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Bei der anonymen Anwerbung meldete der Arbeitgeber seinen Arbeitskräftebedarf an die Bundesanstalt für Arbeit, die gemeinsam mit der türkischen Arbeitsverwaltung geeignete Arbeitskräfte in der Türkei suchte

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Türkische Migrantenkolonien im Einfluß der Aufnalimegesellscliaften Ein deutsch-französischer Vergleich

Von Gaby Strassburger, Bamberg

Ein Vergleich der tih-kischen Migrationsgeschichte in Deutschland und Frankreich zeigt, wie stark beide Aufiiahmegesellschaften die Entstehungs- und Entwicklungs¬

prozesse der Migrantenkolonien beeinflußt haben. Aus der Binnenperspektive der

türkischen Kolonien in Bamberg und Colmar' soll im folgenden die Wirkung relevanter

Steuerungsmechanismen in Frankreich und Deutschland analysiert werden. Im ersten

Teil steht zunächst die Migrationspolitik während der Anwerbephase im Mittelpunkt, während im zweiten Teil verschiedene "Konjunkttu-en" der Ausländergesetzgebung betrachtet werden.

In der Bimdesrepublik Deutschland fiihrten in den frühen 60er Jahren Wirtschafts¬

wachstum, demographische Veränderungen, verlängerte Ausbildungs- und verkürzte

Arbeitszeiten sowie der Mauerbau an der Grenze zur DDR zu einer anhaltenden

Verknappung von Arbeitskräften. Der Engpaß vrarde durch systematische Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte ausgeglichen, für die die Bundesanstalt für Arbeit ein Vermittlimgsmonopol besaß.^

Am 30.10.1961 wurde ein deutsch-türkisches Abkommen zur Anwerbung von

Arbeitskräften getroffen. Es sah sowohl eine anonyme als auch eine namentliche An¬

werbeform vor. Bei der anonymen Anwerbung meldete der Arbeitgeber seinen

Arbeitskräftebedarf an die Bundesanstalt für Arbeit, die gemeinsam mit der türkischen Arbeitsverwaltung geeignete Arbeitskräfte in der Türkei suchte. Die Angeworbenen

wurden nach einer medizinischen Untersuchung mit einer Einreise- und Arbeits¬

erlaubnis ausgestattet und nach Deutschland gebracht. Die Organisationsform der

anonymen Anwerbung gestattete den Arbeitssuchenden keinen Einfluß auf die Auswahl ihres Arbeitsortes. Migrationswillige Türken bevorzugten jedoch in der Regel Städte, in denen bereits Verwandte oder Freunde arbeiteten. Deshalb versuchten sie zunehmend

' Die Ausfiihrungen sind vorläufige Ergebnisse einer laufenden Untersuchung der Universität Bamberg, die am Lehrstuhl für Türkische Sprache, Geschichte und Kultur unter Leitung von Prof Klaus Kreiser durchgeführt wird. Siehe auch: L. YALgiN-HECKMANN/ H. UNBEHAUN/ G. STRASSBURGER: Türkische Muslime in Bamberg und Colmar. In: INAMO-Beiträge 3 (1995), S.42-49.

' F. Heckmann: Ethnische Minderheiten, Volk und Nation. Soziologie inter-ethnischer Beziehungen.

Smttgart 1992, S. 80-83.

(2)

über Kontaktpersonen in Deutschland einen Arbeitsplatz zu fmden und sich vom

Arbeitgeber namentlich anwerben zu lassen. Gegen Ende der Anwerbephase gewann

die namentliche Anwerbung stark an Bedeutung. Im Gegensatz zur anonymen folgte sie dem Muster der Kettenmigration, was die Verwandtschaftsdichte der Migrantenkolorue erhöhte.-'

Die Anwerbephase endete im November 1973, als infolge der einsetzenden Be¬

schäftigungskrise ein Anwerbestop ausgesprochen wurde, dessen Einhaltung fortan

streng kontrolliert wurde.

