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Schriftenreihe der Forschungsgruppe "Große technische Systeme" des Forschungsschwerpunkts Technik - Arbeit - Umwelt am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung FS I I 94-507

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Academic year: 2022

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des Forschungsschwerpunkts Technik - Arbeit - Umwelt am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

FS I I 94-507

Fernschreiber im Gesprächs

Kommunikation braucht Geschichte(n) Unterhaltungen im Inter Relay Chat

Gerald Wagner

Zur Veröffentlichung vorgesehen in: Ingo Braun (Hg.), Zwischen den Netzen, Berlin: edition sigma 1994.

Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung gGmbH (WZB) Reichpietschufer 50, D -10785 Berlin

Tel. (030)-25 491-0 Fax (030)-25 491-254 od. -684

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Zusammenfassung

Das Internet Relay Chat (IRC) ist das weltweite Gesprächsforum des Internet. Als Kom­

munikationsmedium beschränkt sich das IRC auf den Austausch von Schrift. Durch die Benutzung von ’Nicknames' erlaubt das IRC seinen Teilnehmern eine weitgehende Anonymität. In der Forschung zur computer-vermittelteii-Kommunikation (CMC) wird solchen Kommunikationsprogrammen unterstellt, daß sie nur geringe soziale Kohärenz ermöglichen. Wegen der Anonymität der Gesprächsteilnehmer geht die Forschung auch von einer geringen sozialen Verantwortlichkeit der Teilnehmer aus. Beiden Positionen wird in diesem Beitrag widersprochen. Empirische Untersuchungen der Kommunikation im IRC zeigen vielmehr, daß sie sehr viel Emotionalität und soziale Verbindlichkeit ermöglichen kann.

Communication Needs Stories: Chatting on Internet Relay Chat

Abstract

Internet Relay Chat (IRC) is the global communication-program of Internet. As a communication program IRC consists of written speech only. The use of nicknames allows IRC users to hide themselves behind anonymity. Computer-mediated- communication research usually claims that such programs do not allow a wide range of socioemotional exchange and responsibility among users. Both assertions are challenged in this article. The author uses empirical findings to validate the theoretical perspective.

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Es war schon immer ein beliebter Spott der Misanthropen, die Enthusiasten des technischen Fortschritts auf dem Gebiet des zwischenmenschlichen Austauschs mit kleinlichen Fragen zu ärgern. Wozu denn all die Verbindungen, die Be­

schleunigung, die Vervielfältigung der Kommunikation, wenn sich die Menschen gar nichts zu sagen haben?

Hinter solchen Sottisen stecken durchaus emstzunehmende Fragen an jede Form

»vermittelter« Kommunikation. Seitdem über Kommunikation gestritten wird, wurde nicht-vermittelte Kommunikation als die »eigentliche« den vermittelten Formen gegenübergestellt. Meistens wird das Defizit der Vermittlung in der Aus­

schaltung der körperlichen Anwesenheit der miteinander Sprechenden gesehen.

Diese Vorbehalte haben sich bis auf unsere Tage nicht nur in den zähen Debatten um die Bestimmung des Sozialen in der Interaktion oder der Kommunikation fortgesetzt. Man findet sie beispielsweise in den Einwänden wieder, die gege­

nüber sozialwissenschaftlichen Forschungsmethoden wie dem telephone-inter­

viewing vorgebracht werden (vgl. Frey 1983; Frey/Kunz/Lüschen 1990). Sie tau­

chen aber auch dort auf, wo umgekehrt eben diese Formen vermittelter Kommu­

nikation als Befreiung von all den Zwängen gefeiert werden, die der »tradierte«

Austausch den Kommunikationspartnem auferlegt: Die Distanz der Partner, die Objektivität der Schrift gegenüber der Rede, die Anonymität des Telefons gegen­

über der Intimität unter Anwesenden - diese Defizite gelten als die entscheiden­

den Bedingungen "entgrenzter Kommunikation".

Beim Internet Relay Chat (IRC) handelt es sich um einen extremen Fall der vermittelten Kommunikation, da oft noch nicht einmal eine geringe Chance be­

steht, daß sich die Gesprächspartner von Angesicht zu Angesicht gegenübersitzen werden. Das IRC funktioniert wie eine Telefonkonferenz mit beliebig vielen Teilnehmern. Es ist, wie der Name schon sagt, ein Schwätz-Programm, oder technisch exakt: Eine Software, die auf einigen hundert Großrechnern (meistens von Universitäten) weltweit installiert ist. Sie ermöglicht, über das diese Rechner verknüpfende Internet miteinander zu plaudern.1 Die Art und Weise dieser Kom­

munikation ist selbst in unserer sogenannten »Informationsgesellschaft« ohne Parallele. Mir ist jedenfalls kein weiteres Beispiel einer schriftlichen, simultan ablaufenden Kommunikation unter mehreren Nichtanwesenden bekannt, die eben­

falls eine eigene Kultur hervorgebracht hätte.

1 Das IRC ist selbst kein Netz, sondern eine Software. Weil es einfacher ist, werde ich trotzdem im folgenden auch vom IRC als dem Netz sprechen.

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Es gibt verschiedene technische Zugangsmöglichkeiten zum IRC - man kann es mit einem Mac machen, mit einem PC, einem UNIX-Rechner oder einem C-64- Homecomputer. Machen wir's mit einem PC: Wir brauchten einen 386er-Prozes- sor und einem Arbeitsspeicher von vier Megabyte. Mit einer Festplatte von 80 Megabyte und einer VGA-Graphikkarte mit passendem Bildschirm sind wir eben­

falls ausgerüstet. An Software brauchen wir nur die neueste Windows-Version und ein Terminal-Programm, wie etwa Procom für Windows. Dann natürlich ein Modem, das mindestens eine Übertragungsgeschwindigtkeit von 2400 bit/sec besitzen sollte. Der Telefonanschluß ist ja im allgemeinen vorhanden.

Das Netz der Telekom ist auch schon da, es verbindet uns mit einem Großrech­

ner, bei dem wir über eine Zugangsberechtigung verfügen. Die technischen Details dieser Anlage ersparen wir uns, darum kümmern sich meistens die Betrei­

ber eines universitären Rechenzentrums, die uns großzügig ein wenig von ihrer Rechenkapazität für schriftliche Gespräche überlassen. Der Großrechner ist dann Wieder über das Internet mit einigen Tausend anderen Großrechnern verbunden.

Wir setzen nun voraus, daß wir mit diesen unverzichtbaren technischen Mitteln versiert umgehen können, daß wir zumindest Gnmdkenntnisse in Betriebssyste­

men wie VAX/VMS oder UNIX haben, und daß wir flüssig die englische Schrift­

sprache beherrschen. Wenn wir über alle diese Voraussetzungen verfügen, kann es auch schon losgehen!

Aber was heißt hier schon das IRC ist offensichtlich ein Medium, dessen Benut­

zung sehr vieles voraussetzt: viele technische Dinge und viel technisches Wissen.

Als ob man zum Lesen eines Buches nicht nur lesen können müßte, sondern auch das Schreiben, die schwarze Kunst und das Buchbinden beherrschen müßte, samt den dafür benötigten Wekzeugen und Gerätschaften. Noch (!) ist das IRC ein Medium für Spezialisten und Abenteurer, für Verwandte der einstigen Auto- und Flugzeugpioniere. Die IRC-Nutzer bilden also eine eigene Szene und wer dazu gehören will, muß eben auch etwas mitbrmgen. Und wie in allen Szenen ist man auch hier lieber unter sich.

Sind die technischen. Zugangsbarrieren beiseite geräumt, sollte man nicht zu viel erwarten - ein Plaudern in der Einöde vernetzter Bildschirme. Der Aufbau des IRC gestattet nämlich nur eine Gesprächssituation, die gelinde gesagt als eine kommunikative Wüstenei beschrieben werden muß. Wir haben nichts als Schrift, die ein wenig semiotisch aufgepeppt wird. Wir erfahren dann noch durch Mel­

dungen des Systems von den Netzaktivitäten der Teilnehmer, die sich ein- oder ausgeloggt, diesen oder jenen Kanal betreten haben oder vom Operator »gekillt«

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worden sind.2 Und schließlich können wir noch das System fragen, welche E- Mail-Adresse sich hinter einem Spitznamen verbirgt: Wer im IRC mitreden will, tut dies unter einem zuvor gewählten Spitznamen. Die E-Mail-Adresse ist die Adresse des Rechners, über den der Teilnehmers sich ins Internet eingeloggt hat.

