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Ein exzentrischer deut- scher Arzt und der Wettlauf um Afrika

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Patricia Clough, Emin Pascha, Herr von Äquatoria. Ein exzentrischer deut- scher Arzt und der Wettlauf um Afrika. Aus dem Engl. von Peter Torberg, München: DVA 2010, 336 S., EUR 22,99 [ISBN 978-3-421-04376-4]

Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der aufgeflammten Aktivitäten und Wortmel- dungen der sich selbst gern als zivilgesellschaftliche Institution bezeichnenden zu- meist jüngeren Aktivisten, die ihre Forderungen zur Auseinandersetzung mit der deutschen kolonialen Vergangenheit gern damit begründen, dass es zu wenig ko- lonialhistorische Literatur auf dem deutschen Büchermarkt gibt, sei das Buch der Journalistin Patricia Clough über ein nicht unbedeutendes Kapitel deutscher Ko- lonialgeschichte in Form einer Biografie vorgestellt. Allerdings handelt es sich hier- bei nicht um eine wissenschaftliche Biografie für ein akademisches Publikum. Und allein schon aus diesem Grunde ist das Buch kritisierbar, weil dem Fachmann doch Lücken oder Fehleinschätzungen des historischen Umfelds auffallen. Aber wer als kundiger Leser zu der Lektüre greift, weiß dies bzw. wird keine anderen Erwar- tungen haben.

Als Eduard Schnitzler im schlesischen Oppeln 1840 geboren, verdingte sich Emin Pascha nach erfolgreichem Medizinstudium an verschiedenen deutschen Universitäten zunächst als Arzt im Osmanischen Reich. Er war als Quarantänearzt in Albanien tätig, bevor er nach Afrika reiste. Dort machte ihn der britische Gou- verneur von Äquatoria, eine Provinz des osmanischen Kolonialreiches im Süden des Sudan, zum Sanitätsoffizier und schließlich sogar zu seinem Nachfolger. Un- ter seiner Führung wurde Äquatoria in den 1880er Jahren selbstständig.

Emin Pascha engagierte sich bei der Erforschung von für Europäer noch unbe- kannten Gebieten und trat gegen den Sklavenhandel auf. Seine Bemühungen, eu- ropäische Vorstellungen, etwa zum Siedlungs- und Straßenbau umzusetzen, blie- ben weitgehend erfolglos.

In der Tat ist der Verlagswerbung zuzustimmen, dass Eduard Schnitzler, der zum Islam konvertierte und sich den Namen Emin Pascha selbst zugelegt hat, in der deutschen Kolonialgeschichtsschreibung bzw. in der Entdeckungsliteratur weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Diese Feststellung trifft vornehmlich für die historischen Überblickswerke zur Kolonial- und Entdeckungsgeschichte zu (al- lerdings muss auf die Existenz von mehreren in den abschließenden Literaturhin- weisen nicht genannten neueren Büchern und wissenschaftlichen Studien, die Emin Pascha oder bestimmte Aspekte seiner Lebensleistung zum Inhalt haben, ver- wiesen werden, wie Meissner 1986, Kraft 1976, Zeilinger 2003, Lordick 2005 und 2007, Schweitzer 2008, Reichard 2009, Stöger 1974, Schyuse 2010).

Die relativ bescheidene Aufmerksamkeit, die Emin Pascha in der Fachliteratur jüngeren Datums fand, ist eigentlich verwunderlich, führte er doch ein ausgesprochen interessantes, weil abenteuerliches Leben, welches Patricia Clough anschaulich und überzeugend schildert. Die Autorin macht die Darstellung dadurch plastischer, indem sie auch auf überlieferte Charaktereigenschaften und Mentalitätsfragen ihres Helden eingeht und ihre biografischen Ausführungen in das sogenannte Scramble for Africa einzubetten versucht.

Das Buch besteht aus 27 Kapiteln, gegliedert in drei Komplexe, einem Prolog sowie einem Epilog. In den Text sind historische Abbildungen platziert, die zu- meist aus älteren Büchern stammen.

Emin Pascha alias Eduard Schnitzler wurde 1892 im Kongogebiet durch Skla- venhändler ermordet. Geradezu spannend lesen sich die Ausführungen über die

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zwei Rettungsexpeditionen, die Emin Pascha suchen sollten, weil er seit einiger Zeit verschwunden war und in der deutschen Öffentlichkeit über sein Schicksal viel spekuliert wurde. Aber neben der Sorge um das Wohl des Vermissten hatten die Expeditionen die Aufgabe, festzustellen, ob sich eine Besitznahme der südlich von Äquatoria gelegenen Region, in der wenige Jahre zuvor die Nilquellen ent- deckt worden waren, für das Deutsche Reich lohnen würde. Emin Paschas Schick- sal wurde hier mit den Lebenswegen von Hermann von Wissemann, Carl Peters und Henry Morton Stanley verknüpft.

Erwähnenswert ist auch der Versuch der Autorin, die öffentliche Anerkennung des Kolonialverbrechers Carl Peters der Person und der Lebensleistung von Emin Pascha gegenüberzustellen (S. 324). Sie vertritt die Auffassung, dass die National- sozialisten in Peters einen »Bruder im Geiste« gesehen hätten und ihn mit Straßen- umbenennungen, Theaterstücken und Film verherrlichten, wohingegen Emin Pa- scha schon wegen seiner jüdischen Herkunft in Vergessenheit geraten sei.

Dafür, dass er wieder ein wenig ins Bewusstsein der heutigen Leserschaft ge- rückt worden ist, gebührt Patricia Clough Dank. Mit dem Buch einen neuen Zu- gang zur Kolonialgeschichte gefunden zu haben, ist wohl eher eine Wunschvor- stellung des Verlages, denn über die europäische Kolonialgeschichte arbeitende Historiker werden nicht zuletzt wegen des offensichtlichen Negierens archiva- rischer Quellen und der weitgehenden Umgehung der Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur wohl eher selten zu diesem Buch greifen. Aber allen an- deren sich für die deutsche Kolonialgeschichte interessierenden und sich in anti- kolonialen Aktionen engagierenden Lesern sei es empfohlen.

Ulrich van der Heyden

Dieter Oelke, Kaiserliche Kriegsspiele am Beispiel der Herbstmanöver 1911 zwischen Rhein, Main und Lahn mit Aufzeichnungen des Unteroffiziers Jo- hann Hacker, Heidelberg [u.a.]: Verlag Regionalkultur 2010, 110 S., EUR 24,00 [ISBN 978-3-89735-649-8]

Die zweite Marokkokrise und der damit einhergehende Konflikt zwischen den europäischen Großmächten waren die bestimmenden Themen des Jahres 1911. Die Entsendung eines kleinen deutschen Kanonenbootes nach Nordafrika brachte Frankreich und Deutschland sowie das einschreitende Großbritannien an den Rand einer militärischen Auseinandersetzung. Obwohl der Konflikt letztlich friedlich beigelegt wurde, heizten die Ereignisse die nationalistisch-aggressive Stimmung nicht nur in der deutschen Öffentlichkeit an. Vor diesem Hintergrund fanden vom 22. August bis 20. September die Herbstmanöver des Jahres 1911 im Bereich des XVIII. Armeekorps in der preußischen Provinz Hessen-Nassau und dem Großher- zogtum Hessen statt, denen sich Dieter Oelke in der vorliegenden Darstellung wid- met. Bei der Betrachtung stützt er sich auf Akten aus dem Bundesarchiv-Militär- archiv in Freiburg i.Br., sowie auf eine Vielzahl zeitgenössischer Zeitungen aus Hessen-Naussau und dem Großherzogtum Hessen. Seine Hauptquelle sind jedoch die Tagebücher von Johann Hacker. Hacker war ein Einjährig-Freiwilliger und Ver- wandter des Autors, der als Reservist des Infanterieregimentes 81 die Herbstma- növer 1911 miterlebte.

Der Autor beginnt seine mit 16 Kapiteln sehr kleinteilig ausgeführte Darstel- lung mit verschiedenen Sachverhalten, die nur bedingt für die Betrachtung des ei-

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gentlichen Themas von Bedeutung sind. Das Großherzogtum Hessen wird ebenso beschrieben wie die Lebenswege seines Monarchen Ernst Ludwig, 1918 kurzzei- tig König von Finnland, und des Chefs des Infanterieregiments 81, Prinz Friedrich Karl von Hessen-Kassel. Auf diese Abschnitte folgt die Vita Johann Hackers bis zum Jahre 1911. Ausführlich schildert der Autor die Kaiserparade in Mainz am 11. August 1911, die sich anschließende Exerzierübung und die kaiserliche Früh- stückstafel. Erst dann folgt die Darstellung der titelgebenden Übungen und Ma- növer. Geführt von General Hermann von Eichhorn – vom Autor abschätzig als

»Spielleiter« tituliert – nahmen 40 000 Soldaten an den Übungen teil. Eingeleitet wurden die Manöver von Übungen auf Regiments- und Brigadeebene. Obwohl dem Titel nach der zentrale Gegenstand der Arbeit, wird das Manövergeschehen nur kurz, meist mithilfe langer Zitate aus regionalen Tageszeitungen beschrieben.

Weitaus mehr Interesse zeitigt der Autor diversen Randerscheinungen. So finden ausländische Manöverbeobachter ebenso Beachtung wie das Benehmen der ad- ligen Besucher und die rege, begeisterte Anteilnahme der Bevölkerung an den Übungen und Durchmärschen der beteiligten Einheiten. Der Frage nach dem Zweck der Manöver geht der Autor leider nicht nach. Interessant wäre etwa gewe- sen, zu fragen, in welche gesamtstrategischen Planungen der Zeit sich die Übungen einordnen lassen. Oelke wertet die Kaiserparade und das militärische Zeremoni- ell, das die Manöver begleitete, als Ausdruck eines »unkritischen Hurra-Patriotis- mus«, die militärischen Übungen lediglich als ein Spiel, »bei dem es vor allem da- rauf ankam, möglichst viel Spaß zu haben«. Dem widerspricht jedoch die Nutzung militärtechnischer Neuerungen – etwa des Maschinengewehrs, des Autos, des Feld- telefons oder des Scheinwerfers. Sie alle finden jedoch nur am Rande Erwähnung.

