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"Sodass der Text dann Ich wird" : Elfriede Jelineks Roman "Die Klavierspielerin"

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„Sodass der Text dann Ich wird“.1 Elfriede Jelineks Roman

„Die Klavierspielerin“

1. „Aus diesem bodenlosen Gefäß ihres Ichs“.2 „Die Klavierspielerin“ im Umfeld der schriftstellerischen Tätigkeit der Autorin.

Als 1983 der Roman „Die Klavierspielerin“ erschien, war Elfriede Jelinek längst keine unbekannte Größe mehr. Ihr Einstieg in die Literatur erfolgte 1967 mit dem Erscheinen des Gedichtbandes „Lisas Schatten“. Der Bandtitel war ganz im Sinne der ein Jahr zuvor erschienenen Gedichte Ernst Jandls verfasst („Laut und Luise“) und der 1956 veröffentlichten Prosasammlung Friederike Mayröckers „Larifari“. Diese „L.-Titel“, die selbstverständlich keine neue Tradition der Titelgebung einläuten und vielmehr ein Zufall sind, stehen jeweils am Anfang einer beachtlichen und beachteten, aber auch missachteten Schriftstellerkarriere.

Nicht jedoch die Lyrik war das Genre, das Jelinek als Schriftstellerin auszeichnen sollte. Eine landesübergreifende Anerkennung fand die im Kreis der Grazer Autoren bereits bekannte und zu den Begründern der Grazer Autorenversammlung gehörende Jelinek mit ihrem Roman „wir sind lockvögel, baby!“. Das Werk kam 1970 heraus und wurde „als einer der ersten radikal durchpopisierten Pop-Romane deutscher Zunge“ („Kurier“) gefeiert. Der „dem österreichischen Bundesheer“ gewidmete und in der Minuskelnschrift angefertigte Roman rief in der „gebrauchsanweisung“ zum Mitwirken auf: „sie sollen dieses buch sofort eigenmächtig verändern. sie sollen die untertitel auswechseln. sie sollen hergehen & sich überhaupt zu VERÄNDERUNGEN ausserhalb der legalität hinreissen lassen“. Das Interaktive am Roman war sein abwaschbarer Umschlag.

Die Gebrauchsanweisung, wie der Roman zu konsumieren sei, ist unmissverständlich als Protest gegen den Einbruch des Konsumdiskurses in die Welt der Kunst zu lesen. Jelinek kritisiert mithilfe der Ironie, indem sie ihren Romanerstling zum Verbrauchsgegenstand erklärt. Daher klingt ihr Aufruf, die Angst vor dem Neuen zu überwinden, ambivalent: Er beabsichtigt,

„gesellschaftliche wie künstlerische Limitationen zu verletzen“3, und imitiert dabei die Sprache und Kniffe der Werbung. Seit diesem Roman ist die Imitation eine von Jelinek vorgezogene und allmählich zur Raffinesse geschliffene Darstellungstechnik schlechthin geworden. Ihre Kritik richtet die Schriftstellerin nicht gegen eine ihr missfallende Erscheinung direkt, sondern dadurch, dass sie die Sprache dieser Erscheinung desavouiert oder, genauer genommen, der Sprache „nachhilft“, sich zu demaskieren, nach dem Motto: „Die Sprache selb st

1 Riki Winter, Gespräch mit Elfriede Jelinek, in: Kurt Bartsch und Günther A. Höfler (Hg.), Elfriede Jelinek, Dossier 2. Graz – Wien: Droschl 1991, S. 9

2 Elfriede Jelinek, Die Klavierspielerin. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1986, S. 178

3 Yvonne Spielmann, Ein unerhörtes Sprachlabor. Feministische Aspekte im Werk von Elfriede Jelinek, in:

Elfriede Jelinek, Dossier 2... S. 25

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will jetzt sprechen gehen“, wie es in „Lust“ heißt.4 Dies stellt die Autorin in die Reihe der radikalen Sprachkritikerinnen der österreichischen Literatur und sorgt gleichzeitig reichlich für Missverständnisse jedweder Art. So beruhte der Erfolg ihres Romans „Lust“ (1989) auf einem Irrtum: Ausgerechnet der Gegenstand der Kritik machte das Werk zum Bestseller. Was die Autorin kritisiert zu haben glaubte, warfen ihr die Kritiker vor, und die Leser warfen sich auf den Roman.

