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Archiv "Frank Wedekind (1864–1918): „Das Fleisch hat seinen eigenen Geist“" (21.07.2014)

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FRANK WEDEKIND (1864–1918)

„Das Fleisch hat seinen eigenen Geist“

Literarische Verarbeitung eines sich formierenden neuen Konzepts von Sexualität

P

ornographisches Skandal- stück“, „moderne Klapper- storchtragödie“, so lauteten Reak- tionen der Presse bei der Urauffüh- rung von Frühlings Erwachen 1906 an den Berliner Kammerspielen.

Onanierende Jugendliche, mal solo auf dem Abort, mal gemeinschaft- lich in Wettspielmanier gepaart mit Sex auf dem Heuboden und homo- erotischen Annäherungsversuchen machten das bereits 1891 erschie- nene Drama zum Skandalstück.

Es erscheint naheliegend, dass in einer Zeit, in der Prüderie und Ver- klemmtheit mit Moral gleichgesetzt wurden, ein Frank Wedekind, der in seinen Werken die verhängnisvolle Trennung von Geist und Sinnlich- keit anprangert und selbst einen un- befangenen Umgang mit der Ge- schlechtlichkeit vorlebte, anstößig wirken musste. Während Wede- kinds literarische Haltung zu je- nem „Fleisch“ die Tugendwächter der wilhelminischen Ära auf den Plan rief, etablierte sich gleichzeitig von der Zensur unbehelligt in der psychoanalytischen Forschung ein neues Verständnis der menschli- chen Sexualität und ihrer kulturel- len Ausprägungen.

Regte Wedekind in seiner Kin- dertragödie bereits eine Abkehr von der herrschenden repres-

siven Erziehungspraxis mit ihrem Verschweigen und Verdecken an, forder- te auch die ein Jahr nach deren Uraufführung er- schienene Studie Sig- mund Freuds Zur sexuel- len Aufklärung der Kin- der von der Gesellschaft,

Jugendlichen sexuelle Bedürfnisse zuzugestehen. In seinem als „Sit- tengemälde in vier Bildern“ unterti- telten Stück Musik (1907) entlarvte Wedekind die verlogene Doppel- moral der bürgerlichen Klasse.

In der Prosaerzählung Mine- Haha oder Über die kör-

perliche Erziehung der jungen Mäd- chen (1909) durchläuft die Hauptfi- gur Hidalla drei Entwicklungspha- sen der sexuellen Reifung; diese entsprechen den in Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905) als infantile Sexualität, La- tenzperiode und Pubertät bezeich- neten Phasen. In seinem Modell ei- ner Mädchen-Philanthropin nimmt Wedekind spätere populäre körper- orientierte Reformmodelle und na- turverbundene Alternativbewegun- gen vorweg. Während das Phänomen der Prostitution in vielen sexualwis- senschaftlichen und kulturhistori- schen Schriften des ausgehenden 19. Jahrhunderts idealisiert oder ver-

dammt wurde, thematisierte der mit den Schauplätzen des Bordellmi- lieus vertraute Dichter in literari- schen Entwürfen wie Das Opfer, Allbesiegerin Liebe, Leiden eines Freudenmädchens und Die eiserne Jungfrau im Bordell Prostitution als Erscheinungsform des sexuellen Austausches.

Im Unterschied zu Freud akzep- tierte Wedekind eine kulturnotwendi- ge partielle Unterdrückung der sexu- ellen Triebhaftigkeit nicht vorbehalt- los. Das Wilde, Ungezügelte, Egoisti- sche der menschlichen Natur und das Recht auf ein uneingeschränktes Sichausleben gesteht er dem Men- schen durchaus zu. Die reine, niemals bürgerlich zu bändigende Triebhaf- tigkeit, das „wahre Tier, das wilde, schöne Tier“, gewinnt menschliche Gestalt in seiner Lulu (1895/1902).

Diese verkörpert das Image der die Männer faszinierenden und gleich- zeitig mordenden Frau, die selbst an der Gewalt und körperlichen De- struktion der Liebe zugrunde geht.

Zügellos und bunt wie sein Werk war auch das Leben des als Sohn ei- nes Arztes und einer Schauspielerin vor 150 Jahren, am 24. Juli 1864, geborenen Dichters. Er studierte deutsche und französische Litera- tur, schrieb für die „Neue Zürcher Zeitung“, war Chef des Reklame- und Pressebüros der Firma Maggi, reiste mit dem Zirkus Herzog und dem Feuermaler Rudinoff durch die Lande, war Sekretär des Malers, Bildfälschers und Hochstaplers Willy Grétor in Paris, gründete die satirische Zeitschrift „Simplicissi- mus“ mit, war Schauspieler und Re- gisseur am Münchner Schauspiel- haus und saß wegen Majestätsbe - leidigung eine Haftstrafe auf der Festung Königstein ab. Literatur, Theater, Bohème, wechselnde Part- nerinnen und Kampf mit der Zensur bestimmten allzeit sein Leben.

Sandra Krämer M.A.

Sandra.Kraemer@studium.uni-hamburg.de

Ein wahnwitziges Verbrechen ist es hingegen, die Jugend systematisch zur Dummheit und Blindheit ihrer Sexualität gegenüber anzulernen

und zu erziehen . . .

Frank Wedekind: Über Erotik (1910)

Foto: picture alliance

A 1310 Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 111

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Heft 29–30

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21. Juli 2014

K U L T U R

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