Aber was ist schon eine solche elektronische Adresse: Sie gibt lediglich einen un­

gefähren Hinweis auf die Position im Netz, das heißt auf das Land und die Universität, in dem sich der Teilnehmer befindet. Der Name in der E-Mail- Adresse ist wieder eine frei wählbare Spitznamen-Maske. Die Adresse selbst ist unter Umständen gefälscht.

Das ist eigentlich alles, was man von den anderen Teilnehmern erfahren bzw.

voraussetzen kann, was der Einzelne von sich preisgibt, ohne daß es von ihm oder ihr selbst geäußert wird. Alles andere entfällt 'bzw. muß durch Kommunika­

tion in das Netz hereingeholt werden. Natürlich sind gewisse Annahmen berech­

tigt, die das Sozialmilieu der Nutzer betrifft. Man kann annehmen, es meistens mit Studenten, Wissenschaftlern und anderen Mitarbeitern von akademischen Einrichtungen zu tun zu haben. Man kann einander eher voraussetzungsvolle Kenntnisse im Umgang mit und Zugang zu Computer-Technologien unterstellen.

Man wird auch annehmen, daß das Alter der IRC-Teilnehmer meistens zwischen 16 und 35 liegt. Viel mehr an sozialer Homogenität wird man jedoch von den Teilnehmern kaum erwarten können.3 Ein typisches Stück IRC-Geplauder sieht zum Beispiel so aus:

(1) *** apoll has joined channel #taipei

(2) *** Users on #taipei: apoll Pan ye ©mocca onee ©bird ecu ©ucc

(3) ©CCUBot ©Jimmie

(4) ©babie ©amughal ©Didabot ©IlSrv ©TaiSrv (5) *** melier has joined channel #taipei (6) <Jimmie> babie there?

(7) *** signoff: Jimmie (jimmie@captaintaz.engin.umich.edu)

2 "Operators" sind die Manager des jeweiligen IRC-Kanals, die mit gewissen exekutiven Pri­

vilegien ausgestattet sind. Sie können zum Beispiel andere Teilnehmer aus einem Kanal her­

auswerfen (i.e. "killen").

3 Piirtos (1993) Ergebnisse bei ihrer Studie zu den soziodemographischen Merkmalen der Internet-Benutzer sind wenig überraschend: "Overall, online subscribers are an educated, afflu­

ent group, compared to the general U.S. population." (Piirto 1993: 108) Und: "Males predomi­

nate in the world o f online computer services and the three forums varied only slightly as to the size o f the male majority." (Piirto 1993: 63)

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(8) <babie> jimmie yes

(9) *** ye has left channel #taipei

(10) <mclier> waaa.... nobody knows me in taiwan :)) (11) <Weak> yo, so many ppl I)

(12) <ccu> babie: w h t 's up ? (13) <mclier> weak: really??

(14) <onee> h m . ,

(15) <Weak> m e lier:yes, more than #chinese and #heart (16) *** apoll has left channel #taipei

(17) *** channel Users Topic

*** Channel Users Topic

*** #1 3

* * * #nt 3

f r f r f r #mine 4

f r f r f r

#banking 5

f r f r f r #libido 7

f r f r f r #drugs 6

PPI is finally published!

I sleep with scientists!!!!

Hierzu einige Erläuterungen:' In Zeile l begibt sich »Apoll« in den Kanal #taipei, benannt nach der Hauptstadt von Taiwan. Die Zeilen 2-4 informieren Apoll dar­

über, wer sonst noch im Moment in #Taipei ist. In Zeile 6 fragt Jimmie nach babie, die (oder der, wir wissen das nicht) hier wohl gewöhnlich zu finden ist. Da sich babie . nicht gleich meldet, verläßt Jimmie den Kanal (7). Dabei erfahren wir seine elektronische Post-Adresse: Offensichtlich ist er an der University o f Mi­

chigan (uraich) zu finden (»edu« ist die Bezeichnung für das US-amerikanische Universitäts-Netz). Pech für Jimmie: Babie war doch da (8). Die Zeilen 10-15 geben dann ein Stück Konversation wider. In 16 verläßt Apoll den Kanal wieder, und läßt sich in Zeile 17ff. eine Übersicht geben über andere Kanäle, die Anzahl von dort Anwesenden und ihre »Topics«.

2, Interaktion in kommunikativen Wüsten

Ich nannte oben das IRC eine »kommunikative Wüstenei«. Es fehlt im IRC vie­

les, was in anderen Situationen sozialen Austausches vorhanden ist: Es fehlen die vielfältigen Möglichkeiten nonverbaler Kommunikation, es fehlen also alle physi­

schen Zeichenträger. Solche Zeichenträger können zur Informationsübertragung

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dienen (ein Schulterzucken), oder auch als soziale Ordnungsfaktoren: eine Kirche gebietet das Senken der Stimme - wenn man weiß, daß man in einer Kirche ist und wenn man dieses soziale Gebot des Sakralbaus anerkennt. Wir lesen in sol­

chen Kontexten, und stellen uns auf sie ein (wir sind das, wozu uns ein Kontext macht), bevor auch nur ein einziges Wort gesprochen wurde.4 Der Computer und das Netz erlauben mir zwar erst den Kontakt zum Anderen, stehen aber natürlich auch zwischen uns und verhindern alles, was nicht zu einer schriftlichen Mittei­

lung gemacht werden kann.

Die Vermutung liegt nahe, daß unter solchen Bedingungen Intersubjektivität sehr schwierig herzustellen sein wird. Die Soziologie hat allerdings ihr Standardmodell von Intersubjektivität und Kommunikation so voraussetzungsvoll angelegt, daß bereits der soziale Umgang im alltäglichen Leben die Frage provoziert, wie so etwas denn überhaupt funktionieren kann: Interagierende Subjekte, die ein refle­

xives Verhältnis zu sich selbst haben und "als Quellen eigenselektiver Interpreta­

tionsleistungen und Verhaltensweisen in Betracht gezogen werden müssen"

(Geser 1989: 232), woraus wiederum das Bewußtsein resultiert, daß diese Ver­

haltensweisen Gegenstand von Fremderleben und Fremddeuten sind.

Der Vorteil dieses voraussetzungsreichen Modells ist jedoch, "daß die Probleme, die mit der Konstituierung sozialer Handlungen, Interaktionen, Erwartungen und Systembildungen verknüpft sind, mit unübertroffener Schärfe thematisiert werden können." (Geser 1989: 323) Wenn man davon 'ausgeht, daß es' so etwas wie

"elektronische Gemeinschaften" im Medium computervermittelter Kommunika­

tion gibt, wäre gerade im Fall des IRC "das Entstehen sozialer Prozesse und Strukturen unter den äußerst erschwerten Bedingungen zu erklären, daß die Teil­

nehmer ... nur zu ihrem eigenen innerpsychischen Erleben einen unmittelbaren Zugriff haben, zum Fremderleben der jeweils anderen aber auf nur indirekte, ge­

brochene und höchst selektive Weise Zugang finden: durch die Beobachtung von Verhaltensweisen, die der fremden Subjektivität als Ausdruckskundgaben zuge­

rechnet werden." (Geser 1989: 232) Das IRC verdeutlicht dabei jedoch nur einen Aspekt jeder Kommunikation. Das gesprochene oder geschriebene Wort verweist eben nur auf das »Draußen« der Sprache oder das psychische Erleben, es kann Welt nur "repräsentieren". Auch das Reden im IRC ist in spezifischer Weise

»objektlos« - und wenn es das nicht wäre, wäre es keine Kommunikation. Hierzu ein literarisches Beispiel:

4 Das gilt natürlich auch für die Binnenwelt des Internets (vgl. den Beitrag von S. Helmers in diesem Band.)

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In den Reisen des Lemuel Gulliver läßt Jonathan Swift seinen Helden die große wissenschaftliche Akademie des Landes Balnibari besuchen. An der dortigen Fa­

kultät für Sprachen denkt man über ein Projekt nach, das diese Eigenart von Kommunikation deutlich macht: Aus Gesundheitsgründen und um Zeit zu sparen, sollen dort die Wörter abgeschafft werden, da sie ja doch nur Bezeichnungen für Dinge seien. Es sei deshalb "zweckdienlicher", so Swift, "wenn alle Menschen die Dinge bei sich führten, die zur Beschreibung der besonderen Angelegenheit, über die sie sich unterhalten wollen, notwendig seien." Unbequem an diesem Projekt, sich mittels der Dinge zu äußern, sei nur, "daß jemand, dessen Angele­

genheiten selir umfangreich und von verschiedener Art sind, ein entsprechend größeres Bündel von Dingen auf dem Rücken tragen muß, falls er es sich nicht leisten kann, daß ein oder zwei starke Diener ihn begleiten." Die Professoren glauben in ihrer Idee gar den Ansatz einer Universalsprache gefunden zu haben.