In Bamberg wurden ab Mitte der 60er Jahre türkische Arbeitskräfte angeworben, vor allem als Fabrikarbeiter in mittelgroßen Firmen der Metall- und Textilindustrie. In der allerersten Phase der Migration waren Mäimer noch deutlich in der tjberzahl, danach

kamen bis zum Anwerbestop etwa genauso viele Männer wie Frauen. Dies ist mit der

damals hohen Bedeutimg der Texhlindustrie in Bamberg zu erklären, für die bevorzugt

Frauen angeworben wurden. Bis 1973 kamen auch die Ehefrauen der türkischen

Arbeiter in der Regel nicht im Rahmen des Familiennachzugs, sondem als Arbeite¬

rinnen, so daß in vielen Haushalten beide Ehepartner bemfstätig waren. Die Männer arbeiteten häufig in Nachtschicht und verbesserten ihren Lohn durch Schichtzulagen.

Die angeworbenen Arbeitnehmer konnten die Situation des Arbeitskräftemangels

während der Anwerbephase nutzen: sie setzten Lohnfordemngen durch, um Unterbe¬

zahlung auszugleichen, oder wechselten zu Firmen, die höhere Löhne boten. Sie

tauschten Informationen über vorteilhaftere Arbeitsbedingungen in anderen Firmen und

Städten aus und versuchten, wenn möglich, dorthin zu wechseln oder Verwandte zu

vermitteln. Innerhalb der relativ langen Anwerbephase gelang vielen Türken in

Bamberg der bemfliche Aufstieg. So sicherten sie sich einen Arbeitsplatz, den sie auch in konjunkturellen Krisenzeiten der 70er und 80er Jahre behalten konnten.

Die in den 60er Jahren vorherrschende anonyme Anwerbepraxis ließ Arbeiter aus der

ganzen Türkei nach Bamberg koinmen, so daß es zu keiner nennenswerten Konzen¬

tration von Herkunftsgmppen kam. Die türkische Kolonie in Bamberg zeichnet sich

vielmehr dadurch aus, daß aus nahezu jeder türkischen Provinz und Region Familien

vertreten sind. Die spätere Kettenmigration von namentlich angeworbenen Arbeits¬

kräften umfaßte in der Regel lediglich den engeren Verwandtschaftskreis der Erst-

ankömmlinge. Größere Verwandtschaftsgmppen haben sich nur vereinzelt gebildet.

1973, am Ende der Anwerbephase, war in Bamberg die Basis für eine türkische

Kolonie gelegt, die über 1000 Personen zählte. In der Folge nahm die türkische

Bevölkerung in erster Linie durch Familiennachzug und Geburten zu. Der größte Teil

'Ibid.S. 100 ff.

(3)

Bamberg: Wohnbevölkerung türkischer Herkunft 1962-1994

t

gemeldete Einwohner türkischer Herkunft

1600

1400

1200

1000

800

600

400

200

November 1973:

Anwerbestopp

Rückkehrhilfegesetz 1.10.82 - 30.9.84

1961: Anwerbevertrag

Türkei-BRD 1 .

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t-- Jahre

(4)

Colmar: Wohnbevölkerung türkischer Herkunft 1974-1990 gemeldete Einwohner

türkischer Herkunft

Angaben zum Jahresende

1800

1600

1400

1200

1000

total

Kinder < 16 Jahre

Männer > 16 Jahre

Frauen > 16 Jahre

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Quelle: La Ville de Colmar, Sen/ice d'lnformation: Colmar en Chiffres. Verschiedene Jahrgänge. Die Angaben für 1983 sind identisch mit den Werten für das Jahr 1982.

(5)

446 Gaby Strassburger

der türkischen Migration nach Bamberg beruht somit auf einer von deutscher Arbeit¬

geberseite initiierten Arbeitsmigration, die im Rahmen eines organisierten Anwerbungs¬

prozesses erfolgte.