Jelinek war dabei die erste und wahrscheinlich die einzige, die in die Falle geriet, die sie selbst gestellt hat.

Bereits in ihrem ersten Roman „wir sind lockvögel, baby!“ setzt sich die Schriftstellerin zum Ziel, die latente Gewalt der artifiziellen Welt aufzuzeigen, die wir erschaffen und mit der wir uns umgeben haben. Das Künstliche um uns besteht aus den Projektionen sowohl unserer Phantasien par excellence als auch unserer Gewaltphantasien im Einzelnen. Jelinek setzt sich nicht mit der Wirklichkeit, sondern mit der artifiziellen Wirklichkeit auseinander. Das Thema Gewalt dominiert seither ihr ganzes Werk. Auch im Roman „Die Klavierspielerin“ ist Gewalt das zentrale Thema. Jelinek gehört zu den großen Pessimistinnen und Pessimisten des Abendlandes. Die Moral ihrer schrecklichen Fabeln: Wenn der Mensch Gewalt nicht direkt anwendet, so projiziert er diese nach außen. Werbung, Filme, Spiele leben von latenten und offenen Gewaltbildern, genauso die Literatur, genauso unsere Wertungen in Bezug auf Kunst („gewaltige Bilder“, „gewaltige Farben“), auch das Schaffen von Jelinek - alleine schon dadurch, dass es sich Gewalt zum Thema macht. In „wir sind lockvögel, baby!“ kommt es erstmals zu einer Kritik der (Trivial-)Medien als Produzenten und Reproduzenten der Gewaltbilder, bis hin zur Verharmlo sung der Gewalt durch die Ästhetisierung des Todes und des Tötens, was dem Töten den spielerischen Charakter und damit den Schein des Unwirklichen verleiht, als ob eine „Wiedergutmachung“ (Wiederbelebung) möglich wäre. Dieses Thema ist nicht nur des künstlerischen Wertes und schriftstellerischen Könnens wegen von Interesse, sondern tritt auch existenziell nahe: Der Einfluss der durch die Medien vermittelten Gewaltbilder auf die Gewaltbereitschaft der Jugendlichen.

Als ihr wichtigstes Werk bezeichnet Elfriede Jelinek den Roman „Die Kinder der Toten“, eine schauderhafte Hommage an ihre kleine Heimat. Das obersteirische Mürzzuschlag an der Strecke zwischen Wien und Graz, der Geburtsort der Schriftstellerin, wird zum Topos eines apokalyptisch anmutenden Pessimismus. Das Leben der Lebenden scheitert am Tod der Toten. Die Weltgeschichte, durch das Guckrohr und mit dem Blick auf eine kleinere Provinzstadt gesehen, erscheint als ein Massengrab, auf dem die Lebenden das Fest ihres Lebens feiern. Solche Ortschaften in der Provinz sind zu den Topoi der Ausweglosigkeit schlechthin geworden, wie wir sie aus den Erzählungen und Romanen Thomas Bernhards kennen. Die besten Romane, ob „Frost“,

„Malina“ oder „Die Kinder der Toten“, sind im Österreich der Nachkriegszeit die schrecklichsten.

4 Elfriede Jelinek, Lust. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1989, S. 28

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Neben den Romanen „wir sind lockvögel, baby!“, „Die Liebhaberinnen“,

„Die Ausgesperrten“, „Die Klavierspielerin“, „Lust“, „Die Kinder der Toten“

schreibt Jelinek Hörspiele und Dramen. Als Dramatikerin trat sie 1979 mit dem Theaterstück „Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte, oder Stützen der Gesellschaften“ hervor. Mit diesem Stück ehrt Jelinek den Großen des 19. Jahrhunderts, den norwegischen Dramatiker Henrik Ibsen und feiert das hundertjährige Jubiläum seiner Dramen, auf die sie mit ihrer „Nora“ Bezug nimmt. Im Jahr, als die Jelinek´sche „Nora“ geschrieben wurde, waren rund einhundert Jahre seit der Entstehung der „Stützen der Gesellschaft“ und im Jahr der Uraufführung des Stücks waren einhundert Jahre seit der Entstehung von

