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Dystonie – ein verkanntesLeiden

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Academic year: 2022

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T A G U N G S B E R I C H T C O M P T E - R E N D U D E C O N G R È S

TH O M A S FE R B E R

Dystonien, unwillkürliche Verkrampfungen einzelner Muskeln, können für Betrof- fene katastrophal sein.

Die Jahrestagung der Dys- tonie-Gesellschaft erinnerte Anfang Mai daran. Schade:

Beim Graphospasmus über- nehmen die Kassen die Kosten der Behandlung mit Botulinumtoxin nicht mehr.

Erfreulich: Eine neue

Behandlung könnte Linderung bringen.

Rund 7000 Personen leiden in der Schweiz an Dystonie. Selten wird das Leiden auf Anhieb erkannt. Die Schweizerische Dys- tonie-Gesellschaft (SDG) bemüht sich um Aufklärung der Öffentlichkeit und der Ärzteschaft über die Krankheit Dystonie.

In Selbsthilfegruppen ermöglicht sie den Kontakt unter den Patienten, um der dro- henden Isolation des Einzelnen entgegen- zuwirken. Die Jahrestagung der SDG gibt den Betroffenen ein wichtiges Forum und vermittelt auch neues Wissen um das Leiden.

Unterschiedliche Krankheitsbilder

Dystonie beschreibt ein vom Willen nicht beeinflussbares Leiden, bei dem lang anhal- tende Muskelverkrampfungen auftreten.

Es gibt Formen, die grössere Teile oder auch den ganzen Körper befallen, und solche, die nur einzelne Muskelgruppen betreffen.

Typisch sind eigenartig aussehende Bewe- gungen und Haltungen bei Betroffenen. Die Spannbreite der Auswirkungen ist beträcht- lich: Einige bemerken wenig von diesen Muskelanspannungen, andere klagen über Schmerzen in den betroffenen Muskel- gruppen und haben Schwierigkeiten, be- stimmte Bewegungen auszuführen. Die so- ziale Isolation durch diese unwillkürlichen Bewegungen kann eine besonders schlimme Folge sein. Unter der Bezeichnung Dysto- nie finden sich auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Krankheitsbilder:

●Blinzeltic (Blepharospasmus)

●Schiefhals (Torticollis spasmodicus)

●Schreibkrampf (Graphospasmus)

●Stimmkrampf (spasmodische Dysphonie)

●generalisierte Formen

Die generalisierten Formen – die meist erblich bedingt sind – unterscheiden sich nur dadurch, dass im Verlauf der Erkran- kung zunehmend mehrere Bereiche des Körpers betroffen werden. Diese oft be- reits in der Kindheit und Jugend mit Geh- schwierigkeiten beginnenden Formen er- innern stark an spastische Zustände, so- dass sie vermutlich zu selten diagnostiziert werden. Auch die fokalen Dystonien wer- den allzu oft verkannt und zum Beispiel psychosomatisch interpretiert.

Mit bildgebenden Verfahren wird unter- sucht, ob als Ursache der Dystonie eine Schädigung des Gehirns vorliegt. Beim

«Schiefhals» dient die Röntgenuntersu-

chung dem Ausschluss von Fehlbildungen oder Veränderungen der Halswirbelsäule.

In den meisten Fällen zeigen diese Unter- suchungen jedoch keine Auffälligkeiten.

Die Überaktivität bestimmter Muskeln kann schliesslich mit der Elektromyografie (EMG) nachgewiesen werden.

Kassen zahlen nur teilweise

Die Ursache für die Dystonie ist immer noch unbekannt. Deshalb gibt es auch für eine Reihe von Dystonieformen keine Heilung. Therapeutisch ist man bei der Behandlung der Dystonie allerdings nicht machtlos. Alain Kaelin vom Zentrum für Bewegungsstörungen, Neurologische Kli- nik, Inselspital Bern, verweist auf die Injek- tion mit Botulinumtoxin: «Diese Therapie wirkt derzeit am besten, sie ist die Therapie der Wahl bei den meisten Formen von Dys- tonie. Doch es gibt noch einige Medika- mente, die manchmal auch in Kombination mit Botulinumtoxin eingesetzt werden.»