In Frankreich hingegen fand eine eher spontane Zuwanderung türkischer Arbeits¬

migranten statt, die sich mit dem Begriff immigration sauvage umreißen läßt. Dort

wurde im Zuge des Konjirnktiuaufschwungs der 60er Jahre ein Wandel der Produk¬

tionsstruktur vollzogen, diuch den der sekundäre Sektor an Bedeutung gewarm. Er

führte zu einem stark wachsenden Bedarf an unqualifizierten Arbeitskräften, den die bis

dato betriebene Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften nicht mehr decken

konnte. Bereits 1945 hatte man den Office National d'Immigration (ONI) gegründet, eine staatliche Steuerungsinstitution, die die Anwerbung und Integration ausländischer

Arbeiter aus vorwiegend europäischen Ländem organisieren sollte. Doch wegen der

langwierigen Vermittlungsprozeduren griffen Arbeitgeber zunehmend auf Arbeitskräfte zurück, die nicht vom ONI vermittelt waren. So entwickelte sich ein dualistisches System der Ausländerbeschäftigung, das zahlreiche Laissez-faire-Elemente enthielt. Bis

1973 zog sich der Staat nahezu vollständig aus der Anwerbung zurück. Seine Rolle

beschränkte sich im wesentlichen auf die medizinische Kontrolle und die nachträgliche Legalisierung der von Arbeitgebem direkt angeworbenen oder spontan als "Touristen"

eingereisten Ausländer."

Am 8.4.1966 schloß Frankreich eine Anwerbevereinbarung mit der Türkei. Für die

Tiukei war es nach den bilateralen Abkommen mit Deutschland und Österreich (1964) die dritte Anwerbevereinbamng. Die "Quasi-Monopolstellung"' Deutschlands für die Anwerbung türkischer Arbeitskräfte blieb jedoch weitgehend erhalten. Erst als nach dem Anwerbestop im November 1973 der deutsche Arbeitsmarkt für Arbeitsmigranten verschlossen blieb, nutzten viele Türken das "Schlupfloch" Frankreich und ließen sich

bevorzugt im grenznahen Elsaß nieder. Im Juli 1974 wurde auch in Frankreich ein

Anwerbestop verhängt, der jedoch häufig umgangen wurde.

Die Migration tiukischer Arbeiter nach Colmar nahm erst ab 1972 nennenswerte Ausmaße an. Die Anwerbung der türkischen Migranten fand größtenteils unorganisiert statt und blieb der Initiative einer Vielzahl kleinerer Untemehmer überlassen. So erhieh das Prinzip der Ketteiunigration starkes Gewicht. Türkische Arbeiter waren vor allem in der Baubranche und in der Landwirtschaft (Weinbau) sehr gefragt, wo Inhaber von Familien- und Kleinbeöieben händeringend Arbeitskräfte suchten und sie baten, ihnen

' S. ANGENENDT: Ausländerforschung in Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland. Gesell¬

schaftliche Rahmenbedingungen und inhaltliche Entwicklung eines aktuellen Forschungsbereiches.

Frankfurt/Main, New York 1992, S. 22 ff. und R. D. Grillo: Ideologies and institutions in urban France. The representation of immigrants. Cambridge u.a. 1985, S. 47.

' N. Abadan-Unat; Turkish workers in Europe 1960-1975. A socio-economic reappraisal Leiden 1976, S. 6.

(6)

Verwandte aus der Türkei zu vermitteln. In Colmar haben sich vorwiegend Migranten aus unterprivilegierten Gebieten der Türkei angesiedelt, meist aus den zentralanato¬

lischen Provinzen Yozgat, Sivas und Qorum, den nordostanatolischen Erzincan,

Erzurum und Gümü§hane sowie aus dem südlichen Teil der Provinz Konya.