Lediglich dem Einsatz des Flugzeuges widmet der Autor ein eigenes Kapitel. Der erstmalige Gebrauch von Flugmaschinen bei einem Manöver in Deutschland zeigt, dass der Nutzen der neuen Waffe zumindest auf dem Gebiet der Aufklärung er- kannt wurde, auch wenn die Leistung der frühen Flugzeuge noch sehr begrenzt war.

Losgelöst von der Darstellung der Manöver widmet sich der Autor in den fol- genden Kapiteln den Problemen der Versorgung und Unterbringung der Soldaten während der Übungszeit. Die Armeeangehörigen wurden bei Gemeinden im un- mittelbaren Manövergebiet einquartiert, was teilweise zu Unmut bei der betrof- fenen Bevölkerung führte, auch wenn der Staat sie für ihre Mühen entlohnte. Den Zahlen, die Oelke nennt, fehlt allerdings jeder Bezug zu den Einkommen der Zeit, eine Bewertung der Belastung ist damit nicht möglich. Ein Aspekt, der zusätzlich ins Gewicht fällt: Der immense Aufwand zur Versorgung eines Armeekorps wurde 1911 noch durch einen sehr heißen Sommer erschwert, der zu Ernteausfällen und Wasserknappheit geführt hatte. Doch dies erfährt der Leser erst fast am Ende des Bandes.

Im Anhang des Buches finden sich die Tagebuchaufzeichnungen von Johann Hacker, beginnend mit dem 28. Juli und endend mit dem 20. September 1911. Sie werden illustriert durch Postkarten aus der Manöverregion, die Hacker nach Hause schickte. Ein knappes, wenig hilfreiches Glossar schließt sich an. Es fehlt eine de- taillierte Karte, die den Überblick über die zahlreichen genannten Orte sowie über das Manövergeschehen erleichtern würde.

Am Ende der Lektüre stellt sich die Frage, warum der Autor seine Darstellung nicht auf die militärgeschichtlichen und biografischen Aspekte konzentriert hat.

Stattdessen unternimmt er immer wieder weite Exkurse in die das Geschehen um-

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gebende Geschichte oder verliert sich in Details. Er beschreibt das Schicksal Walther Rathenaus, des japanischen Generals Nogi Maresuke sowie anderer ausländischer Manöverbeobachter, etwa des osmanischen Thronfolgers Jussuf Izzedin und des türkischen Militärattachés Enver Bey, des späteren Enver Pascha. Der zu erwar- tende Einblick in das Manöverleben eines Soldaten zu Beginn des 20. Jahrhundert bleibt oberflächlich, allzu beliebig und wenig detailreich sind die Berichte des Ta- gebuchs. Auch die häufig zitierten Zeitungsausschnitte bieten wenig verwertbare Informationen. So ist die populärwissenschaftliche Schrift, die allzu häufig der Ge- schichte vorauseilt, für den historisch interessierten Laien sicher interessant zu le- sen und anzuschauen. Sie bleibt jedoch weit hinter den Erkenntnissen der gegen- wärtigen Militärgeschichtsschreibung zurück und bietet wenig Neues.

Denis Strohmeier

Dieter Hoffmann, Der Sprung ins Dunkle oder wie der 1. Weltkrieg entfesselt wurde, Leipzig: Militzke 2010, 368 S., EUR 29,90 [ISBN 978-3-86989-827-6]

Die Literatur zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, darauf verweist Peter Graf Kielmansegg in seiner Einführung zu Recht, ist inzwischen Legion. Konzentriert man sich daher, wie im vorliegenden Fall, wesentlich auf die Einschätzungen und Absichten der deutschen militärischen Führung, dann stellen sich mithin von vorn- herein Fragen. Bei aller Berechtigung einer herausgehobenen Position des Deut- schen Reiches und seines Generalstabschefs in der Julikrise 1914 hat die Forschung nämlich spätestens seit den Siebzigerjahren in einem wesentlich breiteren Ansatz dem fatalen Wechselspiel zwischen den politischen und militärischen Eliten bei vier der fünf europäischen Großmächte – Russland, Frankreich, Österreich-Un- garn und dem Deutschen Reich – nachgespürt. Ein Zurück dahinter bedarf somit der überzeugenden Begründung. Aber auch innerhalb der deutschen Führung wird man zwar den Verweis auf einen nur noch hinhaltenden Widerstand der Po- litiker gegenüber einem drängenden Generalstabschef Moltke als berechtigt, in sei- ner absoluten personalen Zuspitzung jedoch als überzogen empfinden. Nun wer- den vom Autor durchaus Seitenblicke über seine Zentralfigur hinaus geworfen.

Nur vermeint er mit gewichtigen Gründen Moltkes Präventivkriegsdenken letzt- lich zum ausschlaggebenden Faktor machen zu sollen.

Das beginnt schon beim Einstieg, der zwar im Einklang mit der bisherigen For- schung das Jahrzehnt vor 1914 in den Blick nimmt, dann aber den eigentlichen Schwerpunkt auf den Monat Juli 1914 legt. Als Kronzeuge für das Bild von den Po- litikern als den Geschobenen und den Militärs als den Schiebenden zum Krieg wird der liberale Redakteur Theodor Wolff in Berlin deklariert und durch die Stim- men einiger kritischer Diplomaten einschließlich der militärischen Führer in Ber- lin und Wien ergänzt. Wolffs breite Kontakte in die politische Führung und in die Gesellschaft des späten Kaiserreichs hinein machen ihn zweifellos zu einer Quelle ersten Ranges. Nur fragt sich, ob seine Gesprächs- und Korrespondenzpartner aus diesen Kreisen nicht nur zu gern den Druck des Generalstabschefs betonten, um das Unausweichliche ihres eigenen Fatalismus plausibler zu machen. Im Übrigen wäre auch Moltkes Einschätzung als »okkult«, wie dies mit Verweis auf Luden- dorffs Verdikt von 1933 geschieht, zumindest bei seinem Drängen zum Krieg zu hinterfragen. Zweifellos war der Generaloberst unter dem Einfluss seiner Frau zum Anhänger des Theosophen Rudolf Steiner geworden. Doch in seinem letzten Ge-

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spräch mit diesem zeigte sich Moltke gerade umgekehrt als der apodiktisch auf den Krieg Zusteuernde, der seinen Schweizer Gesprächspartner erst vom Alterna- tivlosen seines Kurses überzeugen musste.

In seiner Kritik am Schlieffenplan als Grundlage deutscher militärischer Kriegs- vorbereitung und dessen mangelhafter politischer Abstimmung wird man dem Autor folgen. Dabei machen die herangezogenen Generalstabskontakte zwischen Berlin und Wien seit 1909 überdeutlich, wie sehr sich Moltke und Conrad von Höt- zendorff in ihrem Drängen auf ein präventives Losschlagen der Mittelmächte ei- nig sind, solange der Hauptgegner im Osten, das zaristische Russland, noch an den Nachwirkungen seiner militärischen Niederlage von 1905 laboriert. Das he- rausgehobene Gewicht der militärischen Führung im Deutschen Reich wie in Ös- terreich-Ungarn, abgestützt in beiden Fällen auf die besonderen Vorlieben Wil- helms II. und Franz Josephs, geben ihrem Rat zweifellos zentrale Bedeutung für das nur noch begrenzt politisch steuerbare Krisenverhalten der Monarchen. Hier wie bei ihren bilateralen strategischen Absprachen wird dafür das immer engere militärische Zusammenrücken der Entente zum Hauptmotiv. Trotzdem ist insbe- sondere Wilhelm II. bei allem öffentlichen Säbelrasseln zunächst nur sehr zöger- lich auf den Kurs eines Präventivkrieges einzuschwören. Wenigstens bis 1912 schei- nen ihn seine Diplomaten aus London, Paris und St. Petersburg doch in seinen Vorbehalten dagegen erfolgreich bestärkt zu haben. Zu solcher Vorsicht gemahnten im Übrigen auch die Mehrheitsverhältnisse im Reichstag wie ein wachsendes Ge- wicht einer öffentlichen Meinung, die sich beide unter dem Eindruck kaum noch abreißender internationaler Krisen zunächst wenig kriegsbereit zeigten. Nur führte das nicht dazu, dass der Kaiser seinem ebenfalls bedenklichen Reichskanzler Beth- mann Hollweg den Rücken für eine konsequentere Gegenposition gestärkt hätte.

Zum eigentlichen Gefahrenmoment im Urteil der deutschen militärischen Füh- rung avanciert schließlich aus Sicht des Autors die wachsende Bedrohungsein- schätzung des russischen Nachbarn. Neben dessen Anschluss an die Entente 1907 steht dafür eine so in Berlin und Wien nicht erwartete raschere Erholung des Za- renreiches von Niederlage und Revolution 1905. Französische Finanzhilfe beför- dert dazu nicht nur die wirtschaftliche Überwindung der Krise, sondern aus mili- tärischer Sicht v.a. eine zügige Aufrüstung und Modernisierung der an sich schon personalstarken russischen Streitkräfte. In den letzten Vorkriegsjahren wächst sich schließlich der Ausbau der russischen Eisenbahnen in Polen zum Beleg für aggres- sive Absichten aus, erhöht dies doch die Fähigkeiten Russlands zum zügigen Auf- marsch seiner Truppen an der schwer zu schützenden deutschen Ostgrenze wie gegenüber dem österreichischen Galizien. Triumphierende Artikel darüber in der französischen wie auch russischen Presse und deren besorgte Wahrnehmung in der deutschen Öffentlichkeit spielen der Argumentation im Großen Generalstab in die Hände. Er leitet davon seine Befürwortung eines rechtzeitig geführten Prä- ventivschlages als letztes Mittel zum Erfolg ab, um das wachsende militärische Übergewicht der Entente noch vor seinem vollen Wirksamwerden 1917 zu unter- laufen. Nur bei einer vorerst noch verzögerbaren Mobilisierung der russischen Kräfte im Osten glaubt der deutsche Generalstabschef nämlich jenen Zeitvorsprung zu behalten, um einen mittlerweile unausweichlichen Zweifrontenkrieg durch ei- nen schnellen militärischen Erfolg im Westen gegen Frankreich erfolgreich zu füh- ren.Wohl geht auch der Große Generalstab für 1914 nicht von eindeutigen franzö- sischen oder russischen Angriffsabsichten aus. Da jedoch die Monarchen vor einem