Schade ist für Kaelin allerdings, dass die Behandlung mit Botulinumtoxin bei gewis- sen Indikationen, nämlich beim Schreib- und beim Stimmkrampf – wo es hilft und worunter viele Patienten leiden –, von den Kassen nicht übernommen wird. Gerade beim Schreibkrampf verweist Kaelin auf die langjährigen positiven Erfahrungen mit dieser Behandlung. «Das ist für mich un- verständlich», so Kaelin, und weiter: «Die Therapie ist bei vielen Patienten wirksam, und es gibt andere Behandlungen bei an- deren Erkrankungen, die bezahlt werden und die deutlich weniger wirksam sind.»

Neue Untersuchungsmethoden

Schliesslich etabliert sich immer mehr die tiefe Hirnstimulation bei besonders schweren Formen. Mittels der permanen-

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ten Einlage eines feinen Kabels mit Elek- troden werden die Basalganglien stimuliert.

Damit können vor allem die generalisier- ten Formen behandelt werden, und Be- troffene, die im Rollstuhl sind, erhalten oft ihre Gehfähigkeit zurück.

Kaelin sprach an der Tagung über neue Ansätze bei der Erforschung der patho- physiologischen Mechanismen der verschie- denen Formen von Dystonie. In den letz- ten zehn Jahren werden zur Erforschung der Dystonie vermehrt bildgebende Ver- fahren eingesetzt, wie beispielsweise das funktionelle MRI oder elektrophysiolo- gische Verfahren wie die transkranielle magnetische Stimulation. Hierbei kann laut Kaelin die motorische Hirnrinde stimu- liert und dabei die Erregbarkeit des moto- rischen Systems schmerzlos und ohne Ge- fahr gemessen werden. Natürlich kann die Methode mit weiteren Messverfahren kombiniert werden. Ein Beispiel ist die sen- somotorische Interaktion bei der Dystonie.

Es gibt schon längst klinische Hinweise, dass dieses Leiden nicht einfach eine Er- krankung des motorischen Systems dar- stellt, sondern dass auch andere Faktoren, insbesondere das sensorische System, eine wichtige Rolle spielen: Legt nämlich ein Patient mit Schiefhals seine Hand an den Hals, so lässt sich alleine mit der Hautbe- rührung beziehungsweise der sensorischen Stimulation schon eine Beruhigung der Dys- tonie herbeiführen. Dies nennt man «geste antagoniste». Umgekehrt kann ein Blen- den den Blepharospasmus noch verschlim- mern. Solche Beobachtungen haben auch einen diagnostischen Wert. Doch gemäss Kaelin wird immer noch nicht verstanden, was pathophysiologisch wirklich passiert.

Ermutigende Tests

Die eben genannten neuen Untersuchungs- methoden erlauben nun direkt beim Menschen neue Einsichten in die Patho- physiologie der Dystonie. Sie bestätigen im Tierversuch gewonnene Vermutungen über die Rolle der Sensomotorik: Immer deutlicher zeigt sich, dass die Kommuni- kation zwischen dem sensorischen und motorischen System gestört ist. Im Hin- blick auf eine therapeutische Nutzung

dieser neuen Erkenntnisse befindet sich die Forschung allerdings immer noch bei den Grundlagen. Trotzdem: Ohne klinische Grundlagenforschung ist es kaum denk- bar, dass neue Therapieansätze entwickelt werden können, die sich gemäss Kaelin immer wieder auch unvermittelt ergeben:

«Plötzlich eröffnet sich eine Therapie, an die bis jetzt nicht gedacht wurde», so Kaelin, und weiter: «Gerade bei der Dys- tonie sind wir aufgrund dieser Untersu- chungen auf die Idee gestossen, dass nicht wie bisher nur das motorische Sy- stem behandelt werden kann, sondern dass möglicherweise auch eine gezielte Beeinflussung des sensorischen Systems eine Besserung bringen könnte.»