Man würde sich damit "in allen zivilisierten Nationen verstehen können, deren Waren und Gerätschaften im allgemeinen von gleicher Art oder so sehr ähnlich sind, daß man ihren Gebrauch leicht begreifen könnte." (Swift 1974: 262f.)

Das Projekt der bataibarischen Gelehrten ist als Satire auf die Wissenschafts­

euphorie des 18. Jahrhunderts geschrieben worden. Mit Blick auf das IRC ist zumindest ein Aspekt des Projekts einer »Universalsprache« nicht mehr ganz so absurd. Anscheinend können sich hier Angehörige "aller zivilisierten Nationen verstehen", weil ihre "Waren und Gerätschaften" in Gestalt der technischen Kommunikationsvoraussetzungen (PCs, Modems, Software, technische Standards etc.) heute tatsächlich "im allgemeinen von gleicher Art oder so sehr ähnlich sind, daß man ihren Gebrauch leicht begreifen könnte" oder in naher Zukunft begreifen könnte, denkt man an den eingangs beschriebenen und einstweilen noch recht umständlichen Zugang zum IRC. Bevor sich die Teilnehmer in ihrer ganzen Ver­

schiedenheit im IRC miteinander unterhalten können, müssen sie sich der tech­

nisch erforderlichen Vereinheitlichung ihrer Kommunikationsmittel unterwerfen.

Globale Kommunikation setzt in dieser Hinsicht große Homogenität der Teilneh­

mer voraus - das verbindet sie einerseits zu einer weltweiten »Internet-Kultur«.

Andererseits wirft diese Kommunikationsform das Problem auf, wie der Teilneh­

mer seine Individualität einbringt und wie er im IRC "jemand" wird. Das ist die moderne Version der Frage der balnibarischen Gelehrten, wie man seinen "beson­

deren Angelegenheiten" in einer marktförmigen Gesellschaft Gehör verschafft, in der normalerweise Menschen sehr verschieden sind und Verständigung entspre­

chend schwierig ist.

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Wer im IRC mitreden will, muß jedoch mit leichtem Gepäck reisen. Nicht einmal ein kleines "Bündel von Dingen auf dem Rücken" kann er ins IRC mitnehmen.

Demi während Kommunikation in Balnibari ausschließlich über Dinge funktionie­

ren sollte, muß sie im IRC ausschließlich über Buchstaben abgewickelt werden.

Für ein solches Sprechen (Schreiben) kann eben genau das nicht gelten, worin Michael Baxandall die Legitimität der Kunstkritik begreift: Das Sprechen über ein Kunstwerk geschieht im allgemeinen unter Anwesenheit des Kunstwerkes (zu­

mindest in der Form einer Reproduktion), die Sprache der Kunstkritik ist osten- siv, ihre Äußerungen sind immer auf ein Artefakt bezogen und an diesem auch unmittelbar überprüfbar (Baxandall 1990: 34f.). Diese Ostensivität der Sprache fehlt im IRC vollständig: Die Selbstbeschreibung, die mir jemand von sich selbst gibt, der an einem Terminal in Kapstadt sitzt, und von dem ich nur seinen Spitz­

namen "CyberAcid" kenne, hat diesen ostensiven Mangel: Es ist niemand anwe­

send, an dem diese Beschreibung überprüfbar wäre.

Das sollte allerdings kein Anlaß sein, die im IRC konstruierte Wirklichkeit wegen Ostensivität und Objektlosigkeit als nur virtuell oder als nur scheinhaft zu be­

zeichnen und sie damit ontologisch abzuwerten, hn IRC macht es keinen Sinn, Wirklichkeit als komparative Kategorie zu verstehen und Wirklichkeitskonstmk- tionen also mit dem Index "mehr oder weniger real" zu versehen. Es geht hier nicht um die Trivialität, daß wir alle in unserem Alltag "Realisten" sind und sein müssen, das heißt die Wirklichkeitsbezüge von Wahrheit und Lüge, von Gegen­

stand und Bild, von Tschernobyl und Computersimulation, von Dallas und Tages­

schau unterscheiden können.

Es geht vielmehr darum, worin sich eine Lüge und etwa ein Roman unterschei­

den: Letzterer verbirgt im Prinzip die "Virtualität" seines Inhaltes gar nicht (das unterscheidet die Literatur von der Lüge) - es spielt für den Gebrauch eines Romans auch keine Rolle, obwohl Literatur nur "funktioniert", weil man bei ihrem Gebrauch die Fiktionalität ständig vergißt und das Gelesene als etwas Wirkliches für sich in Anspruch nimmt Ein schlechter Roman ist deshalb einer, bei dessen Lesen dieses Vergessen nicht gelingt. Wenn die Lektüre spannend ist, wenn man mit den Figuren mitleidet, wenn man wissen will, wie die Geschichte weitergeht etc. - was interessiert dann noch die Feststellung, daß alles nur "im Buch" passiert ist?

Das gleiche gilt nun, so meine These, für das IRC. Auch dieses Medium funktio­

niert nur, weil in seinem Gebrauch Virtualität nicht jene Rolle spielt, die sie beim Lügen einnimmt. Im Alltag gilt: Du sollst nicht lügen. Im IRC gilt: Du kannst

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schon lügen und Realität vortäuschen, wenn die vorgetäuschte Wirklichkeit inter­

essanter, lustiger, attraktiver oder schöner ist als deine "reale Wirklichkeit". Aber es ist für den Gebrauch des IRC auch nicht wichtig, worauf deine Äußerungen verweisen. Weil es ohnehin nicht überprüfbar ist, was der andere sagt, lassen sich alle Teilnehmer auf eine Kommunikation ein, die ohne diese Möglichkeit aus­

kommt (das unterscheidet sie von der Alltagskommunikation) - und auskommen kann! Dies ist der Ausgangspunkt des IRC.

Daß Medientheoretiker solche Welten gerne virtuell nennen, liegt zum Teil daran, daß §ie zu nachlässig unterscheiden: Mit dem Epitheton »virtuell« werden etwa von Bolz (1993a) so verschiedene Dinge wie Technologien (Cyberspace, virtual reality etc.), Computemetze, Science-Fiction-Literatur, sowie deren Inhalte und Wirkungen auf den Benutzer ausgezeichnet (vgl. Bolz 1990 und 1993b). Es mag sein, daß man mit Blick auf die Karrieren von elektronischen Medien und Com­

putertechnologien von einer Destabilisierung der Kategorien Schein und Wirk­

lichkeit sprechen kann. Vor den destabilisierenden Wirkungen dieser Medien auf die sich mit ihnen beschäftigenden Theorien kann man allerdings nur warnen, ln diesem Sinne vergleicht Tom Shippey den Cyberspace der Medientheoretiker mit dem Phänomen der Postmodeme: "Cyberspace appears a terribly postmodernist phenomenon. It does not exist either." (Shippey 1993) Dennoch, so Shippey, sind bereits viele Menschen davon überzeugt, darin zu leben. Cyberspace ist vielmehr eine konsensuelle Halluzination als eine funktionierende Technologie - als das hat Gibson ihn ja auch ursprünglich bezeichnet.