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einseitigen militärischen Losschlagen der Mittelmächte noch zurückschrecken, zu dem die Militärs immer gebieterischer drängen, wird ein geeigneter Anlass dazu zum gesuchten Ausweg aus einer militärisch sonst vermeintlich nicht mehr steu- erbaren Krisenlage der beiden Monarchien. Nur so glaubt man die Öffentlichkeit und mit ihr die politische Führung von einem an sich nicht populären Krieg über- zeugen zu können. Berechtigt ist dabei die Kritik an den Politikern, die sich ihre Prärogative schon vor der Julikrise letztlich von der militärischen Führung abkau- fen lassen, somit selbst zunehmend alternativlos auf die Verschärfung des Kalten Krieges zusteuern. Der Ansatz im Generalstab, dafür auf Kosten der Flottenfrage wenigstens die Briten noch einmal aus der Entente herausbrechen zu wollen, wird freilich vom Kaiser abgelehnt. So wirkt denn schon Anfang 1914 eine Artikelserie im offiziösen »Le Matin« über die Fortschritte des wirtschaftlich-militärischen Zu- sammenwirkens von Paris und St. Petersburg wie eine Bestätigung, dass ein mili- tärisches Prävenire der Mittelmächte die letzte verbliebene Chance zur rechtzei- tigen Gegenwehr darstellt. Alarmrufe in der deutschen und entsprechende Gegenstimmen in der alliierten Presse ziehen im Frühjahr 1914 die Kreise für ein politisches Krisenmanagement immer enger. Und da seit Ende 1912 Wilhelm II.

ebenfalls davon überzeugt werden konnte, dass sich Russland »systematisch« auf einen Krieg vorbereite, wäre ein klares politisches Gegensteuern des Reichskanz- lers nötig gewesen, wenn man sich Alternativen für den Fall einer weiteren Krisen- verschärfung vorbehalten wollte.

Letztlich bleiben die Militärs in der Julikrise selbst dann mit ihren Argumenten überlegen, wenn Kaiser und Kanzler Ende des Monats noch einmal vor der letz- ten Konsequenz einer Kriegsauslösung zurückschrecken, weil ihre Warnungen vor einem Zuspätkommen mit der eigenen Mobilmachung plausibler erscheinen als die schwankende Haltung der Politiker. Deswegen können Moltke wie Conrad nach dem Attentat von Sarajewo erfolgreich darauf drängen, dies zum gefundenen Anlass für eine Krisenverschärfung mit allen militärischen Risiken zu nehmen. Zu Recht wird demgegenüber Bethmann Hollwegs Versuch, die Entente über das Kal- kül eines gezielten Risikos noch einmal auseinanderdividieren zu können, ohne damit selbst zum Gefangenen der militärischen Abläufe zu werden, als »Illusion«

bewertet. Seine Bereitschaft, in den vorentscheidenden ersten Julitagen mit dem Kaiser zu gehen und Wien einen Blankoscheck zur Krisenverschärfung auszustel- len, setzt faktisch bereits den vorentscheidenden Impuls zum Weg in den militä- rischen Konflikt. Was nun folgt, ist nur noch ein versuchtes Täuschungsmanöver an die Adresse der Entente, wenn die beiden Kaiser wie ihre Spitzenpolitiker und Militärführer scheinbar entspannt in den Sommerurlaub gehen. Poincarés Rück- kehr aus St. Petersburg Ende des Monats wird lediglich noch abgewartet, bevor Wiens Ultimatum an Belgrad mit der Unterstützung Berlins die Krisenverschär- fung endgültig irreversibel macht. Alles andere dreht sich nur noch darum, die vo- raussehbare Mobilierung der russischen Streitkräfte zur Schuldzuweisung für das Anlaufen der eigenen definitiven Kriegsvorbereitungen zu nutzen. Das kurzzei- tige Zurückschrecken von Kaiser und Kanzler am Monatsende vor den Konse- quenzen eines allgemeinen Krieges, nachdem sich der Balkankonflikt nicht mehr regional einhegen lässt, löst in Berlins und Wiens Militärkreisen zwar nochmals eine Nervenkrise aus. Doch aus der bündnispolitischen Falle, in die man sich selbst bereits zu Monatsbeginn manövriert hat, gäbe es jetzt nur noch ein Entrinnen um den Preis irreversibler Schäden für den Koalitionszusammenhalt der Mittel- mächte.

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Mit seinem Zugriff über die Hauptakteure im Deutschen Reich wie in Öster- reich-Ungarn gelingt dem Autor zweifellos eine spannungsgeladene, gut lesbare und die Bedeutung des militärischen Teilaspekts gut herausarbeitende Studie zum Kriegsausbruch. Überzeugend wird auch die Bedrohungswahrnehmung in Berlin und Wien als gewichtiges Motiv herausgearbeitet, die für die Krisenbewältigung schließlich nur noch den militärischen Ausweg eines mühsam getarnten Prävenire offenlässt. Skepsis ist jedoch angebracht, wenn man die komplexeren Zusammen- hänge zwischen internationalem und innerdeutschem Geschehen als das Eigent- liche auf dem Weg in den Absturz Europas in seine »Urkatastrophe« (G. Kennan) bewertet.

Bruno Thoß

Georg Reichlin-Meldegg, Des Kaisers Prinz Eugen? Feldmarschall Hermann Baron Kövess von Kövessháza. Der letzte Oberkommandant der k.u.k. Ar- mee im Ersten Weltkrieg, Graz: Ares 2010, 285 S., EUR 29,90 [ISBN 978-3- 902475-89-3]

Tibor Balla, A Nagy Háború osztrák-magyar tábornokai. Tábornagyok, ve- zérezredesek, gyalogsági és lovassági tábornokok, táborszernagyok [Die ös- terreichisch-ungarischen Generäle des Großen Krieges. Feldmarschalls, Ge- neraloberste, Generäle der Infanterie und Kavallerie, Feldzeugmeister], Budapest: Argumentum 2010, 348 S., Ft 3.900 [ISBN 978-963-446-585-0]

»Leutnant Vanini (in jäher Angst). Ja wohin soll der Herr Oberst auch wirklich? Er ist kein Kroate, kein Deutscher, kein Ungar – Orvanyi (nervös). Ein Österreicher ist er, – plausch nicht soviel! (Plötzlich nachdenklich) Ja, – eigentlich, wohin soll er da wirklich? (Von links kracht ein Schuss)«. Das Einleitungszitat entstammt Franz Theodor Csokors »3. November 1918«. Das Stück dreht sich weniger um den Zu- sammenbruch, als vielmehr um das Fakt des Auseinanderfallens der multinatio- nalen Habsburgermonarchie. Dieses stellte für viele ihrer Bewohner, im speziellen Sinne für ihre Funktionäre, und hier besonders für die höchsten militärischen Re- präsentanten, die jahrzehntelang das gemeinsame, das k. und k., verinnerlicht hat- ten, einen tiefen persönlichen Einschnitt dar.

Balla Tibor, promovierter Historiker, Chef der Ständigen Ungarischen Archiv- delegation im Österreichischen Kriegsarchiv in Wien und Oberstleutnant der Un- garischen Honvédarmee, baut sein Werk über die Generalität des Habsburger- reiches im Ersten Weltkrieg auf eine breite Quellenbasis in Österreich und Ungarn und somit unter Einbeziehung der wichtigsten Verwaltungssprachen der Donau- monarchie. Ballas Arbeit besteht aus zwei Teilen. Die Einleitung ist mit fast 40 Sei- ten recht umfangreich. Sie beinhaltet neben den editorischen Anmerkungen einen Analyseteil. Den Hauptteil des Werkes bilden die Kurzbiografien. Insgesamt hat Balla 178 Generalen eine Kurzbiografie gewidmet, wobei er wohl bewusst auf den formulierten Text als Darstellungsform verzichtet hat. Kurz und knapp werden die wichtigsten Eckdaten (persönliche Daten, Bildungsweg, Beförderungen, Einsätze) wiedergegeben. Dabei wird ins Detail gegangen, beispielsweise auch Belohnungs- anträge zitiert. Dies zu Recht, denn dieser, meist nur ein bis zwei Seiten umfas- sende, Quellentyp lässt oft Rückschlüsse auf Charaktere und Taten zu, die den Vor- gesetzten ehrungswürdig erschienen waren. Balla verzichtet (dankenswerterweise)

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auf eine durchgehende Übersetzung von Eigennamen und Archivzitaten, belässt sie vielmehr in der Originalsprache. Den Abschluss des Buches bilden Zusammen- fassungen der Einleitung in deutscher, englischer und italienischer Sprache.

Die Arbeit ist eigentlich rein militärhistorisch und größtenteils lexikografisch, hält aber dennoch aus mehreren Gründen für die Sozial- und Kulturgeschichte ebenso grundlegende Fakten zur Auswertung bereit, wie für jene, die sich mit den zivilen und militärischen Verwaltungsstrukturen in den beiden Reichshälften be- schäftigen. Beim Durchblättern der gesamten Biografien erhält man einen Über- blick über die Herkunft und den Bildungsweg, sowie die Einsatzmöglichkeiten für Generale im Großen Krieg, wobei erstaunlicherweise viele weder Front- noch Stabs-, sondern vielmehr Bürodienst leisteten. Außerdem wurden viele reaktiviert.

Die Darstellung als Lexikoneinträge macht die Betrachtung der Generale als sozi- ale und gesellschaftliche Gruppe möglich. Zweifellos zählten die Generale einer Armee zur Elite ihrer jeweiligen Gesellschaft. Sie waren eine Personengruppe, die im Laufe ihrer Karriere mehrfach ihren Lebensmittelpunkt zwischen mehreren Garnisonen gewechselt hatte, in einem Gebiet, das sich heute auf mehrere mittel- europäische Nationalstaaten erstreckt. Für den Militärhistoriker mag von beson- derem Interesse sein, wie sich das Verhältnis von Generalen der ungarischen Hon- véd, der österreichischen Landwehr und der k.u.k. Armee darstellte. Ob es viele Wechsel zwischen ihnen gab oder Karrieren innerhalb einer Armee verliefen. Balla nennt unter anderem auch die Berufe der Väter, die Zahl der Kinder, Mitgliedschaf- ten in Vereinen, und resümiert, dass ein Großteil vor Ausbruch des Ersten Weltkrie- ges schon auf dem besten Wege war, während ihrer gesamten Dienstzeit keinen Krieg erlebt zu haben, demnach »nur« Friedensgenerale gewesen zu sein. Insbe- sondere zu Kriegszeiten überdecken Generale und ihre Taten, sofern sie erfolgreich sind, alle anderen gesellschaftlichen Eliten und dominieren die Presseerzeugnisse.