Ohne falsche Hoffnungen wecken zu wollen, verweist Kaelin auf einzelne klei- nere Studien, die zeigen, dass diese neue Sicht helfen könnte. So wurde in einer Studie während acht Wochen ein intensi- ves Training mit der Blindenschrift Braille durchgeführt. Ziel war eine Verbesserung der Berührungsempfindung. Das Training führte bei 6 von 10 Patienten mit Schreib- krampf dazu, dass sie besser schreiben konnten. «Durch eine reine Verbesserung der Sensorik wurde auch eine Verbesse- rung der Motorik erzielt; das finde ich spannend», so Kaelin. Dies sind gemäss dem Dystonieforscher neue Wege. Es sind bestimmt auch weitere und umfangrei- chere Studien nötig, um diese Ergebnisse zu bestätigen.

Herausforderungen bewältigen

Schwierigkeiten, die das Leben beziehungs- weise die Dystonie bringt, können vielfach mehr oder minder gut bewältigt werden.

Hierzu können verschiedene Coping-Stra- tegien (Bewältigungsstrategien) angewen- det werden. Bei der Dystonie ist die Kunst, Schwierigkeiten zu meistern, ein unerläss- liches Überlebensinstrument, denn Betrof- fene können an verschiedenen Problemen wie negativem Körperbild, Einschränkung der sozialen Kontakte, Minderung von Selbstwert und Würde sowie Depressionen leiden. Dies hat Auswirkungen auf den Alltag, die Unabhängigkeit und Lebens-

perspektive. Wie bei anderen schweren Erkrankungen auch schwanken die Dysto- niepatienten zwischen Ablehnung der Dia- gnose, Wut und Hilflosigkeit, bevor sie sich zur Akzeptanz durchringen und ihr Leben neu organisieren – mit Dystonie.

Mit vorausschauender Planung bei heiklen Situationen, Beziehungspflege und dem Einsatz für andere Menschen, Ideale oder Hobbys empfehlen die Ärztin Corinna Rogger und ihr Gatte, der Psychiater Urs Rogger, bewährte Coping-Strategien. Auch mit Humor lässt sich vieles leichter bewäl- tigen. Sodann hilft es sehr, bei aller Aus- einandersetzung mit der Dystonie auch einmal abschalten und sich Ablenkung gönnen zu können. Ganz wichtig ist es gemäss dem Ehepaar Rogger, dass die Kranken nicht in ein Schwarz-Weiss- Denken verfallen und negative Erlebnisse überbetonen oder die Zukunft negativ be- werten. Positive Erfahrungen sind genauso wichtig, und Betroffene sollten ihre star- ken Seiten nicht unterbewerten. Selbst- hilfegruppen bilden eine wichtige Stütze in ihrem Leben. Deutlich wurde dies auch an der diesjährigen Tagung: Viele der anwesenden Frauen und Männer mit Dys- tonie sprachen in eindrücklichen Worten über ihre Erfahrungen und machten Mut:

«Wichtig ist der Umgang mit den Mit- menschen», so ein Betroffener, und weiter:

«Sprecht mit ihnen über eure Krankheit. Es gibt viele, die mehr darüber wissen möch- ten. Diejenigen, die euch hingegen zurück- weisen, von euch nichts wissen wollen, die lasst beiseite!» Dies ist ein wunderba- res Beispiel, wie Coping aussehen könnte:

das Schicksal selbst in die Hände nehmen, aktiv sein, auf die Mitmenschen zugehen und den positiven Seiten des eigenen Le- bens mehr Bedeutung zumessen. Damit verschwindet die Dystonie nicht, aber sie verliert an Gewicht und erlaubt in vielen Fällen trotzdem ein erfülltes Leben. ● Dr. med. Thomas Ferber Postfach 412, 8201 Schaffhausen E-Mail: thomasferber@mail.ru

Interessenlage: Der Beitrag wurde im Auftrag der Schweiz. Dystonie-Gesellschaft abgefasst.

Internet: www.dystonie.ch

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