Ich distanziere mich also von der Rhetorik des Virtuellen (und mehr ist es auch nicht), weil ein Verständnis der modernen Gesellschaft ohnehin ohne sie aus­

kommen muß. Differenzierte Sozialordnungen müssen auf die Überprüfbarkeit der wechselseitigen Realitätsunterstellungen verzichten können, wenn sie ein ein­

faches Komplexitätsniveau überschreiten wollen. Die Gesellschaftsmitglieder durchschauen daran, so Luhmann, "die durch Arbeit an Symbolen konstituierte Welt des sozialen Kontakts als hergestellten Schein - aber als Schein, der für die Fortsetzung der Kontakte eine tragfahige Grundlage abgibt, sofern jedermann die Spielregeln beachtet und an der Erhaltung der Darstellung vertrauensvoll mit­

wirkt." (Luhmann 1973: 74) Allerdings weiß auch Luhmann vom verblassenden Wert der Entgegensetzung von Sein und Schein seit dem berühmten Diktum von W. I. Thomas, nach dem eine Situation, die als real definiert werde, real sei in ihren Folgen: "Die Wirklichkeit symbolisch dargestellter Identitäten ... ist sicher in besonderer Weise störempfindlich. Aber letztlich ist jede Wirklichkeit zerstör­

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bar. Das allein ist noch kein Grund, das Zerstörbare als Schein und das Zerstö­

rende als Sein einzustufen." (Luhmann 1973: 74)

Man könnte das IRC von daher als einen Roman bezeichnen, an dem viele Auto­

ren oder enunciators5 mitschreiben - ein interaktives Artefakt6, das ständig das Kunststück fertigbringen muß, seine Leser (die gleichzeitig seine Autoren sind) zum Weiterschreiben und Weiterlesen zu motivieren, sie eine zusammenhängende Geschichte produzieren zu lassen und so Wirklichkeit zu erzeugen im Sinne von etwas, das Wirkung hat. Dieser Zusammenhang kann durchaus sehr locker ausfal- len (manche Autoren kennen sich gar nicht, andere begegnen sich in ihren Ge­

schichten seit Jahren täglich), aber er wird nie ganz abreißen können, ganz ohne Kontinuitäten auskommen. Was jemand in dieser Geschichte ist, ergibt sich aus seinem bisherigen Engagement, aus dem sich auch sein zu erwartendes Weiterle­

ben im IRC ergeben wird.

Die ostensive Schwäche der IRC-Kommunikation stellt allerdings für diese Ge­

schichten ein nicht geringes Hindernis dar. Kommunikation kann nur funktionie­

ren, wenn sie auf das Funktionieren vielfältiger Entlastungen vertrauen kann. Zum Beispiel braucht sie Personen, die immer wieder als dieselben angesprochen wer­

den können. Diese Personen brauchen eine Geschichte, an die man immer wieder anknüpfen kann. Die Kommunikation braucht auch Orte, die sich sozial (wer sich dort aufliält) und sachlich (worüber da geredet wird) nur langsam verändern. Man braucht also eine ganze Reihe verschiedener sozialer »Gedächtnisse«, um nicht immer wieder von vorne anfangen zu müssen.7

Im Titel dieses Beitrags heißt es deshalb: Kommunikation braucht Geschichte(n) - die Geschichte(n) einer gemeinsamen Kultur, die wiederum die Voraussetzung für weitere Kommunikationen, für weitere Geschichten ist. Sie braucht nicht not­

wendig die Anwesenheit dessen, worüber gesprochen wird. Die sozialen Ge­

dächtnisse, die ich oben aufgezählt habe, sind sämtlich Eigenprodukte der Kom­

munikation im Netz. Das IRC existiert nur zeitlich in der Gestalt dieser selbstge­

schaffenen Welt. Es braucht dazu allerdings auch die Speichermöglichkeiten ganz

5 Nach Latour "a general w ord for the author o f a text or for the mechanics who devised the machine.” Dieser enunciator "is free to place or not a representation o f himself or herself in the scripts (texts or machines)." (Latour 1988: 304)

6 Ein Begriff von Lucy Suchman (1987).

7 Italo Calvino hat einmal (in seinem Roman Wenn ein Reisender in einer Wintemacht) ver­

sucht, einen Roman zu schreiben, der aus lauter Anfängen besteht: Keine der Geschichten darin wird fortgesetzt, der Leser wird ständig mit dem enttäuschenden Erlebnis konfrontiert, wie die Schöpfungen des Autors verschwinden, kaum daß er mit ihnen bekannt geworden ist. Man liest weiter, weil Calvino immer wieder eine neue Geschichte anbietet.

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anderer Medien: Hardware, Software, Programmiersprachen, Technische Nor­

men, »concrete, nuts and bolts«, Leitungen, Satelliten, Sprachen, Bücher, Ge­

brauchsanleitungen. Diese wiederum verweisen auf organisatorische Speicher wie die Telekom und die Universitäten, die den Betrieb solcher Netze überhaupt erst ermöglichen. Bei alledem geht es um die Wiedererkennbarkeit (von Personen), Wiederverfiigbarkeit (von früheren Ereignissen) und Wieder-in-Anspruch-Neh- men (von Sachen) - kurzum um die Frage, wie dem Erlebnisfluß des IRC Identitä­

ten eingeprägt werden.

3. Selbstdarstellung in com putervermä Weiter Kommunikation

In der Forschung zum IRC und ähnlichen Formen von computervermittelter Kommunikation8 wird häufig die These vertreten, daß die Unmöglichkeit, die Wahrheit des Gesagten zu überprüfen, kommunikative Freiheiten und Spielräume schafft, die die verantwortliche Selbstdarstellung auflösen, die wir im Alltag voneinander wechselseitig erwarten. Hinter dieser These steht ein eher schlichtes Modell des Sozialen. Ihm liegt die Vorstellung zugrunde, daß die Einhaltung sozialer Normen von der persönlichen Erkennbarkeit des Individuums abhängt.

Im Schutz der Anonymität des IRC jedoch läßt der Biedermann seinen niedrig­

sten Instinkten oder wenigstens seinen geheimsten Wünschen, freien Lauf: Er übt sich in Schmähungen und Zoten, oder flaniert durch das IRC im bunten Wechsel der »Ich-Kostüme«.

Die ergiebigste Studie in dieser Perspektive stammt von Reid (1991). Für sie ist das IRC erstens ein Anlaß, die Verengung der bisherigen Forschung zu Compu- ter-Mediated-Communication (CMC) auf kommerzielle Anwendungen innerhalb von Organisationen zu überwinden - eine mittlerweile eingelöste Forderung. Das IRC gibt ihr Gelegenheit, die Annahme zu widerlegen, CMC sei "not conductive to emotional exchange" (Reid 1991: 5). Da jedoch zweitens das Medium die

»Bandbreite« der Kommunikation selbst bestimmt, erlaubt es auch nur "less social presence." Reids Studie verfolgt dann zwei Fragen: Reduziert diese Schwäche die Kommunikationschancen, oder erzeugt das Medium seine eigenen Gegenmittel?

8 Die Forschungsrichtung Copiputer-Mediated-Communication hat vor allem im angelsächsi­

schen Raum bereits eine kaum noch übersehbare Literatur hervorgebracht. Hier werden Kom- mutiikationsformen untersucht, an deren Zustandekommen Computer einen notwendigen An­

teil haben. Eine Auswahl: Chesebro/Bonsall (1989), Rice/Love (1987), Kiesler/Sproull (1986), Kiesler/Sproull (1991), Danowski (1982), Freeman (1980), Hiltz (1983), Kiesler/Siegel/

McGuire (1984), Myers (1987), Turkle (1982), Turkic (1984).

