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Archiv "Erster Weltkrieg 1914–1918: „Keine Wohltat, sondern Arbeit für verkrüppelte Krieger“" (17.10.2014)

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A 1790 Deutsches Ärzteblatt

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Heft 42

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17. Oktober 2014

ERSTER WELTKRIEG 1914–1918

„Keine Wohltat, sondern Arbeit für verkrüppelte Krieger“

Die medizinische Versorgung von Kriegsversehrten im Ersten Weltkrieg.

Philipp Osten

M

onate bevor in Sarajevo die ersten Schüsse fielen, be- gann in deutschen Städten die Um- wandlung von Schulen, Theatern und Turnhallen in Lazarette. In der Universitätsstadt Heidelberg war der Soziologe Max Weber als Dis- ziplinaroffizier der Lazarettkom- mission dafür zuständig. Bereits im Mai 1914 wurden die Schulen sei- ner Heimatstadt auf ihre Eignung für die Aufnahme von Verwundeten geprüft. Am 3. August verfügte We- ber die Räumung einer Stadthalle, eines Vergnügungslokals und meh- rerer Volksschulhäuser (1). Mit 6 500 Lazarettbetten verwandelte sich die Stadt am Neckar in ein Großklinikum mit Gleisanschluss an die westlichen Fronten. Die Uni- versitätsklinik lag unmittelbar ne- ben dem Hauptbahnhof, Bildungs- einrichtungen und zahlreiche Ho- tels boten zusätzliche Unterbrin- gungsmöglichkeiten. Alles war akribisch geplant. Regionale Rot- Kreuz-Vereine gaben an Umschlag- plätzen Kaffee an Verwundete aus

und organisierten Sammlungen von Verbandmaterial, Lebensmitteln und Liebesgaben. Detailliert erläu- terten Lehrbücher die Infrastruktur der Verwundetenversorgung, von den frontnahen Verbands- und Sam- melplätzen über die Barackenlager in der Etappe bis hin zu den Trans- portzügen in die Heimatlazarette.

Völlige Planlosigkeit bei der Langzeitbetreuung

In Heidelberg dokumentierte der Fotograf Max Krögel (1860–1925) mit seiner Kamera die Ankunft der ersten Verwundeten. Seine Fotos zeigen Kinder, die vor dem Zaun ihrer ehemaligen Schule stehen.

Auf dem Pausenhof liegen Tragen mit verletzten Soldaten. Krögels Bilder hielten den Straßenbahnwa- gen fest, der zu einem offenen Transportvehikel für Verwunde- te umgebaut war und sie dokumen- tieren wie das offiziell zum Foto aufgestellte Empfangskomitee des Rot-Kreuz-Vereins bei Ankunft ei- nes Lazarettzugs der grausamen

Realität gewahr wurde: Einige der Honoratioren blicken noch feierlich in das Objektiv des Fotografen, während Sanitäter bereits damit be- ginnen, die Wunden der Soldaten zu begutachten.

Lange vor dem 1. August 1914 stand fest, wie mit einer großen Zahl Verwundeter zu verfahren sei.

Das Angebot an Reserve-, Vereins- lazaretten war weit höher als der Bedarf. Doch der perfekt organi- sierten Akutversorgung stand nahe- zu völlige Planlosigkeit bei der Langzeitbetreuung der dauerhaft vom Krieg gezeichneten Soldaten gegenüber. Selbst darüber, wie die vielen arm- und beinamputieren Männer zu bezeichnen seien, herrschte Verwirrung (2). „Kriegs- krüppel“ wurden sie zunächst ge- nannt, und es existieren bis heute keine genauen Angaben darüber, wie viele es waren. Die letzten ver- lässlichen Statistiken stammen vom Juni 1918. Da hatte die Zahl der

„dienstunbrauchbar“ aus dem Mili- tärdienst Entlassenen längst die

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700 000er Marke überschritten, von denen knapp 90 000 eine „Verstüm- melungszulage“ bewilligt worden war (3). Methoden, nach denen die arm- und beinamputierten Kriegs- opfer medizinisch betreut werden sollten, waren erst kurz zuvor ent- wickelt worden – zur Behandlung körperbehinderter Kinder.