Obwohl in Österreich-Ungarn kein General so sehr sämtliche militärische und poli- tische Überlegungen durchdrungen hat, wie Paul von Hindenburg und Erich Luden- dorff im verbündeten Deutschen Reich, stolpert man immer wieder über ihre Namen.

Deutlich tritt ebenfalls hervor, wie viele Generale dem Namen nach nicht »deut- scher« bzw. deutschsprachiger Herkunft waren, obwohl jene das Offizierkorps bis 1918 zweifellos dominierten. Wobei in vielen Fällen eine Nationalität nur vermu- tet werden kann. Insgesamt dienten nach dem Ersten Weltkrieg weniger als zehn der Generale auch in den Armeen der Nachfolgestaaten der Habsburgermonar- chie. Vielfach beendeten viele ihr Leben nicht in jenem Staat, und obwohl der Name Hermann Kövess von Kövessháza den Anschein erweckt, sein Träger wäre ein Un- gar, lässt seine Biografie einen anderen Schluss zu. Kövess wurde zwar 1854 in Te- mesvar geboren, er beteiligte sich jedoch nach 1918 nicht am Aufbau einer unga- rischen Armee unter Nikolaus von Horthy, sondern blieb in Wien.

Einem der Generale, die auch bei Balla beschrieben werden, widmete Georg Reichlin-Meldegg 2010 eine Biografie. In der Einleitung nennt der Autor seine Hauptfragestellungen, wobei es vollkommen legitim ist, der Frage nachzugehen, inwieweit Kövess am missglückten Waffenstillstand vom 3. November an der Süd- westfront persönliche Schuld traf und welcher »Typus Mensch« er war. Etwas selt- sam mutet hingegen an, die Frage zu diskutieren, »ob er die Position eines Feldmar- schalls oder gar eines Oberkommandanten der k.u.k. Armee auch in Friedenszeiten erreicht hätte« (S. 11). Klassisch biografisch werden in den rund 280 Seiten sämt- liche militärischen und politischen Ereignisse, insbesondere während des Ersten Weltkriegs, auf Kövess projiziert.

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Ungewöhnlich ist, dass der Autor im Text zwischen den Zeitformen wechselt, einmal in der Gegenwartsform dann wieder in der Vergangenheit schreibt. Einen breiten Raum im Text nehmen die Originalzitate ein. Beispielsweise wird auf Seite 15 eine Notiz über den Erhalt und die Absendung eines Befehls wiedergege- ben. Die Notiz enthält keine außergewöhnliche Formulierung, die für den Einsatz eines Originalzitats gesprochen hätte. Auf dieser Seite befinden sich ohnehin noch drei weitere. Schade auch, dass einige Zitate in der Luft hängen bleiben, ohne ana- lysiert und in den Kontext gestellt zu werden. Das Buch liest sich wie eine detail- reiche, zitatenlastige Dissertation.

Zweifelsohne hat der Autor zur Person Kövess umfangreich recherchiert und einige interessante Dokumente entdeckt (allerdings ohne Verweis auf die unga- rische Quellenlage). Georg Reichlin-Meldeggs Kövess-Biografie sei somit jenen empfohlen, die gerne militärhistorisch-biografische Schilderungen im klassischen Sinne lesen und eine Liebe zu Originalzitaten haben. Ballas Buch dagegen bietet sowohl dem militärhistorisch interessierten Leser als auch den Wissenschaftlern, die tiefer in die Gesellschaftsgeschichte Österreich-Ungarns eintauchen möchten, eine breite Quellenbasis. Durch die Zusammenfassungen in mehreren Sprachen und die Übernahme der deutschsprachigen Originalbegriffe findet sich auch der nicht Ungarischkundige im Lexikonteil zurecht.

Tamara Scheer

Das deutsche Feldeisenbahnwesen, Bd 1: Die Eisenbahnen zu Kriegsbeginn, Re- print der Ausg. Berlin: Mittler 1928, XIV, 280 S.; Bd 2: Die Eisenbahnen von Oktober 1914 bis zum Kriegsende. Hrsg. von Horst Rohde, Hamburg [u.a.]:

Mittler 2010, 454 S. + Kartenschuber (= Der Weltkrieg 1914–1918. Die mili- tärischen Operationen zu Lande), zusammen EUR 128,00 [ISBN 978-3-8132- 0884-9]

Mitte des 19. Jahrhunderts geriet die Eisenbahn immer stärker in den Fokus der europäischen Militärführungen. Gerade in Preußen erkannte der Chef des Gene- ralstabes Helmuth von Moltke frühzeitig den militärischen Nutzen dieses neuen revolutionären Verkehrsmittels. Während seine Vorgänger noch eher die prakti- schen Vorteile für die Logistik und die Beförderung von Soldaten im Blick hatten, sah er das operativ-strategische Potenzial der Eisenbahn: die Geschwindigkeit, die sich im Zeit- und Raumgewinn äußerte. Mit diesem Qualitätssprung trat die Krieg- führung in eine Form wachsender Beschleunigung ein, deren Vorteile es zukünf- tig zu nutzen galt.

Zwar wurde die Führung und Versorgung großer Truppenkontingente durch die Eisenbahn flexibler, doch warf die Einbindung der Bahn in die Aufmarschpläne neue Schwierigkeiten auf. So forderte die geordnete Beförderung großer Verbände an den richtigen Ort und die Ausladung der Truppen zum richtigen Zeitpunkt ei- nen erheblichen Planungsaufwand. Moltkes Vorgänger hatten zwar die Bedeutung der Eisenbahn und der Telegrafie für die Kriegführung erkannt, diese jedoch noch nicht in die konkrete Kriegsplanung eingebunden. Moltke d.Ä. änderte dies. Er in- tegrierte die eisenbahntechnische Transportplanung auf den Tag genau in seine Aufmarschplanung und errichtete konsequenterweise eine eigene Eisenbahnab- teilung im Generalstab. Diese erarbeitete die Daten, auf deren Grundlage zukünf- tig die Mobilmachungspläne konzipiert wurden. Die Leistungsfähigkeit der zum

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Massentransportmittel avancierten Eisenbahn verdeutlicht exemplarisch der preu- ßisch-deutsche Aufmarsch 1870, als innerhalb von nur 13 Tagen ca. 510 000 Solda- ten, ca. 160 000 Pferde und über 1400 Geschütze auf der Schiene transportiert wur- den. Dies zeigt, dass durch das neue Verkehrsmittel der Aufmarsch präziser und schneller ablief und sich so die Möglichkeit einer schnellen Kriegseröffnung mit auf den Punkt konzentrierter zahlenmäßiger Überlegenheit eröffnete. Zugleich er- höhten sich durch den gewaltigen Planungsaufwand die Managementanforde- rungen für die Stäbe gewaltig, während sich gleichzeitig die Reaktionszeit dras- tisch verringerte. Fehler im Aufmarsch waren so entweder gar nicht oder nur unter größten Schwierigkeiten zu korrigieren. Die durch die schnellen Aufmärsche ge- wonnene Zeit konnte politisch, wie im Deutschen Krieg 1866, oder operativ, wie im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 genutzt werden. Sowohl der Schlieffen- plan von 1905 als auch der Moltkeplan zu Kriegsbeginn 1914 beruhten existenzi- ell auf der Möglichkeit, dank des gut ausgebauten deutschen Schienennetzes auf der inneren Linie deutsche Truppen schnell zu unterschiedlicher Schwerpunktbil- dung von West nach Ost und umgekehrt verschieben und so die zahlenmäßige Un- terlegenheit der deutschen Streitkräfte kompensieren zu können.

Angesichts der zentralen Bedeutung der Eisenbahnen für die deutsche Krieg- führung am Vorabend des Ersten Weltkrieges und im Kriege verwundert es nicht, dass das amtliche Weltkriegswerk »Der Weltkrieg 1914–1918« das deutsche Feld- eisenbahnwesen im Krieg nicht im Rahmen der operativen Bände der Kriegfüh- rung abhandelte, sondern zwei Bände über die Geschichte des Eisenbahnwesens im Weltkrieg plante. 1928 erschien unter dem Titel »Das deutsche Feldeisenbahn- wesen. Die Eisenbahnen zu Kriegsbeginn« der erste Band. Dieser behandelte je- doch trotz des einschlägigen Titels auch andere kriegswichtige Verkehrsmittel, wie die Binnenschifffahrt, während des Weltkrieges. Der im Rohmanuskript vorlie- gende zweite Band erschien ebenso wie die beiden abschließenden Werke zur ope- rativen Kriegführung aufgrund der kriegsbedingten Einschränkungen der Kriegs- geschichtlichen Forschungsanstalt des Heeres bis zum Kriegsende 1945 nicht.

Während letztere in den 1950er Jahren vorgelegt wurden, schlummerte der vor- handene Entwurf zum abschließenden Band zu den deutschen Verkehrsmitteln im Ersten Weltkrieg in den Akten des Bundesarchiv-Militärarchivs.