Die meisten Migranten betrachteten das Elsaß zimächst als Zwischenstation, um ins benachbarte Deutschland zu gelangen. Der frühe Beginn, die konsequente Durchfüh¬

rung und der größere Umfang der deutschen Anwerbung von Arbeitskräften hatten dazu geführt, daß "Almanya" im Bewußtsein der Türken das Migrationsziel schlechthin darstellte, mit dem Frankreich nicht konkurrieren konnte. In erster Linie kamen also diejenigen nach Cohnar, die wegen der Rezession in Deutschland (1966/67) oder wegen mangelnder Qualifikation keine unmittelbare Möghchkeit hatten, nach Deutschland zu gehen. In der Folgezeh entwickelte sich die Region zunehmend von einer Durchgangs¬

station zu einem Auffangbecken für türkische Arbeitskräfte, denen der Weg ins

Nachbarland versperrt war - insbesondere nach dem Anwerbestop Ende 1973.'

Vergleicht man die Kolonien in Bamberg und Colmar am Ende der ersten Migra¬

tionsphase (1973/74), so lassen sich deutliche Unterschiede erkennen. Das in

Deutschland und Frankreich unterschiedlich gehandhabte Anwerbeabkommen mit der

Türkei hat die Struktur der türkischen Kolonien nachhaltig geprägt. Während der fast

ein Jahrzehnt dauemden Anwerbephase gelang es den türkischen Arbeitsmigranten in

Bamberg, sich als ein Teil der lokalen Fabrikarbeiterschicht zu etablieren. Diese Stellung blieb auch in der Folgezeit weitgehend unangetastet. Viele türkische HaushaUe

konnten ihre ökonomische Situation durch Aufstieg in der Lohnhierarchie, Nacht¬

schichtzuschläge und doppeltes Haushaltseinkommen stabilisieren. Zwar mag der

Vergleich mit anderen, früher zugewanderten Ausländergmppen in Bamberg weniger

positiv ausfallen, doch im Vergleich zur türkischen Kolonie in Colmar erscheint die

Kolonie in Bamberg zum Ende der ersten Migrationsphase gut in den lokalen Ar¬

beitsmarkt integriert.

Die türkische Bevölkerung in Cohnar dagegen war schon Anfang der siebziger Jahre

zu einem großen Teil darauf angewiesen, mit schlecht bezahlten und gefährdeten

Hilfsarbeitertätigkeiten in Familien- und Kleinbetrieben ihren Lebensunterhalt zu

sichern. Sie kann in mehrerlei Hinsicht als eine Gmppe der "Zuspätgekommenen"

bezeichnet werden: erstens, weil es ihnen nicht mehr gelang, nach Deutschland zu

' Die Tatsache, daß viele, die in Cohnar blieben, das ursprünglich erstrebte Migrationsziel Deutschland nicht erreichen konnten, hat sich in einem negativen Selbstbild der Kolonie niedergeschlagen. Im häufig angestellten Vergleich mit den Türken m Deutschland erscheinen ihnen die Frankreich-Türken

"ungebildet, unmodern und zurückgeblieben". Die Ursache wird in der ersten Phase der Migration vermutet, in der nur die von den Deutschen "ausgesonderten" und abgewiesenen Türken in Frankreich geblieben seien, so daß deren durchschnitdiche Qualifikation von Anfang an erheblich schlechter als die der Türken jenseits des Rheins gewesen sei.

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448 Gaby Strassburger

migrieren; zweitens, weil sie erst zu einem Zeitpunkt nach Frankreich kamen, zu dem attraktive Bereiche des Arbeitsmarktes bereits von fi^er zugewanderten Nationalitäten besetzt waren. Deshalb standen ihnen ntu noch die niedrigsten Berufspositionen offen.

Schließlich sind sie drittens auch insofem zu spät gekommen, als nur ein geringer Teil

der zum momentanen Zeitpunkt (1995) in Colmar lebenden Türken während der

Anwerbephase migriert ist. Die eigentliche Koloniebildung hat sich im wesentlichen

(u.a. durch illegale Zuwanderung tmd Asylsuche) erst nach dem Anwerbestop, also zu

einem von französischer Regierungsseite imerwünschten Zeitpunkt, vollzogen, wie im

weiteren noch dargestellt wird.