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Es war bisher ein Topos der CMC-Forschung, "that computers have come out of the cold and impersonal end of social presence scales." (Piirto 1993: i; Reid 1991:

4; Vincent 1992: 13) Reid nennt daher vier Eigenarten von CMC: "An absence of regulating feedback, dramaturgical weakness, few social status cues and social anonymity." (Reid 1991: 14) Die medialen Schwächen macht auch Piirto fiir die­

sen Topos verantwortlich: "Anonymity caused by channel limitations has been identified as the problem. ... Some researchers have suggested that CMC deper­

sonalizes communication, causing more uninhibited behavior, greater assertive­

ness and less regard for others. ... The uninhibited nature of CMC has been a long-standing finding throughout the literature." (Piirto 1993: 14f.) Aber es gilt mittlerweile - gerade bezüglich des IRC - auch die Gegenthese: "Additional re­

search has established that despite the channel limitations much of CMC content is socioemotional." (Piirto 1993: 19)

Die Studien von Piirto, Reid und Vincent treffen sich daher in dem Versuch, das IRC und ähnliche Kommunikationsformen »sozial aufzuwerten«, ihm Gemein­

schafts- und Kulturfälligkeit zu attestieren - was im folgenden auch meine Absicht ist. Am prägnantesten Piirto (1993): "This study will adopt the view that it is more useful to look at how motivated users overcome channel limitations, to what extent they are connecting and establishing social systems apart from the off-line world and the uses and gratifications CMC users report from using commercial online networks." (Piirto 1993: 21)

Beginnen wir mit dem Thema Selbstdarstellung und Identität: "IRC is essentially a playground." (Reid 1991: 6) Das IRC ist ein Feld fur Experimente mit Formen von Kommunikation und Selbstdarstellung im Schutze der Anonymität. Anonym heißt: Der Autor oder die Autorin der Person »im Netz« bleibt fiir die anderen Autoren des IRC verborgen. Doch wie anonym ist das IRC wirklich? Reid meint:

"The users know little about each other, and that little is open to manipulation by the user." (Reid 1991: 14; vgl. Vincent 1993: 14)

Es sind hier verschiedene Manipulationsmöglichkeiten denkbar: Es gibt drei un­

bekannte Größen: Die reale Person, nennen wir sie "J. Sanders", seine Spitz­

namenexistenz im IRC, nennen wir eine davon "Starbuck" und die Beiträge von

"Starbuck" im Netz. Nach Reid sind die beiden letzteren Größen gleichermaßen manipulierbar fiir J. Sanders: Als Teilnehmer könnte J. Sanders seine Spitznamen fast beliebig ändern. Doch selbst wenn J. Sanders immer Starbuck wäre, könnte er als Starbuck immer noch beliebige Rollen einnehmen, beliebig oft seine Selbst­

beschreibungen variieren. Schließlich kann sich J. Sanders auch in mehreren

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Kaiiälen gleichzeitig unter jeweils anderen Spitznamen an der Produktion von Geschichten beteiligen.

Was wir also im Netz von Starbuck wissen, wenn wir etwas Bestimmtes wissen, steht in einer nichtüberprüfbaren Beziehung zu J. Sanders: Sie können identisch sein - oder auch nicht. Aber interessiert das irgendjemanden im Netz selbst? Ist diese Möglichkeit der Selbstmanipulation ein Thema im IRC?

Reids Beschreibung des IRC als "play-ground" wird von ihr in einer These über den Zusammenhang von Anonymität und Selbstdarstellung verdichtet: "In the IRC it becomes possible to play with identity." (Reid 1991: 15) Dieses »Identi­

tätsspiel« stand bisher im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, mit der das IRC von sozialwissenschaftlicher Seite bedacht wurde. Reid nennt besonders das "gender- switching" als "one o f the most fascinating aspects o f this computer-mediated flu­

idity of cultural boundaries." (Reid 1991: 15) Das Spiel eröffnet zwei mögliche Szenarios: das anarchische "Szenario der Amoralität" und das der "Verantwor­

tung". Reid konzentriert sich auf das anarchische Szenario: "IRC encourages dis- inhibition ... CMC is less bound by conventions than is face-to-face interaction.

We see a lack o f self-regulation." (Reid 1991: 17) Auch Vincent (1992) be­

schwört dieses Szenario herauf: "IRC is an amoral system of communication."

(Vincent 1992: 15) Ich möchte im folgenden eine Beispiel für ein solches Ge­

spräch auf dem Kanal #hotsex geben - auch wenn meiner Erfahrung nach so etwas im IRC sehr selten ist. Es geht dabei um das provozierende Verhalten einer Person namens Lila, die von den Anwesenden zunächst für eine Frau gehalten wird:

*** lila has joined channel #teensex

*** Users on #teensex: lila BuzzKill robi @Keg ©Fooke

©Tickler

<Fooke> hey lila

<BuzzKill> nobody wants me- should I stay or should I go now?

<lila> hey buzzkill: I want U

<BuzzKill> Take me then

<BuzzKill> I am yours lila

<lila> ok Buzz: Why don't we do it in the road?

<BuzzKill> u a r e a female I hope

<lila> Buzz: find out ...

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<BuzzKill> sure- in a car- or just the asphalt?

<lila> hey fooke: wanna join us?

* Keg is proud to announce he has NEVER done it in a car

<lila> no, not on the asphalt, U get these little stones everywhere

<Fooke> lila...no, thanks anyways.

<lila> ok Fooke, u will never know what u missed

<BuzzKill> Yeah- but the pain only adds pleasure

*blak* lila: are u m/f ?

<Fooke> lila....as liberated as I am I feel no need to have netsex ... especially with other women.

<BuzzKill> I am man- Take me Fooke

<Keg> Fooke.. Netsexxing is childish.. If I wanna turn someone on, I do it in person (Hard to do when, im in Aust)

<lila> ok Fooke: you are soooooo liberate that it is a scream

<Fooke> keg...i agree

<BuzzKill> I am gonna leave if I d o n ’t get some soon from Lila or Fooke

<Fooke> ya ain't gettin any from fooke buuzzkil

<TheWizard> * * *

<TheWizard> * *

<TheWizard> * *

<TheWizard> ■k -fr 0 a » » **

<TheWizard> * y \ *

<TheWizard> * /K *

<TheWizard> * A *

<TheWizard> * A *

<TheWizard> * A *

<TheWizard> * A *

*** TheWizard has been kicked off channel #teensex by Tickler (NO FLOODING!!!)

<BuzzKill> Why not what's wrong with me?

*** You have been kicked off channel #TeenSex by RPbot (DONT BASH FOOKE)

Das war es erst einmal fiir Lila. Der Operator hat sie oder ihn wegen ihrer oder seiner Umtriebe aus dem Kanal geworfen. Doch Lila kommt sofort wieder zu­

rück:

(16)

*** lila has joined channel #teensex

*BuzzKill* lila- I missed you

<derek> hi lila

<BuzzKill> hey derek - lay off lila- s h e ’s mine

<lila> ok fine guys - I can multiply myself

<Fooke> lila... I think you meant liberated... and just because I'm not into netsex does not make me other­

wise. ..you should really KNOW something about ppl b4 you start to insult ppl

<BuzzKill> lila- what about me?

<derek> fooke: strange girl!

<Fooke> derek....I have friends here...I will continue to come h e r e ....

<derek> then why are you on channel #teensex, isn't that even worse?

<Keg> Netsexing is childish and lame..

<BuzzKill> Lila: I am tired of waiting-

<lila> BUZZ: Come on, dont u have 2 hands??

<RPbot>

<RPbot>

<RPbot> . Fooke!

<RPbot>

<RPbot>

<RPbot>

<BuzzKill> Ok lila- fine- C all of you later

* Keg likes Fooke very m u c h . . and if anyone fucks with h e r . . Ill fuck with them.. BIG TIME

<derek> okay, fooke is THE exception

* BuzzKill Slaps lila and calls her a slut

<lila> thanx BUZZ, go home and cry on your mums shoulder

* Fooke doesn't like jerks who slap women

<Keg> L i l a . , You female?

<lila> Keg: heck no, I am male

<lila> hey, is something wrong with this little irony???

<Fooke> it sure is

<lila> fooke: why?

<lila> why is everybody so stumbled now?

<lila> *lila feels alone*

(17)

Man sieht: Lila ist nicht sehr erfolgreich mit ihren Versuchen, ein wenig Leben in den Kanal #hotsex zu bringen. Ihr/sein Spiel mit dem Geschlecht scheint eher Irri­

tationen in #hotsex auszulösen. Auch im IRC ist offenbar ein normgerechtes Ver­

halten die Regel.