Es ist Horst Rohde zu verdanken, dass durch die Herausgabe des zweiten Bandes zum Feldeisenbahnwesen das amtliche deutsche Werk zum Ersten Welt- krieg fast hundert Jahre nach Kriegsausbruch nun endlich komplett vorliegt. Der Band »Die Eisenbahnen von Oktober 1914 bis zum Kriegsende« deckt bis auf die ersten Kriegsmonate den gesamten Kriegsverlauf ab. Ebenso wie im ersten Band werden den ausgewählten Operationen eine kurze Einweisung in die Ausgangs- lage sowie den Verlauf der Operationen vorangestellt. Daran schließt sich eine de- taillierte Darstellung der Rolle der Eisenbahnen und anderer kriegswichtiger Ver- kehrsmittel für die Logistik und die Operationsführung an. Die Größe des Beitrages richtet sich jedoch nicht nach der Bedeutung einer Operation für den Kriegsver- lauf, sondern nach der spezifischen Rolle der Verkehrsmittel im Rahmen der Ope- ration. So wird die Schlacht von Verdun eher kursorisch behandelt, während die Offensive im Osten 1915 oder der Rückzug in die Siegfriedstellung 1917 dagegen breiten Raum einnehmen. Der Band beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Leis- tungen der Eisenbahnen während der Kampfhandlungen, sondern verdeutlicht auch die nicht unmaßgebliche Rolle der anderen Verkehrsmittel wie die der Binnen- schifffahrt und deren Rolle im Ersten Weltkrieg. Die Auswirkungen des Krieges

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auf die deutschen Verkehrsmittel werden ebenso wie deren Einfluss auf die wirt- schaftliche Entwicklung des Kaiserreichs im Krieg thematisiert. Letzteres kommt jedoch erheblich zu kurz. Hier zeigt sich, dass beide Eisenbahnbände ganz im Sinne des Weltkriegswerkes einseitig auf die rein operativen Aspekte der Kriegführung konzipiert und geschrieben wurden. Es ging den Verantwortlichen um die opera- tive Darstellung des Kriegsverlaufs im Sinne der deutschen Militärführung. Kritik, wenn überhaupt, war nur am Rande möglich. Die Parallelen zu den anderen Bän- den des Weltkriegswerkes, aber auch zum amtlichen deutschen Seekriegswerk sind nicht zu übersehen.

Dem vorliegenden zweiten Band ist eine ausführliche Einleitung vorangestellt.

In dieser konzentriert sich Rohde, nachdem er in angemessener konziser Form die Geschichte des amtlichen deutschen Weltkriegswerkes sowie die Geschichte des deutschen Feldeisenbahnwesens dargestellt hat, auf die Entstehungsgeschichte der beiden Bände zum Feldeisenbahnwesen. Während der Herausgeber andere Schwä- chen wie unklare Begriffsdefinitionen oder stilistische Mängel sowie die fehlende Kartenausstattung des letztlich noch nicht endgültig überarbeiteten Manuskriptes deutlich anspricht, bleibt er bezüglich der einseitigen operativen Ausrichtung des Bandes eher zurückhaltend. Hier wäre eine deutlichere Einordnung seitens des Herausgebers angemessen gewesen. Positiv sind neben der stilistisch gelungenen Überarbeitung des Manuskriptes auch das beide Bände umfassende Glossar so- wie das Ortsregister hervorzuheben.

Die vorliegenden Bände zu den deutschen Verkehrsmitteln im Ersten Weltkrieg sind für Historiker, die sich mit der Kriegführung im Ersten Weltkrieg beschäfti- gen, ein Muss. Nicht zuletzt deswegen, da sie aufgrund der Aktenverluste eine ein- zigartige Quelle darstellen. Dem Verlag E.S. Mittler & Sohn ist zu danken, dass er den zweiten Band gemeinsam mit einem Reprint des ersten Bandes und einer aus- führlichen Kartenbeilage im Schuber veröffentlicht hat.

Neunzig Jahre nach Ende des Ersten Weltkrieges liegt mit diesem Band das amtliche Werk zur deutschen Landkriegführung der Jahre 1914 bis 1918 komplett vor.

Gerhard P. Groß

Ernst Jünger, Kriegstagebuch 1914–1918. Hrsg. von Helmuth Kiesel, Stutt- gart: Klett-Cotta 2010, 655 S., EUR 32,95 [ISBN 978-3-608-93843-2]

Das erste Problem mit dem »militärischen« Ernst Jünger war seit jeher, dass seine Kritiker seine Werke nur selten gelesen haben. Das zweite Problem war, dass die- jenigen, die sie gelesen und gedeutet haben, entweder Literaturwissenschaftler, esoterische Apologeten oder eine unheilvolle Kombination aus beiden waren. Der Mangel an genuin militärhistorischen Untersuchungen zu Jünger als einem Solda- ten und Zeugen des Ersten Weltkrieges ergab sich zuvorderst aus dem Umstand, dass die zentrale Quelle hierfür, das Kriegstagebuch, bis zum späten Tode des Schriftstellers 1998 nicht zugänglich war. Gleichzeitig lag mit Jüngers »In Stahlge- wittern« seit 1920 ein Buch vor, das zwar im Untertitel (»Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers«) den Anspruch auf hohe autobiografische Authentizität erhob, das aber in Wahrheit schon in der ersten Ausgabe die historischen Ereignisse stark kondensierende und später eine immer wieder überarbeitete literarische Deutung des Weltkrieges darstellte. Mit der Edition der im Deutschen Literaturarchiv lagern-

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den Kriegsaufzeichnungen durch den Heidelberger Germanisten Helmuth Kiesel ist nun endlich die Möglichkeit einer militärgeschichtlichen Erforschung der be- kanntesten deutschen Soldatenbiografie des Ersten Weltkrieges gegeben.

Der Text setzt ein mit der Abfahrt des Kriegsfreiwilligen Jünger aus Hannover am 30. Dezember 1914 und endet am 10. August 1918, als sich der Leutnant Jün- ger nach seiner mittlerweile siebten Verwundung auf dem Weg ins Lazarett befin- det. Als Angehöriger des Füsilier-Regiments Nr. 73 hat Jünger den Krieg dreiein- halb Jahre aus der Grasnabenperspektive erlebt (ausschließlich an der Westfront, was für die spätere Wirkung seiner militärischen Veröffentlichungen in Rechnung gestellt werden muss). Die Realität des Krieges, die sich aus dem Tagebuch er- schließt, ist mit der Interpretation der »Frontkämpfer«-Literatur der Zwischen- kriegszeit – deren berühmtester Exponent Jünger selbst war – nur bedingt in Über- einstimmung zu bringen. Tatsächlich bedeutete Stellungskrieg im Westen über lange Strecken eben doch Rumsitzen, Warten, Zeit totschlagen, die eigene Existenz und die Gefechtsbereitschaft zu organisieren und immer wieder militärische Aus- bildung zu treiben. Schlachten und Gefechte waren dagegen Ausnahmesituationen mit hoher Ereignisdichte und Letalität. Aus dem Tagebuch wird auch klar ersicht- lich, dass die Anzahl der Momente, in denen das Töten für Jünger wirklich intim wurde, verschwindend gering waren. Das Töten im Grabenkrieg stellte sich für ihn nämlich in der Regel als ein distanziertes Phänomen dar. Der gezielte Einzel- schuss war für den Autor ein derart seltenes Erlebnis, dass es im Tagebuch detail- lierte Erwähnung fand (6.3.1917). Sehr viel illustrierender dafür, dass die Armeen am Ende ihrer taktischen Weisheit angekommen waren, ist seine Schilderung der Grabenkämpfe im Herbst 1915 im Artois, wo sich beide Seiten über Wochen ohne erkennbare Motivation und Ergebnis mit improvisierten Grabenmörsern behark- ten. Der eigentliche »Killer« des Weltkrieges aber, das zeigt Jüngers Tagebuch ganz drastisch, war nicht der martialische Stoßtruppführer, war auch nicht das Maschi- nengewehr, sondern ganz banal die Artillerie.

Wirklich bemerkenswert für eine Alltagsgeschichte des Weltkrieges sind die Einlassungen zur soldatischen Freizeitgestaltung, die sich auf exzessiven Genuss von alkoholischen Getränken zweifelhafter Qualität (Cherry Brandy!) und das Be- schlafen der weiblichen Bevölkerung im Etappengebiet beschränkten. Mitunter ge- winnt der Leser den Eindruck, dass bei Jünger die Angst vor Geschlechtskrank- heiten die Angst vor dem gewaltsamen Kriegstod überwog.

Phlegma und Adrenalin sind die beiden Pole, zwischen denen der Autor lebt und handelt. Er ist ein akribischer Beobachter der bizarren Erscheinungsformen des Todes und der Zerstörung um ihn herum. Und erst die Lektüre des Tagebuchs lässt den Leser erkennen, dass diese kühle Beobachterperspektive eben nicht zy- nisch motiviert war, wie Jünger vielfach vorgeworfen wurde. Vielmehr ist der of- fenkundige Mangel an Mitgefühl und Verzweiflung, der aus diesem Kriegstage- buch spricht, nicht mehr als ein Überlebensreflex. Er beschreibt das Detail, um das Grauen des Gesamtbildes für sich zu verarbeiten. Gleichzeitig darf man sich über den strategischen Charakter der Quelle nicht täuschen. Denn schon während eines Heimaturlaubs fasste Jünger den Entschluss, das Tagebuch nach dem Krieg zu pu- blizieren.

Kiesels Edition ist sachkundig, teilweise überraschend akribisch in den Milita- ria. Man hätte sich allerdings noch einen eigenständigen Bildteil gewünscht, zu dem der Nachlass interessantes Material bietet. Dies wäre auch deshalb eine Be- reicherung für die Edition gewesen, weil Jünger selbst sich später mit der Fotogra-

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fie als Quelle der Kriegsbetrachtung auseinandergesetzt hat. Das Tagebuch ist ein eindrückliches Dokument des Überlebenswillens und der Verrohung im Krieg. Es stellt eine der wichtigsten militärgeschichtlichen Quellen der letzten Jahrzehnte überhaupt dar und macht endlich die »Stahlgewitter« als vermeintlich autobiogra- fische Quelle des Weltkrieges überflüssig.

Markus Pöhlmann

»Verzicht auf Revanche«. Das Kriegstagebuch 1914/18 des Divisionspfarrers der Landauer Garnison Dr. Anton Foohs. Eingel. und mit Anm. hrsg. von Carl Werner Müller, Speyer: Verl. der Pfälzischen Gesellschaft zur Förde- rung der Wissenschaften 2010, XVI, 463 S. (= Veröffentlichungen der Pfälzi- schen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, 108), EUR 25,00 [ISBN 978-3-932155-29-1]

Dem Vorwort des stattlichen Editionsbandes ist zu entnehmen, dass die Tagebü- cher aus familiärem Bezug in die Bearbeitung übernommen wurden bis hin zu dem Umstand, dass drei Brüder des Vaters des Bearbeiters im Ersten Weltkrieg an den deutschen Fronten fielen. Unter dem antiken Diktum »süß ist der Krieg nur für die, die ihn nicht kennen«, dankt der Herausgeber zahlreichen Archiven und Forschungsinstituten für die Unterstützung seiner Edition. Da Anton Foohs bis- her allenfalls regional als Begründer der Katholikentage in der Diözese Speyer be- kannt war (H. Ammerich 1984), ist für die militärhistorische Perspektive zunächst die biografische Skizze der Einleitung (S. 1–17) von Interesse.