Der Beginn des Ersten Weltkrie- ges fällt in eine entscheidende Pha- se der Disziplinengenese der noch

jungen Orthopädie, die sich rasant von einem konservativen zu einem chirurgischen Fach entwickelte. Ei- ne gesetzlich geregelte Versorgung für körperbehinderte Menschen existierte zu Anfang des 20. Jahr- hunderts nicht. Immerhin hatten konfessionelle Heime für körperbe- hinderte Kinder damit begonnen, ihre Zöglinge zu Korbflechtern aus- zubilden. An eine medizinische Be- handlung aber war um 1900 noch nicht zu denken, denn Körperbehin- derungen galten nicht als Krankhei- ten. Kassen zahlten nicht bei soge- nannten „statischen Leiden“ des Skelettsystems. Leidtragende wa- ren vor allem Kinder. In Industrie- städten litt ein Drittel der Schulan- fänger unter Rachitis, die Knochen- und Gelenktuberkulose war die Haupttodesursache bei Jugendli- chen und die Poliomyelitis war eine überaus häufig epidemisch auftre- tende Infektionskrankheit unklarer Genese. Zeitgleich waren die wis- senschaftlichen Fortschritte der Knochen- und Gelenkchirurgie un-

übersehbar – vor allem befördert durch die neue Röntgendiagnostik.

Aseptische Operationsmethoden re- duzierten die Infektionsgefahr. Tu- berkulös infizierte Wirbelkörper wurden mit Knocheninterponaten stabilisiert, was die drohende Ge- fahr einer Querschnittslähmung bannte. Operative Sehnenverlage- rungen und Gelenkversteifungen boten bei neurologischen Erkran- kungen die Möglichkeit, die Gehfä-

higkeit wiederherzustellen. Doch ohne Kostenträger blieb all das Theorie. An die Einrichtung Ortho- pädischer Universitätskliniken, an denen die neuen Operationsmetho- den auf wissenschaftlichem Niveau hätten verfeinert werden können, war nicht nur aus finanziellen Gründen nicht zu denken. Groß war auch der Widerstand chirurgischer Fachvertreter gegen die Etablierung einer Orthopädischen Chirurgie.

Sechs Jahre vor Ausbruch des Ers- ten Weltkrieges war dieses Dilem- ma auch dem Preußischen Unter- richtsministerium aufgefallen. Ge- meinsam mit dem kurz darauf ver- storbenen Extraordinarius für Or- thopädie an der Berliner Universi- tät, Albert Hoffa, initiierte der Lei- ter der preußischen Medizinalabtei- lung ein Modellprojekt, bei dem private Spender und kommunale Armenverwaltungen gemeinsam für die medizinische Betreuung und Berufsausbildung körperbehinder- ter Kinder sorgen sollten. Betraut mit dem Projekt wurde der Leiter

der Röntgenabteilung am Berliner Städtischen Krankenhaus Am Ur- ban, der Chirurg Konrad Biesalski (1868–1930). Durch eine großzügi- ge Spende des Fabrikantenpaars Oskar und Helene Pintsch konnte Biesalski im Mai 1914 eine 400-Betten-Klinik im Berliner Gru- newald eröffnen, die nach ihren Stiftern Oskar-Helene-Heim für die Heilung und Erziehung gebrechli- cher Kinder getauft wurde. In einer – ebenfalls unter der Ägide des Preußischen Unterrichtsministeri- ums ins Leben gerufenen – Deut- schen Vereinigung für Krüppelfür- sorge hatten sich Kirchen, Armen- verbände und Orthopäden zusam- mengeschlossen, um den Ausbau weiterer Einrichtungen zu fördern.