Beobachtungen wie diese werden von den Autorinnen der zitierten Studien aller­

dings auch mit der Erschaffung selbstorganisierter, verantwortungsvoller Netz­

gemeinschaften konfrontiert: "It is this freedom from convention that allows IRC users to create their own conventions, and to become a cohesive community."

(Reid 1991: 20) Das Netz bietet hierin nicht weniger »soziale Wärme« als die an­

geblich so ganz andere Welt draußen: "Users of IRC often form strong friend­

ships. ... Freedom is given, either to be someone whom you are not, or to be more yourself than would usually be acceptable. ... Net-romances, long distance romantic relationships carried out over IRC, can result from the increased tenden­

cy for participants in CMC systems to be uninhibited." (Reid 1991: 18)

Auch die Studie von Piirto zu den interaktiven Foren (genannt »CB-Simulation«) von CompuServe, einem kommerziellen Computemetz, belegen die soziale Wär­

me des Netzes: Besonders ausgeprägt fand-Piirto die "Online-Relationships". Nur 9 % ihres Samples von CompuServe-Nutzem gaben an, überhaupt keine solchen Beziehungen zu haben: "The most frequent relationships were in acquaintances, friends and close friends range. Acquaintances appear to be fairly easy to make - 88% reported having between one and more than 20. Friends were somewhat harder to come by - 84% said they had between one and more than 20 online friends. Some respondents reported great relationship-building success saying they had made hundreds of friends and acquaintances online. Nearly 39%

reported having anywhere between one and ten lovers without physical contact.

This admittedly unusual category of relationship might be a new phenomenon of the electronic communication media. ... HSX members are forming the most inti­

mate relationships too: 30% reported having between one and five physical lovers and 11% reported having live-in lovers they had met online." (Piirto 1993: 84f.)9 Nach Reid trifft dieses Phänomen der "online-relationships" auch fur das IRC zu - womit sie allerdings ihrer These des "Mangels an Selbstregulation" im IRC widerspricht: "The physical aspect of IRC may be only virtual, but the emotional aspect is actual. IRC is not a game in any light-hearted sense - it can inspire deep feelings of guilt and responsibility. It is also clear that users' acceptance of IR C 's

9 »HSX« ist ein Gesprächsforum "for adults only", in dem über sexuelle Themen diskutiert wird.

(18)

potential for the deconstruction o f social boundaries is limited by their reliance in the construction o f communities.'' (Reid 1991: 26; m. Herv.) Ich halte die hier hervorgehobene Position Reids fur die plausibelste, auch wenn das IRC anson­

sten voller Widersprüche ist. Es fragt sich allerdings, wodurch die "deconstruc­

tion of social boundaries" limitiert wird.

Denken wir noch einmal über J. Sanders und Starbuck nach: Als Mitspieler im Identitätsspiel müssen Starbuck und J. Sanders auseinanderfallen. Können wir das aber überprüfen? Was wissen wir von J. Sanders, wir als Teilnehmer oder Beob­

achter des IRC? Die Antwort ist: nichts. Wir kennen nur Starbuck. Natürlich kennt J. Sanders sich selbst, und vielleicht sind auch Bekannte von J. Sanders Teilnehmer im IRC, kennen also auch J. Sanders und nicht nur Starbuck.10 Aber was nützt uns das? Man könnte sich darauf konzentrieren, was diese Beziehung von J. Sanders zu Starbuck für ihn (J. Sanders) bedeutet. Aber das sagt nur wenig darüber aus, wie die Starbucks miteinander interagieren.

Wie groß die Identität von J. Sanders und Starbuck ist, kann ein Thema der Kommunikation im Netz werden. Es wäre ein Fall von »Metakommunikation«, also ein Sprechen über das IRC. Ist das ein häufiges Ereignis im IRC? Nach mei­

ner Beobachtung und Protokollierung von IRC-Kanälen im Sommer 1993 kann ich das nicht bestätigen. Metakommunikation ist im IRC ein verschwindend ge­

ringes Ereignis. Es scheint geradezu verpönt zu sein, im IRC über das IRC (über die Gespräche, die Teilnehmer etc.) zu sprechen: Wenn es eine Grundregel gibt, die die Kommunikation des IRC prägt, ist es das Gebot: Keine Metakommunika­

tion im IRC über das. IRC, die mit der Unterscheidung von "hier drinnen" und

"dort draußen” arbeitet. Ich möchte hierfür einige Beispiele geben. Sie stammen alle aus dem Kanal hhotsex vom 13.7.93.

<Slack> Was talking to crush about 10 minutes ago. He said BB totally stuffed the channel.

<chree> crush is a she

<Slack> ooops, I am sorry :)

<chree> and where did she go?

<Slack> SHE, signed off, don't know when she will be back.

10 Vielleicht ist es ja nur eine Eigenart deutscher IRC-Kanäle, aber jedenfalls gibt es einige deutschsprachige Kanäle, in denen sich hauptsächlich Teilnehmer aufhalten, die auch außerhalb des IRC enge Freundschaften pflegen. D er Extremfall sind dann IRC-Teilnehmer, die gleich­

zeitig in einem Raum sitzen und dabei miteinander im selben Kanal über die Planung der Grill­

party am Wochenende plaudern: Think locally, act globally!

(19)

Wir sehen hieran, daß "slack" von "chree" bezüglich der geschlechtlichen Identi­

tät von "crush" korrigiert wird. Die Reaktion von "slack" zeigt, daß es ihm (?) eher peinlich ist, es nicht gewußt zu haben. Aus dem vorausgehenden Gesprächs­

verlauf konnte man sehen, daß "crush" und "chree" wohl sehr gute "Netz-Freun­

de" sein müssen - für die ihre Identität kein Thema ist: sie kennen sich schließ­

lich. Wer schon lange zum IRC gehört, wird solche Fragen nicht stellen. Ein weiteres Beispiel:

*** Uros has joined channel #hotsex

<Uros> hi all... Where is wizard ? he isnt here again !

<Uros> Listen - this email of wizard isnt right

<Calvin> Uros: what is it

<Uros> What is wizard's real email?

<Calvin> U r o s : what do you have for him?

<Uros> I have a request... Calvin - u know wiz ?

<Calvin> 1 know him, Uros: what address do you have for him?

<Slack> Uros: He is on now, why not ask him???

<Calvin> hahahahahaha

<Calvin> actually, h e ’s away....

<Calvin> most people on here used hacked clients...so what their /whois is, isn't necessarily their e-mail address

<Uros> I k n o w . ..

Auch in diesem Beispiel sehen wir, wie problematisch es ist, über andere IRC- Mitglieder etwas erfahren zu wollen.11 Und wir sehen auch, daß "Uros" in dieser Sequenz ebenso wie oben "slack" die Erfahrung macht, daß es andere gibt, die mehr voneinander wissen und die anscheinend eine engere Gemeinschaft im Netz bilden, die dann auch gegenüber den Fremden verteidigt wird. Metakommumka- tion ist offensichtlich ein Verhalten, das im IRC zumindest mit Mißtrauen quittiert wird. Solchen Leuten wird deutlich gemacht, daß sie nicht wirklich dazugehören oder gar Regeln verletzen. So ereignet sich kurz darauf folgende Episode (wir sind immer noch in #hotsex, also einem Kanal, der einschlägig ist für Anmachen und ähnliches):

11 Dazu dient der IRC-Befehl /whois, der die elektronische Post-Adresse eines Spitznamen anzeigt.

(20)

*** Falco caresses Katerina behind her ears: Nice pussy!

<TBA> bahahaha!

*** Falco has been kicked off channel #hotsex by LushBot

<crush> ????

*** Calvin has changed the topic on channel #hotsex to This is NOT a sex channel

<Katerina> thanks C a l ...

<Calvin> no prob, Kat

<Splat> I'm horny

<Calvin> Splat: you KNOW what horny means?

<Calvin> besides that, the fuck head was rude

*** Splat has been kicked off channel #hotsex by crush

<Katerina> what I want to know is why a girl is mugged when she comes on channels like this....dont you ppl carry

normal conversations or is the only thing that runs thru your mind SEX???? I think that if y o u . .... forget it...

