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A1548 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 2230. Mai 2003
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an kennt sie: die Bilder von Marc Chagall (1887–1985) und von René Magritte (1898–1967) – kaum eine große Sammlung, die nicht „ihren“ Chagall oder„ihren“ Magritte vorweisen kann. Der weißrussische Jude aus Vitebsk, der schon 1910 das erste Mal nach Paris ging, 1941 nach Amerika emigrier- te und sich nach dem Krieg in Südfrankreich niederließ, und der belgische Surrealist sind Ikonen der Moderne des 20. Jahrhunderts geworden.
Ihre Motive sind in die allge- genwärtige Popularität der Plakate aufgestiegen.
Chagalls ein- schmeichelnd lie- bevoller Umgang mit den Erinnerun- gen an das jüdische Milieu und seine Heimat, die poeti- schen Lufteskapa- den mit seiner Bel- la oder die bibli- schen Geschichten sind im Grand Pa- lais, auf halber Höhe zwischen dem Louvre und dem Arc de Triomphe, unter dem Titel
„Marc Chagall – connu et inconnu“
zu sehen. So viel Farbenpracht und Fantasiewirbel, so viel großflächig be- rauschende Szene- rie und so viel kleinformatige zar- te Poesie sind dort versammelt, sodass selbst der Chagall- Liebhaber über- rascht sein dürfte.
Nicht so umfang- reich, doch mit immerhin auch 160 zumeist von privaten Sammlern zur Verfügung ge- stellten Werken nicht minder beeindruckend, bietet das klei- ne Museum Jeu de Paume eine Auswahl der Werke von René Magritte. Durch die zwei Eta- gen schiebt sich dort das Publi- kum an Magrittes verblüffen- den Blickstörungen vorbei. An jenen Männern, denen ein Ap- fel vor dem Gesicht unter dem steifen Hut schwebt, oder de- nen, die in Massen in eine kleinbürgerliche Wohngegend zu regnen scheinen („Gol- conde“, 1953). Oder es amü- siert sich über Schuhe, die an
den Fußspitzen in Zehen übergehen. Es ist verblüfft über die Tag- und Nachtver- wirrungen und die „falschen“
Größenverhältnisse. Manche sehen wie Bühnenbilder aus, sind selbst schon eine raffi- niert doppelbödige Inszenie- rung (an manchen jedenfalls scheint sich sogar die Video- clip-Ästhetik geschult zu ha- ben). Auf seinem 1936 ent- standenen „La Clairvoyance“
(Hellsehen) sieht man, wie der Maler selbst vor einer Staffelei
sitzt, neben sich das „Modell“
– ein Ei. Auf der Leinwand aber flattert bereits der Vogel, der aus dem Ei werden könn- te. Der ungewöhnliche Blick und der nobel-akribische Pin- selstrich gehen bei Magritte stets zusammen. Seine Ausflü- ge in den Impressionismus (wie sein Le „Premier Jour“, Der erste Tag, im Stil von Re- noir, bei dem eine kleine Bal- lerina auf dem Schoß eines Geigers tanzt) werden zur bio-
grafischen Fußnote, wenn man die Entstehungsjahre (in dem Fall 1943) liest.
Beide Ausstellungen sind dem Streit über den Rang der Künstler längst entrückt, denn diese haben ihre Spuren in der Kunstgeschichte hin- terlassen und – wie die Besu- cherströme zeigen – auch in den Herzen der Menschen.
Kein Parisbesucher dieses Frühjahrs sollte sich diese beiden Ausstellungen entge- hen lassen. Dr. Joachim Lange
Marc Chagall und René Magritte
Zwischen Déjà-vu-Erlebnis und Neuentdeckung
Kein Paris-Besucher sollte sich die Ausstellungen der Künstler entgehen lassen.
Marc Chagall, Doppelporträt mit Weinglas, 1917–1918
Fotos:VG Bild-Kunst,Bonn
René Magritte, Golconde, 1953
Die Ausstellung „Marc Chagall – connu et inconnu“ ist bis zum 23. Juni im Grand Palais, Paris, zu sehen; die Ausstellung läuft vom 26. Juli bis 24. November im Mu- seum of Modern Art in San Fran- cisco (Katalog: 35 Euro).
Die Ausstellung „René Ma- gritte“ ist bis zum 9. Juni in der Galerie nationale du Jeu de Paume zu sehen (den Katalog zur Ausstellung gibt es auch auf Deutsch. Preis: 35 Euro).
Feuilleton
René Magritte,
Der Menschensohn, 1964