Vollständig neues Feld der Sozialfürsorge

Die Berliner Modellanstalt Oskar- Helene-Heim befand sich auf einem weitläufigen Waldgelände und bot Jungen und Mädchen eine Vielzahl moderner Ausbildungsberufe. Zwei Monate nach der feierlichen Eröff- nung der Anstalt durch Kaiserin Auguste Viktoria begann der Erste Weltkrieg. Überzeugt, das richtige Konzept für die Nachbetreuung verwundeter Soldaten in der Hand zu haben, betrieb der 45-jährige Anstaltsleiter Konrad Biesalski die

„Mobilmachung der Krüppelfürsor- ge“ (4). Er diktierte dem Kabinetts- sekretär der Kaiserin Auguste Vik- toria ein Schreiben, das er über Wolfs Telegrafen Büro, die damals bekannteste halbamtliche Nach- richtenagentur, verbreiten ließ. In dem fingierten Telegramm wies die Kaiserin alle „Krüppelheime“ an, fortan „die orthopädische Nachbe- handlung von Verwundeten“ zu übernehmen und „die Schwerver- letzten wieder beruflichem Erwerb zuzuführen“ (5). In der Zeitschrift für Krüppelfürsorge erläuterte Bie- salski, wie er sich die Umwandlung der Heime für körperbehinderte Kinder in orthopädische Lazarette vorstellte: „… der eine wird seine Kinder zusammendrängen können und etwa die Schulklassen frei ma- chen; der andere hat vielleicht Ba- racken oder ein leer stehendes Haus oder ein Gebäude, das er räumen Die Ankunft des

ersten Lazarett- zugs in Heidel- berg. Empfang der Verwundeten auf dem Bahnsteig;

Transport in einem umgebauten Straßenbahnwagen;

Tragen mit den verletzten Soldaten auf dem Pausenhof einer Schule.

Fotos: Stadtarchiv Heidelberg

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A 1792 Deutsches Ärzteblatt

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17. Oktober 2014 kann; dem Dritten nehmen einen

Teil der Pfleglinge vielleicht gute Freunde oder Nachbarn ab“(6).

In Ermangelung eines alternati- ven Konzepts griff die Generalsani- tätsverwaltung die Initiative des Berliner Arztes dankbar auf. Der von Biesalski geleiteten Deutschen Vereinigung für Krüppelfürsorge, wohlbemerkt einer Fürsorgeinitiati- ve für körperbehinderte Kinder, der bisher private Philanthropen, Ärzte, Pastoren, Heimleiter und städtische Wohlfahrtsorganisationen angehört hatten, traten nun Fabriken, Ze- chen, Handelskammern, Kirchen- behörden, Landesversicherungsan-

stalten, Krankenkassen, Berufsge- nossenschaften und Eisenbahndi- rektionen bei. Binnen Jahresfrist er- höhte sich die Zahl der Mitglieder von 372 auf knapp 3 000. Für die Invalidenrenten der im Krieg ver- wundeten Soldaten mussten nach dem Mannschaftsversorgungsge- setz aus dem Jahr 1906 die zivilen Unfallversicherungen aufkommen (7). Diese Gelder nicht für Renten, sondern für die medizinische Nach- behandlung und für die Umschu- lung kriegsversehrter Soldaten zu verwenden, eröffnete ein bisher un- bekanntes und vollständig neues Feld der Sozialfürsorge. Das Kon- zept der Rehabilitation war gebo- ren. Dennoch fehlte eine einheitli- che Regelung der Invalidenrenten.

Soldaten, die im Zivilleben Eisen- bahner gewesen waren, standen weit besser da als viele Industriear- beiter. Auf den Vorschlag der Bud- getkommission des Reichstags, rasch einheitliche Bemessungs- grundlagen zu beschließen, reagier- te die Reichsregierung mit der Aus- rede, über einen entsprechenden Gesetzesentwurf werde gleich „in der ersten Tagung des Reichstages nach Friedensschluss“ beraten (8).

Dennoch waren die einmal be- kannt gegebenen Maßnahmen zur orthopädischen Nachbehandlung nicht mehr zurückzunehmen. Der öffentliche Druck war groß, eine optimale Versorgung für die zuneh- mend das Straßenbild prägenden Kriegsversehrten zu gewährleisten.