<TBA> go away Katerina

*** Katerina has been kicked off channel #hotsex by TBA

<Carcass> Katerina: hey, hey, gal! here, have some Amaretto coffee!

<Carcass> TBA: why'd ya do that for? she HAS a point

ln der ersten Zeile wird "Katerina" von "Falco" ziemlich rüde angemacht. Dafür wird er (?) dann auch von "LushBot" umgehend aus dem Kanal mittels des Kill- Kommandos herausgeworfen. "Calvin" steht ihr ritterlich zur Seite, indem er (?) den Topic des Kanals ändert und außerdem "splat" für seine Beiträge angreift.

Dann macht allerdings "Katerina" den Fehler, über diese Vorgänge mit den ande­

ren sprechen zu wollen, weshalb sie sofort von "TBA" rausgeworfen wird - der/die damit wiederum die Regel des IRC geltend macht, was an TBA's Verhal­

ten in der folgenden Sequenz noch deutlicher wird (immer noch #hotsex):

<DiskDoc> all females raise a hand,! =) Carcass raises a hand

<Calvin> <================ raises his hand SweetNes raises her hand.,

<TBA> <-- shamelessly raises her hand

<CyanB> TBA: HER?

(21)

<TBA> :P

Just-Me says Sweetness has nice looking legs SweetNes is a married female :)

Carcass admits he was really raising SweetNes' hand

<CyanB> S weet: We k n o w .

<TBA> DiskDoc: FAQfD2 about #hotsex: DON'T ASK ABOUT WHO'S A FEMALE1 2 .

*** DiskDoc. has been kicked off channel fhotsex by TBA

Fragen wie die von "Katerina" und "DiskDoc" verstoßen offensichtlich gegen die Etikette des IRC. Sie stören wohl so, wie wenn der Zuschauer einer Travestie- Show plötzlich rufen würde: »Ihr seid ja gar keine Frauen!« Das IRC braucht die Stabilität des Scheins, um seine Geschichten fortzuschreiben. Die Regel lautet, daß sich hier niemand so auffiihren darf wie das freche Mädchen aus dem Mär­

chen vom Kaiser ohne Kleider. Dieses Märchen wird immer aufklärerisch und herrschaftskritisch gelesen: Das Kind entlarvt den Kaiser - aber im IRC stören solche Bemerkungen die Verpflichtung aller, sich auf das Spiel einzulassen.

4. Die Konstruktion elektronischer Gemeinschaften

Zu Recht weist Reid darauf hin, daß der Bruch mit der Konvention für sich allei­

ne noch nicht den Kitt für eine IRC-Kultur liefern kann: "People who fail to communicate do not compose a common culture. ... Without some way of com­

pensating for the inherent lack o f social context cues in CMC, IRC would not get further than the deconstruction of conventional social boundaries." (Reid 1991:

24) Wie gelingt die Konstruktion »elektronischer Gemeinschaften«, auf welche Gebote könnten sie sich neben dem angesprochenen Verbot der Metakommuni- kation stützen? Ich möchte hierauf zwei Antworten vorschlagen.

1. Die Konstruktion gelingt, weil sich die IRC-Nutzer einfach an sozialen Nor­

men orientieren, die auch unseren Alltag »außerhalb« des Netzes ordnen. Das zeigt sich zum Beispiel daran, daß auch in der IRC-Welt in vertrauter Weise öffentliche und private Räume getrennt werden. Im IRC gibt es "offene Kanäle", wo jeder einloggen kann, und "private Kanäle", wo man nur auf Einladung der bisherigen Teilnehmer hereinkommt - wie im richtigen Leben! Ein damit ver­

12 FAQ: Frequently Asked Questions - zu deutsch: Antworten auf häufig gestellte Fragen.

(22)

wandtes Prinzip ist die Orientierung an den angeblich im Zeitalter des »globalen Dorfes« und Luhmanns »Weltgesellschaft« so marginal gewordenen Regionen, Landessprachen und Kulturkreisen. Den dann doch recht konservativen Eindruck, den das IRC hinterläßt, möchte ich mit ein paar Zahlen zur Nutzung des IRC illustrieren. Die Zahlen stammen aus einer Auswertung von fünfzehn mehrstündi­

gen IRC-Protokollen, die ich im Verlauf von zwei Monaten im Sommer 1993 mitgeschnitten habe:

Das IRC-Geschehen vom 13.7.93 umfaßte zum Beispiel 540 geöffnete Kanäle und ca. 1200 Nutzer.13 Davon waren 56 eindeutig lokale Kanäle, auf die 386 oder ca. ein Drittel aller Nutzer entfielen. Nur 32 Kanäle oder 6% von allen hat­

ten mehr als 10 Nutzer. Der Spitzenreiter war hier der Kanal #twilight mit 31 Teilnehmern, 13 der Kanäle mit mehr als 10 Nutzem waren lokale Kanäle. Die 19 anderen Kanäle entfielen auf folgende Kategorien: 10 gehören zur Kategorie "Sex und Anmache’’ (zum Beispiel //gaysex, #hotsex, #teensex), 2 sind technische Kanäle (#amiga), 1 ist religiösen Inhalts (#christian). Die restlichen waren private Kanäle. 282 Kanäle oder 52% hatten überhaupt nur einen Teilnehmer. Das meiste Geschehen findet also in den lokalen Kanälen statt. .Anlaß zu wirklichen Häufun­

gen von Teilnehmern sind dann nur noch die "dirty talk channels" wie etwa

#hotsex.

Oder man betrachte das Geschehen am 6.8.93. 1140 Benutzer hatten sich auf 464 Kanälen eingeloggt. 35 davon wiesen mehr als 10 Teilnehmer auf. Der Spitzenrei­

ter war #espanol mit 48 Mitgliedern. Von den 35 Kanälen mit mehr als 10 Nut­

zem waren wieder 15 lokale Kanäle, 6 Sex-Kanäle, 3 gemäßigte Talk-Kanäle, ein Sport-Kanal (#cricket), und ein religiöser (wieder #christian). Und schließlich wieder vier private "Einladungs-Kanäle".

In den zwei Monaten hat sich kaum etwas an den Themen der Kanäle und der Aufteilung der Nutzer auf sie verändert. Die IRC-Welt ist in dieser Hinsicht eigentlich sehr stabil. Es dominieren eindeutig die lokalen, auf einen Ort, eine Region oder ein Land bezogenen Kanäle, in denen jeweils in der Landessprache (auch in Asien!) kommuniziert wird, sowie die englischsprachigen "dirty talk channels". Eine deutliche Konzentration zeigt sieh dabei vor allem auf Kanäle wie

^Taiwan, ^Singapur, #Nippon, #Taipeh. Der größte Teil der Teilnehmer dieser Kanäle hat sich allerdings in amerikanische Rechner eingeloggt, um sich (vielleicht aus Heimweh?) zum Plaudern in »ihren« Lokalkanälen zu treffen. Die

13 Zwischenzeitlich scheint die durchschnittliche Teilnehmerzahl im IRC allerdings au f rund 3000 Benutzer angestiegen zu sein. An der typischen Verteilung hat sich jedoch nichts verän­

dert.

(23)

Kanäle mit europäischen Namen (wie //Tübingen, //Turku, //Polska etc.) werden dagegen anscheinend tatsächlich auch von Teilnehmern frequentiert, die sich in diesen Ländern, Orten oder gar Unis befinden.

Mit Blick auf die häufiger frequentierten Kanäle existieren drei deutlich vonein­

ander unterscheidbare Kommunikationsgemeinden: globale, lokale und ad-hoc- Gemeinschaften. Die globale Gemeinschaft besteht aus Teilnehmern, die sich schon lange unter ihren Spitznamen kennen, deren bevorzugte Kanäle jedoch offen sind für ein internationales Publikum. Daher herrscht auch hier das US- Englisch vor. Die lokalen Kanäle dagegen sind vor allem sprachliche Gemein­

schaften, die ihre kulturelle Kohäsion aus mehr oder weniger großer Nähe zu den jeweiligen regionalen Zusammenhängen gewinnen: Von der Diskussion der poli­

tischen Lage in Südkorea (Kanal //taipei) bis hin zur Frage, wer am Wochenende zur Grill-Party das Holz mitbringt (Kanal //Stuttgart).

