigjäh- rige nicht mehr zurechnungsfähig war, ist die Rede; sondern davon,

daß er ganz offensichtlich Absen- cen hatte.

Russell entspräche meinem Bilde von ihm nicht, wenn ihn nicht auch während der letzten Jahre seines Lebens eine Frau begleitet hätte. Und das war nicht etwa eine Haushälterin oder Krankenpflege- rin. Edith Finch war eine ausge- wachsene Professorin, eine

Neue Alte

„Die neuen Alten" heißt ein Buch, das in Kürze im Kreuz-Verlag erscheinen wird (ca. 280 Seiten, 20 Por- trät-Fotos, ca. 28 DM). In ihm wird dieser Beitrag von Ru- dolf Walter Leonhardt, der hier als Vorabdruck er- scheint, enthalten sein. Dr.

Leonhardt, Jahrgang 1921, ist Reporter und stellvertre- tender Chefredakteur der

„Zeit".

Die meisten „dieser neuen Alten", — jedenfalls die, die in dem Buch von (zumeist) recht prominenten Autoren beschrieben werden — zei- gen Selbstbewußtsein, eine positive Einstellung zum Al- ter und zum Leben allge- mein, Hoffnung. Da ist we- nig von Resignation zu spü- ren, kaum Jammern über das ungerechte Los in alten Tagen zu lesen. Sind das al- so die Alten, auf die die Jün- geren sich einzustellen ha- ben und zu denen sie selbst einmal gehören werden? NJ

Schönheit mit mütterlichem Ein- schlag, die eigens Russells wegen von Amerika nach England ge- kommen war. „Durch die vergan- genen Jahrzehnte banger Ahnun- gen und Mahnungen", schreibt der nun schon weit über neunzig- jährige, langlebig Liebende, „hat mich vor allem eins gebracht: Ich verliebte mich in Edith Finch, und Edith Finch verliebte sich in mich."

Etwa in der gleichen Zeit hat er ihr ein Gedicht geschrieben mit fe- ster, kaum greisenhaft zitternder Handschrift. Es ist das Gedicht ei- nes Mannes über neunzig und könnte, von ein paar inhaltlichen Hinweisen abgesehen, doch das Gedicht eines verliebten Prima- ners sein.

An Edith

Die langen Jahre hindurch suchte ich Frieden.

Ich fand Ekstasen, ich fand Angst, Ich fand Einsamkeit,

Ich fand den vereinsamenden Schmerz, Der am Herzen nagt,

Aber Frieden fand ich nicht.

Jetzt, alt und meinem Ende nahe, Habe ich Dich kennengelernt, Und als ich Dich kannte,

Habe ich Ekstase und Frieden ge- funden.

Ich kenne Ruhe.

Nach so vielen einsamen Jahren Weiß ich, was Leben und Liebe

sein können.

Wenn ich jetzt schlafe, Werde ich schlafen, erfüllt.

Der vorher erwähnten Warnung Gilbert Murrays eingedenk, möch- te ich am Ende den vielen, die Englisch gut verstehen, die Origi- nalfassung nicht vorenthalten:

To Edith

Through the long years I sought peace.

I found ecstasy, I found anguish, I found loneliness,

I found the solitary pain that gnaws the heart, But peace I did not find.

Now, old and near my end, I have known you,

And, knowing you,

I have found both ecstasy and peace.

I know rest.

After so many lonely years, I know what life and love may be.

Now, if I sleep,

I shall sleep fulfilled.

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