„Ein Puppenhaus“ vergangen. Diese beiden aufeinander folgenden Dramen Ibsens gipfeln in „Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften“. Das Stück setzt an der Stelle ein, wo Ibsens „Ein Puppenhaus“ endet. Wir erinnern uns nun gut an die Schlussszene, in der die Frage nach einer Selbstbefreiungstat gestellt, die Antwort jedoch verweigert wird. Bei Ibsen bricht Nora aus dem Puppenhaus der verlogenen Familienatmosphäre aus, um sich selbst zu suchen. Die Identität, die ihr durch die soziale Umgebung aufgezwungen worden ist und mit der sie jahrelang gelebt hat, erkennt sie nun als nicht ihre und streift die Maske ab. Jelinek bemüht sich um eine Antwort. Die Antwort, die sie mit ihrem „Nora“-Stück und mit den anderen Texten gibt, ist alles andere als tröstlich. Was geschah? Nichts. Es ist alles beim Alten geblieben. „Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte“ ist eine Interpretation Ibsens und eine der ersten größeren Jelinek´schen Kritiken des bürgerlichen Zeitalters, dessen Sprecher Ibsen war. Während Ibsen die Sprache der Liebe unter die „bürgerliche Kritiklupe“ nimmt, kritisiert Jelinek auf eine „nachbürgerliche“ bzw. postmoderne Art und Weise.

In den folgenden Stücken rückt Jelinek herrschende gesellschaftliche Unterdrückungs- und Manipulationsmodelle ins Rampenlicht. In „Clara S. Eine musikalische Tragödie“ führt sie Clara S. auf, die Opfer ihrer eigenen Opferrolle, zwischen zwei Männerpolen: ihrem Mann, dem berühmten Komponisten Robert Schumann, und dem italienischen Romanisten Gabriele d’Annunzio. Die Opferrolle, der Clara S. zum Opfer fällt, ist ihr übrigens von den herrschenden Gesellschaftsstrukturen aufgezwungen worden. In

„Burgtheater“ zeichnet Jelinek den Weg der Protagonisten, die als geübte Schauspieler virtuos die Kunst beherrschen, mit dem Regimewechsel auch ihre Masken zu wechseln. Jelinek lässt die Burgtheaterschauspieler sich selbst durch den Maskenwechsel demaskieren, selbst wenn sie nicht die konkreten Personen, sondern die Sprache angeprangert haben will. In einem Interview meint sie dazu: „Das, was ich kritisiere, ist immer die Sprache, so kritisiere ich im

`Burgtheater´ nur sehr am Rande die Personen, die mich im Grund überhaupt nicht interessieren, ich kritisiere eine Sprache, die in ihrer Pervertierung die faschistische Kulturindustrie und eine nicht erfolgte Entnazifizierung in diesem

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Unterhaltungsindustriebereich ermöglicht hat“.5 Ihre Sprache lädt Jelinek „mit einer Aggression auf, die von geballter Wut gegen die absente Stimme von Frauen in unserer Kultur, in Gesellschaft und Politik zeugt“.6

In „Krankheit oder Moderne Frauen“, das „wie ein Stück ist“, fristen die Frauen eine Existenz zwischen Krankenschwester, Hausfrau, Mutter und Vampir. Jelinek ironisiert das Thema über die Dämonisierung der Frau, indem sie auf die Vampfigur rekurriert, die neben der Femme fatale eine der Frauenrollen darstellt, in der die Frau gern mitgespielt hat bzw. mitspielt.

„Vamp“, klärt uns ‚Das große Fremdwörterbuch der deutschen Sprache’ auf, ist eine „erotisch anziehende, oft kühl berechnende Frau (bes. als Typ im amerik.

Film)“. Jelinek treibt dieses Frauenbild auf die Spitze. Das Bild wird scharf.

„Ich bin im Diskonthandel erhältlich“,7 denunziert die Protagonistin Carmilla sich selbst und die sich aus Stereotypen zusammensetzende Konsumgesellschaft. Sie ist Assistentin an einer Geburtsklinik, gerade das richtige Geschäft, um an das Blutsaugen heran- und in die Vampirrolle hineinzukommen. Der Dämonisierungsbedarf wird am besten von Gabriele d’Annunzio, einer Figur aus „Clara S.“, artikuliert: „Wahrscheinlich ist die Frau doch eher das Nichts. Das Nichts! Man kann sie im Grunde nicht berühren.