Der 1871 in einer bürgerlichen Familie in Kerzenheim (Nordpfalz) geborene Anton Nikolaus Foohs promovierte 1894 an der Universität Würzburg über die Er- kenntnistheorie von John Locke und wurde ein Jahr später zum Priester geweiht.

1910 wurde ihm die katholische Militärseelsorge der Landauer Garnison übertra- gen. Mit dieser 3. Bayerischen Infanterie-Division zog Foohs in den Ersten Welt- krieg. Ab 1920 war er nebenberuflicher Standortpfarrer in Würzburg und bis 1931 Oberstudienrat an dortigen Mädchen-Gymnasien. Den Ruhestand bis zu seinem Tod (12.12.1940) verbrachte er in München.

Im militärischen und kirchlichen Dienst hatte Foohs mehrere Auszeichnungen und Ehrungen erhalten: u.a. das EK II (1914) und das EK I (1916) sowie Geistlicher Rat (1939) und Päpstlicher Geheimkämmerer (1938). Auch sein Divisionskomman- deur Karl von Wenninger (†8.9.1917) lobte ihn 1916 als »vorbildlichen Feldseelsor- ger, der weit über seine Pflicht hinaus seines Amtes waltet und bei allen Gefech- ten unerschrocken das Sperrfeuer durchbricht, um in vorderster Linie den Verwundeten beizustehen und den Kämpfenden zuzusprechen. Seine umfassende Bildung, sein weltmännischer Schliff und seine Predigtgabe würden ihn ja für eine Domgemeinde prädestinieren, aber seine Herzensneigung zieht ihn zur Soldaten- gemeinde und befähigt ihn, seine Ansprachen auf die Empfindungen, das Ver- ständnis und Seelenbedürfnis der Soldaten abzustimmen. Obwohl seine Leistungen das Pflichtmäßige weit überschreiten, ist er still und bescheiden und hat nie am Morgen davon gesprochen, dass er in der Kampfnacht in vorderster Linie war.«

Rückblickend auf die von Foohs vorbereiteten drei Frontbesuche 1915/16 an der Westfront als stellvertretender bayerischer Feldpropst charakterisierte ihn der Münchner Kardinal Michael Faulhaber 1923 auch als »sehr tüchtigen, ganz her- vorragenden Militärgeistlichen, nur hört er nicht gern Beicht[e]«.

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Zwar führte Foohs bis kurz vor seinem Tod Tagebuch, aber die Aufzeichnungen über die Vorkriegszeit und das erste Kriegsjahr (bis August 1915) sind verloren ge- gangen. Der Herausgeber hat das erste Kriegsjahr, in dem Foohs Urlaub zur Wie- derherstellung der Gesundheit genehmigt bekam, verdienstvollerweise aus sekun- dären Quellen in Grundzügen rekonstruieren können.

Die erhaltenen Tagebuchaufzeichnungen beginnen am 15. August 1915 mit dem Eintrag: »früh 7 Uhr Fahrt mit Wagen nach Halluin. Hier Gottesdienst, Pfälzische Lehrer, 2 Theologen ministrieren. Alsdann nach Roncq. Wenig Chevaulegers [leichte Kavallerie], predige wie in H(alluin) über die Treue«. Das weitere Jahr 1915 verlief in Flandern westlich von Lille im Kriegsalltag relativ ruhig, sodass sich bei einer gut organisierten Seelsorge (vgl. Karten dazu S. 125 f.) für Foohs am 12. Sep- tember nur die Frage nach der Dauer des Krieges stellte (S. 61). Die in kleinerer Kursive in die Edition eingestreuten offiziellen Frontberichte aus dem Reichsar- chiv lassen auch an dieser britisch-französischen Front die steigenden Verluste er- kennen, sodass Foohs vorerst »keinen Frieden« sah (S. 97). Die ökumenische Zu- sammenarbeit »über den Gräbern« war inzwischen selbstverständlich geworden (S. 112).

Das Kriegsjahr 1916 begann für Foohs mit einem Heimaturlaub, in dem er ho- hen kirchlichen (u.a. Nuntius Andreas Frühwirth) und politischen Repräsentan- ten von seinen Erlebnissen berichten konnte. Am »Kaisersgeburtstag« (27.1.) lau- tete das Motto seiner Predigt »Christus und das Kaisertum« und über den Besuch seines Heimatbischofs Michael Faulhaber im Februar, von dem ein Gruppenfoto mit 86 bayerischen Feldgeistlichen überliefert ist (S. 150), berichtete Foohs anschlie- ßend in der Speyerer Bistumszeitung »Der Pilger«. Im April kam der Kölner Erz- bischof Felix Kardinal von Hartmann mit dem preußischen Feldprobst Heinrich Joeppen zu Besuch, wozu Foohs vermerkte: »Lange war ich allein beim Kardinal;

er war sehr lieb zu mir« (S. 176). In diesem Jahr berichtete er von zunehmenden Gasangriffen, ausgewählten Ereignissen von anderen Fronten und Spekulationen über einen noch erfolgreichen Ausgang des Krieges. Sowohl die zunehmenden Einträge »Schützengrabenbesuch« als auch die Anerkennung für seine Predigten (»Herr Pfarrer, ihre Predigt heute morgen war ein militärischer Genuß«, S. 215) las- sen erkennen, dass für ihn die Verleihung des EK I anstand. Als Beispiel für Foohs‘

steigende Zahl an sachlichen Berichten über tragische Schicksale auch über die pfälzische Region hinaus sei ein Eintrag vom 30. August genannt: »Der Militär- pfarrer Reinhold aus Erlangen hatte 7 Söhne. Mehrere sind als Offiziere gefallen, einer ist vermisst, einer infolge Verwundung gelähmt. Der jüngste ist nun auch eingerückt. Vater und Mutter sind inzwischen in der Irrenanstalt.« Die die Auf- zeichnungen des dritten (und auch des vierten) Kriegsjahres abschließenden vier Orientierungsskizzen über Foohs Einsatzorte als Militärseelsorger verzeichnen auch die Stationen der Frontbesuche von Bischof Faulhaber.

Das »annus Domini 1917« begann für Foohs mit priesterlichen Routineaufga- ben in »Schützengrabenbesuchen« und Etappen-Gottesdiensten. Zuversicht ge- wann er aus dem inzwischen erklärten »uneingeschränkten U-Bootkrieg. Ein Ge- fühl wie eine Erlösung überkommt einen« (S. 269), während nach »wenig zufriedenstellenden Abwehrkämpfen« der Frontbericht unter hohen Verlusten vom

»Rückzug auf die Siegfriedstellung« berichtete. Die begrenzte innere Distanz zum Kriegsalltag wird bei Foohs erkennbar, wenn ihn die bewusst schlechte Verpfle- gung gefangener englischer Soldaten nur »anekelt[e]« und er Sachsen, die »ihre Pferde im jungen Weizen grasen lassen«, scharf verbal anfuhr, »weil sie in unsag-

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barer Gewissenslosigkeit das Brot verderben, um das wir täglich beten«. Sachsen habe die meisten Sozialdemokraten (S. 307). Im Sommer 1917 war das »Trommel- feuer stärker als an der Somme«, sodass Foohs schrieb: »Wenn doch nur einmal der Angriff begänne, damit die Nerven entspannt würden« (S. 309). Den Front- durchbruch beim Wytschaete-Bogen zählte er am 7. Juni »wohl zu den wichtigsten des ganzen Krieges« (S. 313), der dann auch zur Verlegung seiner Division in eine Ruhestellung nach Lothringen führte. Die Tagebuchaufzeichnungen aus der 2. Hälfte des Jahres 1917 sind ebenfalls verlorengegangen. Der Herausgeber der Edition hat diese Lücke durch rekonstruierte Eckpunkte aus der Phase der »Ver- wendung als Eingreif-Division« überbrückt (S. 324 f.).

Unter dem neuen Kommando von Generalleutnant Karl Ritter von Schock set- zen die Tagebuchaufzeichnungen nach der Verlegung an die Picardie-Front ab 1. Mai 1918 wieder ein und berichten bei begrenztem Vorrücken in vielfältiger Weise von steigenden Verlusten. Foohs‘ Rückkehr aus dem Sommerurlaub 1918 ging in eine mehrwöchige »Heimataufklärung« (Berichterstattung beim Kriegsmi- nisterium) über, während die Ententemächte das deutsche Westheer zum Rück- zug zwangen. Am 19. Oktober 1918 zur dezimierten und nach Lothringen rück- verlegten Division zurückgekehrt, findet Foohs »die allgemeine Stimmung recht gedrückt« (S. 374). Am 9. November erwartete Foohs nicht nur »den Waffenstill- stand«, sondern erfuhr u.a., dass »in Metz dem Militäroberpfarrer vom Soldaten- rat das Auto abgenommen worden« war (S. 378). Bei der am 14. November ange- tretenen Rückkehr nach Deutschland fürchtete er zunächst »nicht mehr über den Rhein zu kommen«, beklagte am folgenden Tag, dass Soldaten nachts seinen Wa- gen aufgebrochen sowie Zigarren und seine neuen Stiefel gestohlen hatten. Noch vor Weihnachten wurde Foohs Würzburg als neuer Standort zugewiesen. Dort traf er am 31. Dezember »viele Pfälzer beim Umkleiden zur Heimat. Die Zivilanzüge, die gegeben werden, sind teilweise sehr gut« (S. 394). Im »Nachspiel« finden sich Foohs anschauliche Tagebucheintragungen zum »Bürgerkriegsjahr 1919« in Würz- burg, genauer bis zum 30. Juni, an dem er seine »Tätigkeit als Militärpfarrer von Landau« beendete, »ab morgen bin ich als solcher in Würzburg tätig« (S. 436). Da- ran schließt sich ein »Rückblick aus dem Jahre 1923« (S. 439–442) an.