Wolfgang Eckart berichtet in sei- nem neu erschienenen Buch Medi- zin und Krieg: Deutschland 1914 – 1924 über die im Herbst 1916 be- ginnenden Massendemonstrationen gegen Hunger und Krieg: Viele die-

ser eindrucksvollen und von der Militärregierung gefürchteten Pro- testmärsche wurden durch Verwun- dete, aus dem Dienst entlassene Soldaten angeführt. 1917 verarbei- tete der Schriftsteller Leonhard Frank seine Eindrücke dieser De- monstrationen in einer pazifisti- schen Novelle, der er den Titel Die Kriegskrüppel gab. In Deutschland war die Publikation verboten, aber sie wurde in der Schweiz gedruckt und als anonyme Flugschrift im süddeutschen Raum verbreitet.

Franks Geschichte beginnt in der

„Metzgerküche“ eines Frontlaza- retts, die Verwundeten werden mit einem Lazarettzug nach Berlin ge- bracht (Textauszug siehe Kasten).

Dort erkennen die Massen der Mil- lionenstadt beim Anblick der Ver- letzten und entstellten Männer den ganzen Schrecken des Krieges und sammeln sich zur Revolution „der Freiheit und der Liebe“ (9).

Großes Betätigungsfeld für die Orthopädie

Früh hatten die großen offiziellen Kriegsausstellungen das Thema Amputationen aufgegriffen und versucht, die Kriegsversehrtenpro- blematik propagandistisch ins Posi- tive zu wenden. Säle voller Prothe- sen sollten die Leistungsfähigkeit der industriellen Orthopädiemecha- nik vorführen. Bildberichte aus den orthopädischen Lazaretten füllten die Zeitungen: „Der deutsche Kriegsinvalide – Nicht mehr Leier- mann“ titelte die Vossische Zeitung am 30. Dezember 1914, die Welt am Montag schrieb über „Die soziale Rettung der Kriegskrüppel“ und die Frankfurter Zeitung berichtete un- ter der Schlagzeile „Heldenheim Beschreibung eines Lazarettzugs aus der 1917 als anony-

me Flugschrift veröffentlichten Novelle „Die Kriegskrüppel“

von Leonhard Frank:

„Zweiundzwanzig“, sagt das Kind, das an der Landstra- ßenschranke steht und dem Zuge nachsieht.

Es sind nur zwanzig Wagen; das Kind hat die Lokomo- tive und den Tender mitgezählt. In jedem Wagen zwanzig Kranke, langgestreckt und unbeweglich in den übereinan- der befestigten Betten.

Die Blinden stehen im Laufgang an den Fenstern und schauen hinaus in die wunderbare, schimmernde Herbst- landschaft. Sie fühlen die Sonne und sehen die Finsternis.

Die Irrsinnigen sind beisammen in einem Wagen. Eine Bank an den vier Wänden entlang. Genügend viel Sitzplät- ze. Aber alle Irren hocken am Boden, in einem dreifachen Kreise, und lachen, lächeln, schwätzen, schweigen, schüt- teln schlau den Kopf. Nur einer steht. Er betrachtet die Wand. Er betrachtet seit sechzig Stunden die Wand. Im Wagen hinter dem Tender ist die Apotheke und das Ope- rationszimmer, mit dem Zinkblechtisch in der Mitte. Im vorletzten Wagen schlafen die Sanitätssoldaten. Im letzten Wagen des Zugs liegen die, die während der Reise ver - endet sind. Der letzte Wagen füllt sich allmählich.

EIN LAZARETTZUG

Schwerverletzte Soldaten sollten in der Berliner Modellanstalt „Oskar-Helene-Heim“

einer beruflichen Erwerbsmöglichkeit zugeführt werden.

Fotos: Biesalski, Kriegskppelrsorge (1915)

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oder Arbeit“ über das neue Konzept der Rehabilitation. Auch die ersten Produktionen der zu Kriegszwe- cken verstaatlichten Filmindustrie zeigten Arbeiter mit hoch speziali- sierten Werkzeugprothesen, die schmieden, hämmern, und komple- xe Maschinen bedienen konnten.