Lieber die reine Flamme stundenlang anschauen als sich in die Frau hineinarbeiten. Die Frau hat nämlich eine unersättliche Gier, die der Mann nie befriedigen kann. Die Folge: Angst! Man muss das Weib deshalb zu etwas Ekelhaftem, womöglich gar Verwesendem machen, damit es einem graust“.8 In

„Die Klavierspielerin“ wird der Spieß umgedreht. Nicht die Frau wird „zu etwas Ekelhaftem“ gemacht, sondern es wird von der Frau (den Frauen) versucht, den Mann als den (geschlechtlich) anderen „zu etwas Ekelhaftem“ zu machen. Dabei ist das eine genauso traurig wie das andere.

Alle diese Stücke weisen ein raffiniert verzweigtes Korrespondenznetz auf.

Die Intertextualität ist ein wichtiger Identitätsfaktor, die Montage die bevorzugte Kompositionstechnik Jelineks. Es sind „Vamp-Texte“, falls eine Parodie auf Jelinek erlaubt sei. Jelinek selbst parodiert zur Genüge. „Die Frau ist das, was nicht spricht und von dem man nicht sprechen kann“,9 greift sie im „Nora“- Stück den berühmten Satz Wittgensteins aus seinem „Tractatus logico- philosophicus“ auf. „Was für ein abstoßendes Schauspiel!“, zahlt sie mit der Münze Thomas Bernhards zurück. Wie „Worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen“ zu Wittgenstein, so gehört „Das Schauspiel war abstoßend“ zu Bernhard. „Ein abstoßendes Schauspiel“, quittiert der Protagonist Herrenstein in Bernhards „Elisabeth II“ das Drumherum um die Visite der englischen Grand-Dame nach Wien und in die Mariahilfer Straße hinein, in dem

5 Riki Winter, Gespräch mit Elfriede Jelinek, aaO., S. 13.

6 Yvonne Spielmann, Ein unerhörtes Sprachlabor, aaO., S. 24

7 Elfriede Jelinek, Krankheit oder moderne Frauen, in: Elfriede Jelinek: Theaterstücke, 7. Aufl., Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2004, S. 236

8 Elfriede Jelinek, Clara S. Musikalische Tragödie, in: Elfriede Jelinek. Theaterstücke, aaO., S. 106.

9 Elfriede Jelinek, Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften, in:

Elfriede Jelinek. Theaterstücke, aaO., S. 30.

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Augenblick, wo der Straßenjubel den Höhepunkt erreicht hat. Dieser abfälligen Wertung folgt „ein plötzlicher Krach und Aufschrei aller auf dem Balkon Stehenden; der Balkon reißt ab und stürzt in die Tiefe“.10 Herrensteins Statement bezieht sich auf die beiden Ereignisse: den Jubel anlässlich der Ankunft von Elisabeth II. sowie den Balkonsturz, der den Gastgeber seiner hass(nicht:

heiß)geliebten Gästen ein für allemal entledigt und – naturgemäß nach dem kollektiven Begräbnis („Ich bin ein Begräbnisanzugsenthusiast“,11 sagt einige Seiten früher der siebenundachtzigjährige Begräbnisanzugsenthusiast und Waffenhändler en gros Rudolf Herrenstein) – seine Altausseereise, pardon, seine Semmeringreise antreten. Ambivalenz ist einer der Lieblingsgegenstände in der schriftstellerischen „Accessoiretruhe“ Bernhards. „Die Vorstellung war entsetzlich“,12 verreißt der Protagonist Reger die Burgtheateraufführung von

„Der zerbrochene Krug“ am Schluss von „Alte Meister“. Es hat einen genauso doppeldeutigen Klang: Man ist sich nicht sicher, ob es nur die Vorstellung betrifft oder ob der Autor nicht etwa sein Werk dadurch ironisch aufs Korn nimmt.