Dass trotz des Kriegsgeschehens, der Stichwort-Aufzeichnungen und der Über- lieferungslücken die Lektüre des Tagebuches von »AF« doch eine sehr anspre- chende und gehaltvolle Lektüre bietet, ist auf die vorzügliche Edition des Saar- brücker Altphilologen Carl Werner Müller zurückzuführen. Zur souveränen Handhabung der klassischen Editionsmethoden gehören neben dem Quartier- und Abbildungsverzeichnis (S. 445–449) sowohl das kommentierte Personenregister als auch die über 1600 zweifelsohne teilweise aufwendig und mühevoll erstellten Fuß- noten, welche die knappen Angaben des Tagbuchschreibers historisch präzisieren und lebendig werden lassen. Damit hat der Herausgeber nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Dokumentation der bayerisch-pfälzischen Militärseelsorge geleistet, sondern auch für die deutsch-französische Forschung über den »Großen Krieg«.

Reimund Haas

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Lisa Mayerhofer, Zwischen Freund und Feind – Deutsche Besatzung in Rumä- nien 1916–1918, München: Meidenbauer 2010, 410 S., EUR 59,90 [ISBN 978- 3-89975-715-6]

Lange Zeit wurde die Okkupation weiter Teile Mittel-, Ost- und Südosteuropas während des Ersten Weltkrieges durch die Mittelmächte von der Forschung kaum beachtet. Erst in jüngster Zeit rücken die dortigen Besatzungsgebiete verstärkt in den Blickpunkt, sodass mittlerweile Studien etwa für das Gebiet Ober Ost, Make- donien und Serbien vorliegen. Das Besatzungsregime in Rumänien, das von Ende 1916 bis Ende 1918 aufrecht erhalten wurde und sich über zwei Drittel des rumäni- schen Territoriums erstreckte, wurde bisher nur am Rande behandelt. Arbeiten im Hinblick auf die Okkupation beschäftigten sich fast ausschließlich mit dem Frie- den von Bukarest oder den Biografien einzelner herausragender Persönlichkeiten.

Die 2009 abgeschlossene Münchner Dissertation von Lisa Mayerhofer greift da- mit ein wichtiges Desiderat auf. Sie fragt nach der spezifischen Ausprägung der Okkupation in Rumänien und legt hierbei den Fokus auf die Beziehung zwischen den deutschen Besatzern und der rumänischen Zivilbevölkerung, ohne die ande- ren Akteure auszublenden. In ihrer Studie unterzieht sie das Umfeld einer genauen Analyse und macht so die komplexen gegenseitigen Abhängigkeiten deutlich. Da- bei gelingt es ihr, auch die Widersprüche aufzuzeigen, die zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Okkupation aus dem Blickwinkel der Besatzer bestanden.

Statt ausführlicher methodischer und theoretischer Überlegungen beschränkt sich Mayerhofer auf den Hinweis, dass ihre Arbeit auf eine Annäherung an die Re- alität vor Ort ziele. Entschädigt wird man für diese Abstinenz durch eine solide Grundlagenarbeit, die auf einer breiten Quellenbasis beruht. Vorrangig zieht Mayer- hofer die Akten der Militärverwaltung und der Etappenverwaltung der 9. Armee heran, die in deutschen, österreichischen und rumänischen Archiven überliefert sind und von ihr erstmals hinsichtlich der Besatzungsverwaltung ausgewertet wer- den. Daneben untersucht sie ergänzend die während des Krieges und in den 1920er Jahren erschienene Erinnerungsliteratur von rumänischer und deutscher Seite und nutzt sie als Fundgrube für die Alltagsgeschichte, wobei sie stets die hier gemach- ten Ausführungen anhand des Verwaltungsschriftgutes auf ihre Plausibilität über- prüft. Zeitungen und Zeitschriften der Besatzungspresse stellen den dritten Schwer- punkt ihrer Quellenanalyse dar.

Die Studie gliedert sich in sieben Kapitel. Im ersten Kapitel behandelt Mayer- hofer den historischen Hintergrund und den Beginn der Okkupation. Sie zeichnet nach, wie sich in einer ersten Phase die alten Herrschaftsstrukturen auflösten und das damals entstandene Machtvakuum von Verunsicherung und Flucht der Zivil- bevölkerung, Plünderungen und Anarchie begleitet wurde. Anschließend be- schreibt sie die nachfolgende Phase, als sich die neuen Herrschaftsstrukturen ver- dichteten, und stellt das komplexe System der Okkupationsbehörden dar.

Das Verhältnis zwischen Okkupanten und einheimischen Eliten beschreibt May- erhofer im zweiten Kapitel. Eine Besonderheit des Okkupationsregimes in Rumä- nien war, dass die Mittelmächte hier eine einheimische Elite vorfanden, die in einem höheren Maß als in anderen Besatzungsgebieten zur Kooperation mit den Okkupanten bereit war und mit der, anders etwa als in Serbien und Ober Ost, auch die Okkupanten zusammenarbeiten wollten. Die Autorin analysiert die Motiva- tion und die Einflussmöglichkeiten der einheimischen Eliten und macht deutlich, dass diese einerseits versuchten, ihre innerrumänische Machtposition auszubauen,

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andererseits sich durchaus um die Verbesserung der Lage der Zivilbevölkerung bemühten.

Im dritten Kapitel thematisiert Mayerhofer das Verhältnis zwischen Deutsch- land und Österreich-Ungarn in Rumänien, das durch eine Konkurrenzsituation und den Kampf um langfristigen wirtschaftlichen Einfluss geprägt war. Ihre Quel- lenanalyse kann belegen, dass von einer unangefochtenen Dominanz Deutschlands innerhalb des Okkupationsregimes nicht gesprochen werden kann. Aufgrund des Personalmangels der deutschen Armee sei ein deutscher Alleingang nicht möglich gewesen und habe Österreich-Ungarn einen Verhandlungsspielraum eröffnet, den das Habsburgerreich zu nutzen verstanden habe.

Der Versorgung von Okkupanten und Okkupierten mit Rohstoffen und Lebens- mitteln widmet sich die Autorin im vierten Kapitel und untersucht Beschlagnah- men und Requisitionen, die landwirtschaftliche und industrielle Produktion so- wie die Verteilung und Rationierung von Versorgungsgütern. Ihre Analyse macht deutlich, dass Lieferungen in die Heimat aus Sicht des Besatzungsregimes Priori- tät hatten, um die dortige schwierige Versorgungslage zu entspannen. Demgegen- über hatten die Versorgung der Okkupanten und insbesondere die Versorgung der Zivilbevölkerung nachgeordnete Bedeutung, was aber vom Besatzungspersonal nicht immer in dieser Rangabfolge umgesetzt wurde. Zudem stellt Mayerhofer he- raus, dass die Okkupanten ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht wurden. Nach knapp einem Jahr hatten sie Rumänien wirtschaftlich ruiniert, ohne jemals die er- hofften Ausfuhrziffern zu erreichen.

Im fünften Kapitel beleuchtet sie die Nutzung der einheimischen Bevölkerung als Arbeitskräftereservoir. Bedingt durch den relativ späten Zeitpunkt der Okku- pation Rumäniens sowie die Tatsache, dass immerhin ein Drittel des Landes un- besetzt blieb, waren die Besatzer dort mit einem Mangel an Truppen und Arbeits- kräften konfrontiert. Mayerhofer stellt die Maßnahmen zur Erfassung und Kontrolle der einheimischen Bevölkerung dar, untersucht die Formen von Zwangsarbeit so- wie die Behandlung rumänischer Kriegsgefangener. Ihre Analyse stellt die Gren- zen der Kontrolle heraus und macht deutlich, dass das Fehlen von Personal keine effektive Anwendung von Zwangsmitteln zuließ, stattdessen aber Lösungen, die sich den Verhältnissen vor Ort anpassten, begünstigte.

Das Verhältnis zwischen Okkupanten und Okkupierten aus deutscher Sicht be- handelt Mayerhofer im sechsten Kapitel. Sie kann belegen, dass im ländlich ge- prägten und von einer hohen Analphabetenquote gekennzeichneten Rumänien Freund-Feind-Bilder nicht durchgängig das Verhältnis zwischen Okkupanten und Okkupierten bestimmten, sondern vielmehr das Verwischen solcher Grenzen die Beziehung untereinander charakterisierte. Auf dem Land mit seiner größtenteils apolitischen, indifferenten Bevölkerung waren enge soziale Beziehungen zwischen Besatzungssoldaten und Zivilbevölkerung weit verbreitet, während in den weni- gen Städten ein eher reserviertes Verhältnis zwischen Okkupanten und Okku- pierten die Regel war. Die deutschen Besatzungssoldaten wiederum waren in den Dörfern offen für soziale Kontakte mit der einheimischen Bevölkerung, um Zer- streuung zu finden und persönliche Vorteile zu genießen. Die deutschen Behör- den versuchten ohne erkennbaren Effekt, diese engen Beziehungen mit der Zivil- bevölkerung durch die Instrumentalisierung von Ängsten und durch Verbote zu verhindern. Bedeutsamer war, dass für die Soldaten in den Städten ein Bündel von Maßnahmen erlassen wurde, die den Zusammenhalt untereinander fördern sollten und von Mayerhofer ausgiebig analysiert werden. Im letzten Abschnitt des sechs-

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ten Kapitels unterzieht Mayerhofer dominante Deutungsangebote und Bilder in der Besatzungspresse von der eigenen Rolle wie auch der Okkupierten einer Ana- lyse.

Untersucht Mayerhofer in den Kapiteln eins bis sechs die Zeit der Okkupation bis zum Frieden von Bukarest im Mai 1918, behandelt sie im Kapitel sieben die Be- satzungszeit nach dem Friedensschluss bis zum Abzug der Truppen am Ende des Jahres. Es wird deutlich, dass infolge des für die rumänische Seite enttäuschenden Friedens von Bukarest, der verschlechterten Versorgungslage und der sich immer deutlicher abzeichnenden Niederlage der Mittelmächte im letzten Kriegssommer alle Annäherungsversuche zwischen Okkupanten und Okkupierten ein Ende fan- den. Das bis dahin nahezu reibungslose Verhältnis wurde deutlich konfliktreicher.

Angesichts der in Rumänien zur Neige gehenden Vorräte und der immer hoff- nungsloseren Lage in der Heimat verschärfte sich das Vorgehen der Okkupanten gegenüber den Landesbewohnern massiv. Nun wurden keinerlei Rücksichten mehr auf die Bedürfnisse der einheimischen Bevölkerung genommen, sodass deren Exis- tenz immer stärker bedroht wurde.