Die bekannteste Prothese war der Sauerbrucharm, entwickelt von dem Chirurgen Ferdinand Sauer- bruch (1875–1951). Seine Patienten mussten sich einer ganzen Kette von Operationen unterziehen, bis der Armstumpf auf die Apparatur vorbereitet war. Die Erkenntnis, dass die Verwundeten mit Armpro- thesen weit schlechter umgehen konnten als mit dem verbliebenen Teil ihrer Extremität, setzte sich zu- erst bei Ärzten durch, die langfristi- ge Nachbetreuungen übernahmen.

Bei Orthopäden war eine (1917 von Hermann Kruckenberg entwickelte) Operationstechnik populär, bei der nach dem Verlust der Hand Elle und Speiche voneinander getrennt, und mit Haut umschlossen wurden, was den Unterarm in eine Greifzange verwandelte.

Hunderttausendfach aufgelegt wurde Konrad Biesalskis reich be- bilderter „Ratgeber zum Troste und zur Mahnung“ Kriegskrüppelfür- sorge. Abgebildet wurden armam- putierte Männer, die in den Schul- zimmern des Berliner Oskar-Hele- ne-Heims an viel zu kleinen Bän- ken sitzen und lernen, mit der lin- ken Hand zu schreiben, sogar Sol- daten an den „Webstühlen für weib- liche Zöglinge“ wurden gezeigt, um die Konversion der Friedens- auf die Kriegskrüppelfürsorge zu de- monstrieren.

Mit eisernem Willen gegen das „Krüppeltum“

Vier „Leitsätze der Kriegskrüppel- fürsorge“ formulierte Biesalski un- ter dem Titel „Wer ist der Führer in der gesamten Fürsorge für unsere heimkehrenden Krieger“. Sie laute- ten:

Keine Wohltat, sondern Arbeit für verkrüppelte Krieger.

Zurückschaffung in die Hei- mat und die alten Verhältnisse, wo möglich die alte Arbeitsstelle.

Verstreuung unter die Masse des schaffenden Volkes, als wenn nichts geschehen wäre.

Es gibt kein Krüppeltum, wenn der eiserne Wille besteht, die Behinderung der Bewegungsfrei- heit zu überwinden (10).

Auch an die Kriegsbeschädigten selbst richtete sich die Propaganda.

Ihnen wurde in Aussicht gestellt, er- oberte Gebiete zu kolonialisieren.

Der „Urwaldes von Bialowies“ sei ein guter Platz, „die Arbeitslosen bei Zeiten unterzubringen“ (11).

Bald registrierten die Lazarettinsas- sen, dass ein Ziel der Operationen und Umschulungsmaßnahmen da- rin bestand, ihnen die Invalidenren- te zu kürzen. Doch Widerstand war verboten. Verwundete blieben auch im Lazarett Militärpersonen. Sie unterstanden der Wehrdisziplinar- ordnung und hatten den Anweisun- gen ihrer Ärzte Folge zu leisten.

Mit dem Ende des Krieges ihrem Schicksal überlassen

Mit der Demobilisierung im No- vember 1918 endete das Ex - periment „Kriegskrüppelfürsorge“.

Fluchtartig verließen die Verwun- deten das Berliner Oskar-Helene- Heim. In Heidelberg, wo in der Stadthalle ein Orthopädisches La- zarett untergebracht war, zeigte sich das ganze Dilemma der provisori- schen Langzeitversorgung. Ohne realistische Aussicht auf eine Er- werbsmöglichkeit waren die kör- perbehinderten Männer im Lazarett gestrandet. In öffentlichen De- monstrationen forderten sie, weiter mit Lebensmitteln versorgt zu wer- den, während die Lazarettleitung darauf drängte, den schmucken Re- präsentationsbau zügig zu räumen.