Die türkische Migration nach Colmar ist vor allem während der ersten Zuwan-

demngsphase vorwiegend als Nebenprodukt der Migration nach Deutschland zu

betrachten. Von der staatlichen Anwerbung blieb sie nahezu imbeeinflußt. Die starke

Bedeutung der Kettenmigration führte zur Entwicklung einer relativ homogenen

Population mit hoher Verwandtschaftsdichte, die ohne vorherige Binnenmigration

direkt aus ländlichen Regionen nach Frankreich kam. In Bamberg dagegen sind die

Herkunftsstmkturen der türkischen Kolonie sehr heterogen.

Im Anschluß an die Anwerbephase wandelte sich die demographische und soziale

Zusammensetzimg der tiukischen Bevölkerung in Deutschland. Ausschlaggebend dafür

war zunächst der Anwerbestop selbst. Er führte dazu, daß viele an sich rückkehrwillige ausländische Arbeitskräfte in der Bundesrepublik bheben, weil eine emeute Einreise

und Arbeitsaufnahme fortan ausgeschlossen war. Im Zuge dieser neu entwickelten

"Bleibeperspektive" wurden die Familien allmählich durch Nachzug vervollständigt.

Als ab 1975 die Kindergeldzahlungen fur im Heimatland verbliebene Kinder reduziert wurden, entstand ein weiterer Anreiz zum verstärkten Familiennachzug.'

Dem Regiemngswechsel folgte 1983 ein Rückkehrfordemngsgesetz, von dem in

erster Linie türkische Migranten Gebrauch machten. Knapp 20% der Migranten

verließen Bamberg. Die "Verbliebenen" hatten sich gewissermaßen gegen die baldige Remigration entschieden und wußten, daß sie auf absehbare Zeit in Deutschland bleiben

würden: Die wirtschaftlichen Verhältnisse in der Türkei erlaubten keine baldige

Rückkehr, so daß man "sich in Deutschland einrichtete". Die Wohnungen wurden

größer, man schaffte sich modemes, neues Mobiliar an - ohne jedoch das Ideal der

Rückkehr ganz aufzugeben. Bei der Wohnungssuche machten sich langjährige

Arbeitsplatzfreundschaften zu deutschen Kollegen positiv bemerkbar, ohne deren Hilfe es vielen Türken nur schwer gelungen wäre, angemessene und bezahlbare Wohnungen zu fmden.

Die zum Zeitpunkt des Anwerbestops noch relativ unbedeutende türkische Kolonie in Colmar erfiihr in der zweiten Migrationssphase eine dynamische Entwicklung durch

' ANGENENDT: op. cit. (Anm. 4), S. 157-159.

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Geburten und Familiennachzug. Die Tatsache, daß die türkische Arbeitsmigration nach Cohnar erst kurz vor dem Anwerbestop eingesetzt hat, führte dazu, daß die Beschäfti¬

gungskrise der 70er Jahre in der türkischen Arbeimehmerschaft sehr stark zu spüren

war. Die Berufsbiographie der meisten türkischen Migranten ist von zahlreichen

Arbeitsplatzwechseln sowie früh aufft-etenden und sich häufig wiederholenden Zeiten der Arbeitslosigkeit gekennzeichnet. Der materielle Lebensstandard der türkischen Kolonie in Cohnar ist niedrig, imd schon Mitte der 70er Jahre gerieten manche Familien in wirtschaftliche Not.

Gleichzeitig wurde die Arbeitsmigration - wenngleich illegal, so doch nahezu

ungebremst - auch nach 1974 fortgesetzt. Zahlreiche Arbeitgeber waren weiterhin

interessiert, kostengünstige Arbeiter aus der Türkei zu beschäftigen. Der politische Um¬

gang mit illegaler Einwanderung beschränkte sich auf spektakuläre Einzelaktionen, die zu einer zunehmenden Verunsicherung der Ausländer führten und sie noch stärker zur

Annahme von schlecht bezahlten und risikoreichen Arbeitsplätzen zwangen. Konse¬

quente und systematische Maßnahmen gegen die illegale Beschäftigung woirden von der konservativ-liberalen Regierung jedoch nicht unternommen.* Da es in Frankreich keine

Meldepflicht gibt und illegaler Aufenthah bis 1981 keinen Ausweisungsgrund

darstellte,' blieben Illegale in der Regel unbehelligt. Zur Sicherung ihres Lebens¬

unterhaltes waren sie auf Schwarzarbeit angewiesen, die sie hauptsächlich in der

Landwirtschaft und im Baugewerbe fanden. Die Verbreitung von solchen illegalen,

schlecht bezahlten und ungesicherten Arbeitsverhältnissen ließ den allgemeinen

Lebensstandard in der Colmarer Kolonie weiter sinken.