Ein Epilog, der kurz auf die Folgen der Okkupation nach dem Abzug der Be- satzer eingeht, und eine Zusammenfassung runden die Studie ab. Im Anhang fin- den sich schematische Gliederungen der Militärverwaltung, ein Verzeichnis der in der Arbeit wichtigen Personen und Kartenmaterial, die die Orientierung für den Leser erleichtern.

Lisa Mayerhofers Studie veranschaulicht durch die gleichzeitige Auswertung von deutschen und rumänischen Quellen die Blickwinkel von Okkupanten und Okkupierten. Sie macht deutlich, dass sich Rumänien in vielfältiger Hinsicht als Sonderfall präsentiert. Dies gilt sowohl für die Besatzungsregime in Ost- und Süd- osteuropa als auch für die Okkupation Belgiens, die von Mayerhofer immer wie- der als Vergleichsfläche herangezogen werden und so die Spezifika des rumä- nischen Falles erkennbar werden lassen. Weiterführende Studien werden mit großem Gewinn auf diese facettenreiche, empirisch gesättigte Arbeit zurückgrei- fen.

Gundula Gahlen

Michael Pesek, Das Ende eines Kolonialreiches. Ostafrika im Ersten Welt- krieg, Frankfurt a.M., New York: Campus 2010, 419 S. (= Eigene und fremde Welten, 17 ), EUR 39,90 [ISBN 978-3-593-39184-7]

In den vergangenen Jahren hat das wissenschaftliche Interesse an der Auseinan- dersetzung mit der globalen Raumdimension im Rahmen des komplexen Konflikt- geschehens des Ersten Weltkrieges erheblich zugenommen. Einen besonderen Kris- tallisationspunkt des Forschungsinteresses bildet hierbei der Kampf zwischen den Truppen der Ententemächte und der deutschen Schutztruppe in Ostafrika. Die mi- litärischen Operationen der britischen Truppen und der deutschen Schutztruppe standen meist im Mittelpunkt dieser Arbeiten. Eine verstärkte Aufmerksamkeit fand in den letzten Jahren außerdem die Biografie des letzten Kommandeurs der deutschen Schutztruppe von Deutsch-Ostafrika, Paul von Lettow-Vorbeck. In der vorliegenden Studie des Berliner Historikers Michael Pesek über das Ende der deutschen Kolonialherrschaft in Ostafrika im Ersten Weltkrieg weist der Autor al- lerdings auf ein Desiderat der gegenwärtigen historischen Forschung über den Ers-

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ten Weltkrieg in Ostafrika hin: Die afrikanische Bevölkerung, die im Wesentlichen die Last des Krieges zu tragen hatte, erscheint oft nur am Rande.

Diesen Umstand nimmt Pesek nun zum Anlass und stellt die afrikanischen In- dividuen und Gesellschaften in den Fokus seiner wissenschaftlichen Analyse über den Ersten Weltkrieg in Ostafrika. Der Autor stellt fest, dass eine grundlegende Voraussetzung für die Kriegführung der europäischen Mächte in Ostafrika im Zu- griff auf die lokalen Ressourcen bestand. Hierzu gehörte auch die Rekrutierung der Afrikaner für den Kriegsdienst. Denn in erster Linie kämpften in diesem eu- ropäischen Krieg in Ostafrika Afrikaner in den Reihen der gegnerischen Kolonial- truppen. Eine noch größere Bedeutung sollte im Verlauf des Krieges allerdings, neben der Lieferung von Nahrungsmitteln an die kämpfenden Truppen, der Ver- pflichtung von Tausenden von Trägern zukommen. Peseks Hauptintention besteht somit darin, die Geschichte des Ersten Weltkrieges in Ostafrika unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses von Kolonisierten und Kolonisierenden unter den Bedingungen einer sich rapide verändernden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Situation zu untersuchen. Um das Verhältnis zwischen den Kolonialherren und den Afrikanern zu charakterisieren verwendet Pesek den Begriff der »koloni- alen Ordnung«. Er sieht diese koloniale Ordnung in Ostafrika als »Ergebnis einer mehr oder weniger gewaltsamen Aufoktroyierung von politischen und gesell- schaftlichen Strukturen und Ordnungsvorstellungen«. Der koloniale Staat habe als wesentlicher Akteur und Garant der kolonialen Ordnung fungiert. Das erkennt- nisleitende Moment für Pesek ist die Beobachtung einer Transition der kolonialen Ordnung während des Ersten Weltkrieges in Ostafrika.

Mit dem Beginn der Offensive der Ententemächte 1916 begann der rapide Ver- fall der kolonialen Ordnung in Deutsch-Ostafrika. Nachdem es den Briten und Bel- giern schließlich gelungen war, im Verlauf des Jahres 1916 die Zentren kolonialer Infrastruktur zu erobern, verlegte sich die deutsche Schutztruppe auf eine ausge- sprochen mobile Kampfweise: die Safari ya Bwana Lettow, der »Lange Treck des Herrn Lettow«. Pesek beschreibt, wie in dieser Phase des Krieges die fragile Ord- nung zu einer kolonialen (Un-)Ordnung des Krieges degenerierte, die nur noch dort präsent war, wo sich die Karawane der Schutztruppe befand. Auf ihrem Feld- zug durch Ostafrika lebte die Schutztruppe nach dem Verlust der kolonialen Infra- struktur aus dem Lande. Dies bedeutete für die afrikanische Bevölkerung vielfach Plünderung ihrer Nahrungsvorräte und gewaltsame Pressung zum Trägerdienst.

Diese Gefahr drohte den Afrikanern aber nicht nur vonseiten der Schutztruppe, sondern auch britische und im ausgedehnten Maße belgische Truppen gingen in- folge von Organisationsmängeln zu dieser Form der Kriegsökonomie während des Ersten Weltkrieges in Ostafrika über.

In diesem Kontext weist Pesek auf ein scheinbares Paradox hin: Im Zuge der Kriegsanstrengungen der Ententemächte geriet zwar auch die koloniale Ordnung in den von Briten, Belgiern und Portugiesen kontrollierten Kolonialgebieten in eine latente Krise, aber auf der anderen Seite wurde die koloniale Peripherie in einem zuvor nicht gekannten Ausmaß in militärische, politische und administrative Handlungsentscheidungen der kolonialen Metropolen eingebunden, die dem ko- lonialen Staat eine Stärke verliehen, die er in der Zeit vor 1914 nie innegehabt hatte.

Als einen Beleg hierfür nennt Pesek den Anfang 1916 auf britischer Seite erfolgten Übergang der Verantwortung für die Führung des Feldzuges in Ostafrika vom Co- lonial Office und Indian Office auf das War Office. Ein weiterer Aspekt, der den Ausbau des kolonialen Staates illustriert, war die Einführung von Arbeitskarten

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in den britischen Kolonien im Zuge der Rekrutierung der afrikanischen Bevölke- rung für den Dienst als Träger.

Obwohl der Erste Weltkrieg kein Krieg um Kolonien gewesen sei, begreift Pe- sek die Kampfhandlungen während des Ersten Weltkriegs im Osten Afrikas als Endphase des kolonialen Konkurrenzkampfs der europäischen Mächte. Die Sie- germächte des Ersten Weltkrieges schufen schließlich nach dem Ende des deut- schen Kolonialreiches in Ostafrika eine neue koloniale Ordnung.

In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass sich Pesek bei seiner Dar- stellung des Ersten Weltkrieges in Ostafrika nicht nur auf britisches und deutsches Quellenmaterial bezieht, sondern auch die gegenwärtig noch weitestgehend un- beachtet gebliebenen belgischen Quellen in seiner Analyse mit berücksichtigt. Hier- durch gelingt es dem Autor, die Interaktionen der gegnerischen Heere auf dem ostafrikanischen Kriegsschauplatz transparenter zu machen. Es werden aber auch die Probleme der Koalitionskriegführung zwischen der belgischen Force Publique und den unter britischem Kommando stehenden Kolonialtruppen deutlich aufge- zeigt. Vor dem Hintergrund der diversen Konflikte zwischen Belgiern und Briten erweitert sich die Geschichte des Ersten Weltkriegs in Ostafrika um eine weitere Dimension: Insbesondere die Kontroversen über die Frage der Rekrutierung von Trägern, die belgische Kriegführung sowie die Administration der besetzten Gebiete schufen einen Begegnungsraum der zu einem intensiven Austausch unter den bei- den Kolonialmächten führte und schließlich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges in die Ausgestaltung einer neuen kolonialen Ordnung Ostafrikas mündete.

Ein weiterer Verdienst von Peseks Studie besteht in der Berücksichtigung der afrikanischen Perspektive auf den Ersten Weltkrieg in Ostafrika. Trotz einer mehr als schwierigen Quellenlage gelingt es dem Autor, das Panorama des afrikanischen Kriegserlebnisses nachzuzeichnen. In Form von Liedern und Tänzen überlieferten die afrikanischen Kriegsveteranen ihre Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg in Ostafrika, der schließlich die kurze Epoche der deutschen Kolonialherrschaft be- endete.

Christian Senne

Ursula Büttner, Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933. Leistung und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur, Stuttgart: Klett-Cotta 2008, 864 S., EUR 45,00 [ISBN 978-3-608-94308-5]

Nach längerer Zeit unterzieht sich eine Historikerin der Aufgabe, eine Überblicks- darstellung zur Weimarer Republik vorzulegen. Die jüngste Publikation dazu von Heinrich-August Winkler erschien immerhin 1994, als er sein dreibändiges Werk über die SPD zu einem Band kürzte.

Die Autorin weicht in ihrer Monografie von der weitläufig etablierten Zäsuren- setzung der ersten parlamentarischen Demokratie in Deutschland nicht ab: Der Phase der Revolution folgte nach dem Krisenjahr 1923 eine knapp sechsjährige Zeitspanne der Stabilisierung, die auch als »Goldene Zwanzigerjahre« verklärt wurden. Diese »guten Jahre« endeten mit der Weltwirtschaftskrise 1929 und der Flucht der SPD aus der Großen Koalition 1930. Die Weichen für den »Untergang Weimars«, der in der Machtübernahme Hitlers mündete, schienen damit gestellt.

Diese Epocheneinteilung ist aus Sicht der Autorin fraglos immer noch angemes- sen, wie Büttner mit ihrer Einschätzung zum Forschungsstand untermauert (S. 18).

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