Deutlich hiervon unterschieden sind die ad-hoc Kanäle, womit die bei gegebenem Anlaß stark frequentierten Kanäle zur Diskussion aktuellen Politikgeschehens, in erster Linie aber die "dirty-talk"-KanäIe gemeint sind. Der Zusammenhang des Gesprächs, der Themen, der anwesenden Personen und ihrer Bekanntheit unter­

einander ist gleichermaßen gering. Kurzes Hereinschauen, abwarten, Zusehen, und wieder verschwinden, wenn nichts Besonderes läuft - so ließe sich das typi­

sche Verhalten hier zusammenfassen.

2. Bei meiner zweiten Antwort möchte ich mich wieder der Studie von Reid an­

schließen: "There is (in IRC) a continual search for ways to present the unpre­

sentable, to bring elements technically outside the medium o f communication within its realm." (Reid 1991: 21) Wie jedes Medium steht auch das IRC vor der Aufgabe des «overcoming channel limitations«, also seine eigenen semiotischen Innovationen zu kreieren: "Not the least of the questions accompanying the rise o f the computer as a medium of communication is how channel limitations (lack of nonverbal, paralinguistic cues)'and structural features o f the medium (text-only, instantaneous transmission) influence the communication that occurs over compu­

ters." (Piirto 1993: 7) In dieser Beziehung bietet das IRC natürlich recht wenig:

"Interpersonal researchers agree that nonverbal cues are essential to successful communication. Though there is no consensus on the exact amount, most resear­

chers agree that the nonverbal channel provides the majority o f social meaning in any interaction." (Piirto 1993: 8)

Die sinnlichen Limitationen eines Kommunikations-Kanals müssen nicht unbe­

dingt ein Problem darstellen - im Prinzip kann man schließlich alles in das Medi-

(24)

um Schrift übersetzen. Jeder Geruch, jedes Lied oder jede optische Täuschung läßt sich versprachlichen. Wenn man das normalerweise nicht tut, dann deshalb, weil es meistens leichter ist, einfach auf non-verbale Kanäle "umzuschalten" - und auch, weil Übersetzungen Zeit brauchen. Im IRC verschärfen sich diese Proble­

me, weil es eben ein chat-Program ist, und das macht nur Spaß, wenn es schnell geht, wenn die Antworten rasch kommen, und die "message" auch sofort bei den anderen ankommt. Auch Piirto sieht darin ein generelles Manko von CMC: "The biggest problem for online communications seems to be that it often takes longer to accomplish both social and informational tasks online. In situations where much needs to be said in a short time, CMC can be an impediment. But in con­

texts where time is not o f the essence, CMC is as effective, if not more so, than other forms o f communication." (Piirto 1993: 116)

Wir können im IRC mehrere Phänomene erkennen, mit denen auf seine "channel- limitations" geantwortet wurde - ich möchte hiervon die sogenannten Emotikons darstellen: das sind Symbole für emotionale Reaktionen der Gesprächsteilnehmer, die man mit Hilfe weniger Keyboard-Tasten schreiben kann.14 Hier eine Liste aus dem CompuServe-Netz:

"Occasionally you'll see little cryptic codes in messages. They are called emoti­

cons, and are used to express the emotions o f normal voice communication - for example, to indicate that the "snide" comment you just-read was really a joke.

The following list has been compiled from ten years of reading messages on bul­

letin boards and CompuServe forums."15

emoticon (noun): A figure created with the symbols on the keyboard. Read with the head tilted to the left. Used to convey the spirit in which a line of text is typed.

Emoticon Meaning

User has one eye

:-i Semi-Smiley

:-] Smiley blockhead

14 Emoticons sind allerdings keine IRC-spezifische Erfindung.

15 Quelle: CompuServe (1993), Practise Forum, emotic.txt.

(25)

User has beard

: - o User singing national anthem : -t User is cross

: - : User is mutant

: - User is male

: -? User is smoking a pipe

:-=) Older user with mustache

:-p User is sticking their tongue out (at you!

1 User has a cold

User's lips are Sealed.

User just ate a sour pickle :-)-{8 User is a big girl

: - s User after a BIZARRE comment User has a mustache

: - 1 No expression face, 'that comment doesn't phase m e '

User sports a mohawk and admires Mr. T User spitting out its chewing tobacco User is a banker

User wears lipstick : -v Talking head Smiley

: —c Bummed out Smiley

: -x "my lips are sealed" Smiley User was drawn by Picasso

"have an ordinary day" Smiley : -e Disappointed Smiley

:-8( Condescending stare

:-Q Smoker

: User wears glasses

:< 1 User attends an Ivy League school : >) User has a big nose

:%)% User has acne

:~) User's face needs a nosejob, no xplanation necessary

(-: User is left-handed (-) User needing a haircut ( :) - ) User likes to scuba dive

(26)

(:I Egghead

{:-) Smiley with its hair parted in the middle { (:-) User is wearing toupee.

} (:-( User, wearing toupee in wind.

+-(:-) User is the pope

+: -) Smiley priest

*-( Cyclops got poked in the eye

* :o) User is a Bozo

*<1:-) User is Santa Claus (Ho Ho Ho)

<1 -) = User is Chinese

= :-) User is a hosehead

= :-#} Smiley punk with a mustache....

= :-) Smiley punk-rocker

>- Female

>: -< Mad

to — User is Picasso

# - ) User partied all night

1 - o Birth

8-) User wears glasses

8-# Death

Emoticons werden eingesetzt, um Kommunikation emotional einzubetten, also Kommentare zu geben, oder um bestimmte rhetorische Formen zu ermöglichen, die in der face-to-face-Kommunikation üblicherweise mit nonverbalen Mitteln er­

zeugt werden. Ironie beispielsweise wird durch den Tonfall der Stimme oder einen Gesichtsausdruck erzeugt, Dramatik durch Lautstärke und Gesten etc. Inso- em kann das Emoticon einfach sich selbst bedeuten, oder erst in Verknüpfung mit einer Aussage einen Sinn bekommen.

Nicht immer ist es diese nur die Schrift-Kommunikation unterstützende Funktion des Symbols, wenn Emoticons eingesetzt werden. Emoticons stehen vielmehr für den Übergang der uns gewohnten Schriftsprache in "textual art" (Reid 1991: 25), fur die kreative Aneignung der Zeichen im Selbsterschafiungsprozeß der elektro­

nischen Kultur:. "Successful communication within IRC depends on the use of such conventions as verbalised action and the use o f emoticons. Personal success on IRC, then, depends on the user's ability to manipulate these tools. The user who can succinctly and graphically portray themselves to the rest of the IRC

(27)

usership will be most able to create a community within that virtual system."

(Reid 1991: 25)

5» Zusammenfasssung

Sollte man nach diesen Bemerkungen zum IRC sagen: Nichts Neues unter der Sonne, nichts, was dieses neue Medium tatsächlich als Medium neu machte? Das wäre ein falscher Eindruck. Vielmehr ging es mir um den Nachweis, daß Kom­

munikation in solchen Netzen nicht leichter wird - sondern schwieriger, voraus­

setzungsvoller, prekärer. Eine (sozialwissenschaftliche) Beschäftigung mit sol­

chen Programmen wie dem IRC und ihren Kulturen kann also zunächst einmal helfen, das Phänomen Kommunikation zu verstehen. Daß wir das mit dem IRC versuchen, und nicht (mehr) mit Büchern, liegt einfach an der Aktualität des IRC.

Das IRC kann für die Soziologie ein »evokatives Objekt«10 sein: Es verrät etwas über Kommunikation und Sprache, über persönliche Identitäten und ihre Symboli­

schen Formen in elektronischen Gemeinschaften. Im übrigen bietet das IRC auch eine ganz unspektakuläre Gelegenheit, die Medientheorie

in

ihrem Cyberspace stehen zu lassen, weil das Leben im Internet sowieso viel interessanter ist.

16 So Sherry Turkic in The Second Seif (1984) über den Computer, Vgl. Suchman (1987), S.

5f.

(28)

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Referenzen

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