Mitterands Wahlsieg im Mai 1981 leitete eine umfassende Umorientierung in der

Ausländerpolitik ein. Er veranlaßte eine Legalisierungskampagne für illegal in

Frankreich lebende Ausländer, die bis Oktober 1982 andauerte. Zahlreiche Türken, die sich bisher illegal in Frankreich aufgehalten hatten, machten davon Gebrauch.'" Die tiükische Bevölkerung in Colmar erflihr in dieser Zeit eine große Zunahme. Die Regu-

larisierungsoption in Frankreich zog auch eine große Zahl von Migranten aus

Deutschland, Belgien und den Niederlanden an, die sich dort bis dato illegal aufgehalten

hatten. Die Zuwanderung war unproblematisch, und die benötigten Unterlagen - etwa

Briefe oder Rechnungen, die einen längeren Aufenthalt glaubhaft erscheinen ließen -

'Ibid.,S. 27.

' W. JUST/A. GroH: Wanderarbeiter in der EG. Ein Vergleich ihrer rechtlichen und sozialen Situation in den wichtigsten Aufnahmeländem. Bd. 2: Länderberichte. Mainz, München 1985, S. 50.

'"France, Italie, Espagne, Etats-Unis: La regularisation des clandestins. In: Hommes & Migrations no.

1139 (1991), S. 28-31; demnach waren 8,6% der insgesamt 124.101 legalisierten Ausländer Türken. Vgl.

auch R. CEALIS u.a.: Immigration clandestine, la regularisation des travailleurs 'sans papiers ' (1981- 1982). Bulletin mensuel des statistiques de travail, supplement no. 106 (1983) und J.-P. Garson:

Migrations clandestines, regularisations et marche du travaü en France. Contraintes nationales et intemationales. orbing Paper, Bureau üitemational du ttavail. Geneve 1985.

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450 Gaby Strassburger

sowie eine Scheinadresse heßen sich von "Vermittlem" beschaffen. Die Grenznähe und

der weitverbreitete elsässische Dialekt machten Colmar besonders für Türken aus

Deutschland attraktiv. Auch aus der Tiukei wanderten in dieser Zeit - kurz nach dem Militärputsch - angeblich einige tausend Personen in die elsässische Region zu."

Ende der 80er Jahre stieg die Zahl der tiukischen Bevölkerung emeut sprunghaft an, als zunehmend Asylbewerber aus der Ttü^kei eintrafen.'^ Frankreich galt als ein Land,

in dem vor allem Kurden keine Probleme hatten, als politisch verfolgt anerkannt zu

werden. Die Anerkeimimgsquote lag 1988 bei ca. 20 % und damit deutlich höher als in der Bundesrepublik." Weil Frankreich im Gegensatz zu Deutschland kaum Asylanten¬

unterkünfte keimt und die gewährte finanzielle Unterstützung recht niedrig ist, kamen

die türkischen Asylbewerber in Colmar hauptsächlich bei Verwandten unter. Die

ohnehin beengte Situation in ghettoähnlichen Wohnverhältnissen verschlechterte sich durch diese "Dauergäste" iun ein weiteres. Einige türkische Selbständige im Bauge¬

werbe nutzten ihre neuangekommenen Landsleute als billige Arbeitskräfte aus. Die

türkischen Asylbewerber wurden meist illegal und zu Billiglöhnen beschäftigt und

drückten somit das Lohnniveau. Danmter litten vor allem die türkischen Arbeits¬

migranten, die wegen der Billigkonkurrenz keine bzw. nur noch schlecht bezahlte

Arbeitsplätze fanden. Es erfolgte eine Unterschichtung der türkischen Arbeiterschaft.