In einem verzweifelten Leserbrief appellierten die Patienten der Stadt- halle an die Öffentlichkeit: „Haben wir das wirklich verdient, dass wir jetzt noch kämpfen müssen für ein Plätzchen, an dem sich unsere Wunden schließen können?“ (12) Ein Jahr lang wurden sie geduldet.

Zynisch kommentierte der örtliche Lazarettleiter den Abzug der letzten Patienten im Dezember 1919: „Eine Träne hat ihnen niemand nachge- weint, im Gegenteil, wir atmeten auf, als das Haus endlich geräumt war.“ (13)

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2014; 111(42): A 1790–4

Anschrift des Verfassers PD Dr. med. Philipp Osten

Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Im Neuenheimer Feld 327 69120 Heidelberg osten@uni-heidelberg.de

@

Literatur im Internet:

www.aerzteblatt.de/lit4214 oder über QR-Code Anlässlich des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges vor

100 Jahren sind für dieses Jahr die folgenden Beiträge im Deutschen Ärzteblatt vorgesehen:

Die deutsche Ärzteschaft im Furor teutonicus (Heft 17)

Der ärztliche Pazifist Georg Friedrich Nicolai (Heft 20)

Konzepte von Angst in der deutschen und französi- schen Kriegspsychiatrie Heft (33–34)

Die medizinische Versorgung von Kriegsversehrten

Probleme der Militärmedizin

Die Gesundheitssituation der Zivilbevölkerung Die Serie im Internet: www.aerzteblatt.de/ersterweltkrieg

DÄ-SERIE ZUM WELTKRIEG

Foto: Ullstein Bild

Kriegsinvaliden bei Übungen an gymnastischen Geräten

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17. Oktober 2014

LITERATURVERZEICHNIS HEFT 42/2014, ZU:

ERSTER WELTKRIEG 1914–1918

„Keine Wohltat, sondern Arbeit für verkrüppelte Krieger“

Die medizinische Versorgung von Kriegsversehrten im Ersten Weltkrieg.

Philipp Osten

LITERATUR

1. Stadtarchiv Heidelberg, Bestand 171 Fasc. 1.

2. Thomann KD: „Es gibt kein Krüppeltum, wenn der eiserne Wille vorhanden ist, es zu überwinden!“ Konrad Biesalski und die Kriegsbeschädigtenfürsorge. Medizinisch- orthopädische Technik 1994; 114:

114–21.

3. Eckart WU: Medizin und Krieg: Deutsch- land 1914–1924. Paderborn: Schöningh 2014; 303.

4. Biesalski an den Geheimen Ober-Medizi- nalrat Dietrich v. 21.8.1914. Archiv Oskar Helene Heim, Akte Biesalski 1914, unpa- giniert.

5. Spitzemberg L: Telegramm der Kaiserin.

Zeitschrift für Krüppelfürsorge 1914; 7:

267.

6. Biesalski K: Aus der Deutschen Vereini- gung. Zeitschrift für Krüppelfürsorge 1914; 7: 268–9.

7. Wissell R: Die Renten unserer Kriegsbe- schädigten. Berlin 1916; 8.

8. Ebendort; 51.

9. Frank L [ anonym veröffentlicht]: Die Kriegskrüppel. Ohne Orts-, Verlags- und Jahresangabe [1917].

10. Biesalski K: Wer ist der Führer in der ge- samten Fürsorge für unsere heimkehren- den Krieger? Zeitschrift für Krüppelfürsor- ge 1915; 8: 14–9.

11. Riegler H: Siedlungsmöglichkeiten im Deutschen Urwald. Zeitschrift für Krüppel- fürsorge 1918; 11: 158–62.

12. Die Patienten der Stadthalle: Räumung der Stadthalle. In: Heidelberger Zeitung vom 19. Juni 1919; 4.

13. Häberle D: Verwaltungsbericht der Wirt- schaftsabteilung des Roten Kreuzes in der Reservelazarett-Abteilung XVIII (Stadthalle) für die Zeit vom 1. August 1918 bis 31.

Dezember 1919. Mit Schlussbericht vom 31. Mai 1920. Heidelberg 1920.

Referenzen

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