Schließlich wurde im Oktober 1991 ein Arbeitsverbot für Asylbewerber verhängt. In

der Folge nahmen die türkischen Asylanträge rapide ab.'"

Betrachtet man zusainmenfassend die sozialstrukturelle Entwicklung der türkischen Kolonien in Bamberg und Colmar, so weisen sie in beiden Migrationsphasen deutliche

Unterschiede auf In Bamberg konnten sich die türkischen Migranten während der

Anwerbephase aufgmnd der günstigen Nachfragesituation aufdem Arbeitsmarkt eta¬

blieren. Die einmal erreichte Stellung blieb ihnen auch nach dem Anwerbestop trotz der

angespannten Lage auf dem Arbeitsmarkt weitgehend erhahen. Daneben gelang es

ihnen mit zunehmender Aufenthaltsdauer, ihren aufenthahsrechtlichen Status zu ver¬

bessem.

Die Türken in Colmar hingegen konnten wegen ihrer verspäteten Migration nicht

mehr von der gimstigen Arbeitsmarktsituation der ersten Phase profitieren; die Kolonie

" Von den "alteingesessenen" Colmarer Türken werden die Neuzugänge des Jahres 1982 als "Mitterand- Arbeiter" bezeichnet, prägnanter könnte man den Einfluß der französischen Regierangspolitik auf die Gestaltung der türkischen Kolonie kaum benennen.

" 1989 wurden laut Auskimft der Departementverwaltung 1231 der 1356 Asylanträge in Haut-Rhin von Personen aus der Türkei gestellt.

" K. MaNFRASS: Türken in der Bundesrepublik - Nordafrikaner in Frankreich. Ausländerproblematik im deutsch-französischen Vergleich. Borm 1991, S. 33 f.

" Die Zahl türkischer Asylanfräge in Haut-Rhin ging von 308 im Jahr 1991 auf 68 im Jahr 1992 zurück.

(Auskunft der Departementverwaltung).

(10)

gründete sich erst nach dem Anwerbestop. Ein bedeutender Teil der Migranten wich in die Schattenwirtschaft aus. Viele kamen auf illegalen Wegen oder als Asylbewerber nach Colmar tmd hatten einen unsicheren Aufenthaltsstatus. Im "Einwanderer- und Asylland" Frankreich trafen sie auf eine relativ tolerante Haltung von Regierungsseite.

Die mißlungene Integration der türkischen Kolonie in den regulären Arbeitsmarkt

erfährt gegenwärtig angesichts der dramatisch hohen Jugendarbeitslosigkeit in der

zweiten Generation eine nochmalige Verschärfung.

In vielerlei Hinsicht ist die unterschiedliche gesellschaftliche Stellimg der tiukischen Kolonien in Bamberg und Cohnar als Resultat der unterschiedlichen Handhabung poli¬

tisch-juristischer Steuerungsinstrumente in Deutschland und Frankreich zu bewerten.

Am Beispiel der türkischen Kolonie in Bamberg wird deuthch, wie sich eine

konsequent verfolgte Beschäftigungspolitik, die mit der kontrollierten Einwanderung ausländischer Arbeitskräfte verbunden war, langfristig positiv auf die sozialstrukturelle

Stellung der Immigranten ausgewirkt hat. Anhand des Entstehungsprozesses der Ko¬

lonie in Colmar ist zu sehen, daß Steuerungsinstrumente nicht nur im Territorium desjenigen Landes wirken, in dem sie eingesetzt werden. Viehnehr strahlt ihre Wirkung

auf umliegende Staaten aus. Die Zuwanderung türkischer Migranten ins Elsaß kann zu

einem großen Teil als indirekte Folge rigider Steuerungsprozesse (kontrollierter Anwerbestop, verschärfte Asylgesetzgebimg, Ausweisung Illegaler) in Deutschland interpretiert werden. Andererseits entwickelte die in Frankreich zeitweise verfolgte Regularisienmgspolitik große Anziehungskraft, die sich auch auf seine europäischen

Nachbarländer ersfreckte. Es sollte daher im Eigeninteresse der europäischen Ein¬

wanderungsländer liegen, eine konsequente Beschäftigungs- und Immigrationspolitik anzustreben, die sowohl der demographischen Entwicklung als auch den Erfordemissen

des Arbeitsmarktes Rechnung trägt und in einem gesamteuropäischen Rahmen

verankert ist.

(11)

Burgen und Lager der zentralasiatischen Nomaden

Von Käthe Uray-Köhalmi, Budapest

Von den Nomaden des asiatischen Steppengürtels berichteten sowohl die alten griechi¬

schen wie die alten chinesischen Quellen, daß sie mit ihren Herden in der Steppe her- umwandem, ohne ständige Siedlungen zu haben. Allerdings wird von Herodot (IV. 108) bemerkt, daß die "Budiner" eine große, aus Holz gebaute Stadt haben, die "Gelönos"

heißt. Dementgegen passen in das Bild, das von den Skythen allgemein verbreitet ist, die Worte des Skythenkönigs Idanthyrsos zum persischen Herrscher Dareios: " König der Perser, was mich betrifft, flüchtete ich nie feig, weder jetzt, noch früher, imd so flüchtete ich auch nicht vor dir. Ich verfahre nur so wie im Frieden und werde es dir auch erklären, warum ich mich nicht in eine Schlacht stürzte. Wir Skythen haben weder Städte noch bebaute Felder, wir bangen nicht, denn ihr könnt uns nichts wegnehmen, und darum auch suchen wir nicht den Kampf mit euch." In vollständigem Einklang mit dieser Aussage steht die Wamung des weisen Tonyuquq an Bilge Qayan, daß es für die Türken nicht ratsam sei, Festungen zu bauen, sie könnten diese nicht verteidigen; es sei besser, wenn sie so lebten wie ihre Väter.'

Dennoch fmden sich in der Steppe große Erdwälle und Ruinenfelder, das kann jeder bestätigen, der in der Mongolei das Land bereiste. Das beweist, daß die Nomaden doch befestigte Lager oder Städte hatten. Zum besseren Erkermen der Lebensweise und Kultur der irmerasiatischen Nomaden wird es vielleicht nicht ohne Nutzen sein, werm wir einen Überblick über die Bauten der Steppennomaden geben.

Jettmar bemerkt schon in seinem Buch über Die frühen Steppenvölker, daß entgegen

den Behauptungen Herodots in den Südmssischen Steppen bei Kamenskoe Gorodisce

eine skythenzeitliche Wallanlage von 12 qkm gefunden worden war.^ Auch in den

Waldsteppen südlich vom Altai-Gebuge wurden skythenzeitliche Wallburgen ausgegra¬

ben, wahrscheinlich an der Grenzlinie von Nomaden und Waldvölkem. Diese Anlagen

waren eigentlich mit Erdwällen umgebene große Einfriedungen, wohin sich die Leute

mit ihrem Vieh flüchten konnten; sie waren nicht ständig bewohnt.

Zur Huimenzeit erscheinen teils an der Waldgrenze in Transbaikalien, bei Ivolga,' teils un chinesischen Grenzgebiet, in der Gobi, befestigte Siedlungen. Diese hatten aber

' Vgl, A. V. Gabain: Steppe und Stadt im Leben der ältesten Türken. In: Der Islam (1950), S. 30-62, hier: S. 33; LlU Mau-TSAI: Die chinesischen Nachrichten zur Geschichte der Ost-Türken (T'u-küe).

1. Buch: Texte. Wiesbaden 1958, S. 224.

' K. Jettmar: Die frühen Steppenvölker Baden-Baden 1964, S. 33, 49, 72.

' A. V. Davidova: The Ivolga gorodishche. In: AOH 20 (1968), S. 209-45.

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