„Clara S.“ besteht aus Zitaten aus den Tagebüchern und Briefen von Clara Schumann, Briefen von Robert Schumann, Romanen von Gabriele d’Annunzio, Tagebüchern Aélis Mazoyer, dem Briefwechsel zwischen Tamara de Lempicka und Gabriele d’Annunzio, sowie dem Text „Am Ende angekommen“ von Ria Endres, einer feministischen Kritik an Thomas Bernhard. Der Kreis der Korrespondenzgrößen für das Stück „Krankheit oder Moderne Frauen“ ist wesentlich größer: Jean Baudrillard, Robert Walser, Roland Barthes, Joseph Goebbels, Bram Stoker, Joseph Sheridan Le Fanu, Der Spiegel, Der Hörfunk, Das Fernsehen u.v.a. In das Stück „Burgtheater“ führt Jelinek die Figur des Alpenkönigs aus Raimunds „Der Alpenkönig und der Menschenfeind“ ein. Das

„Allegorische Zwischenspiel“ ist in diesem Stück in der Art eines „Alt-Wiener Zauberspiels“ gestaltet, mit allen dazugehörenden szenischen Elementen:

Harfenmusik, Märchenkahn etc. Nun ist jedoch diesmal der Alpenkönig „ganz mit weißen Binden“ „wie eine ägyptische Mumie“ umwickelt, durch die hie und da Blutflecken hervortreten. Der Stilbruch („Im Märchenkahn eine Gestalt in einer merkwürdigen Mischung aus Alpenkönig, Menschenfeind und Invalide. Er trägt ein Zauberstäbchen“) will uns sagen, dass doch nicht alles so märchenhaft ist, wie es das Genre verlangen würde. Die Zusammenführung des Märchenhaften und des Alpenköniginvaliden verstößt gegen die Stilregeln. Das phallische Zauberstäbchen, das im „Alt-Wiener Zauberspiel“ einst Wunder bewirkte, scheint nun seine magische Kraft verloren zu haben. Ist Jelineks Alpenköniginvalide eine Allegorie Österreichs im „betreffenden Zeitraum“?

Die sich selbst entblößenden Sprichwörter sowie die Slogans der politischen Dogmatik finden sich zur Genüge. Jelinek hilft nur ein bisschen nach, sei es durch einen kosmetischen Eingriff in den jeweiligen Satz oder die Einbindung

10 Thomas Bernhard, Elisabeth II., in: Thomas Bernhard. Stücke 4, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 356

11 Ebd., S. 303

12 Thomas Bernhard, Alte Meister, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 311

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des betreffenden Satzes in einen entsprechenden Kontext: „Jedes Volk und jede Klasse hat die Frauen, die es verdient“;13 „PERSONALCHEF: Warum sind Sie abgehauen? – NORA: Ich wollte mich am Arbeitsplatz vom Objekt zum Subjekt entwickeln“;14 „ARBEITERIN: Jung bin ich selber. – EVA: Lieber jung und reich als arm und alt. – ARBEITERIN: Mir wäre Impotenz egal“15. Mitunter stehen bei den Zitaten sogar die Namen ihrer Urheber: „Wenn eine Frau eine Maschine bedient, verliert sie in dem Moment ihre Weiblichkeit, entmännlicht gleichzeitig den Mann und nimmt ihm, ihn demütigend, das Brot aus dem Munde. Mussolini“.16 Es kann auch schlichte Aufzählung sein, allerdings mit der entsprechenden Einführung: „[I]ch benenne die Räuber in der Reihenfolge ihres Auftretens: Deutsche Bank AG, Berliner Disconto Bank AG, Dresdner Bank AG, Bank für Handel und Industrie AG“ u.v.m.17 In „Burgtheater“ bewegt sich das stilistische Stimmungspendel zwischen Ironie und Sarkasmus. Die aus

„Alpenkönig“ und „Der Bauer als Millionär“, beides von Ferdinand Raimund, in den Text eingestreuten Zitate befinden sich in einem eklatanten Gegensatz zu der Handlung. Das Wort wird von der Tat konterkariert, so dass das Gefühl entsteht: Nicht der Alpenkönig, sondern die Zitate selbst samt den dahinter stehenden Mythen und Traditionen werden zusammengeschlagen.

In all den genannten Theaterstücken stehen ausgerechnet die Frauen im Mittelpunkt. Ob instrumentalisiert, politisiert oder dämonisiert, schneiden sie geradezu schlimmer ab als die Männer. Nicht auf ihre Opferrolle kommt es an, sondern auf das Versagen, mit dem jeder Ausbruchsversuch aus dem gesellschaftlichen „Klischeekäfig“ für sie endet. Das Schwarz- bzw.

Schwachmalen von Frauen wird Jelinek gerade von der Seite vorgehalten, auf der sie sich selbst meint. Jelineks Antwort: „Weil ich die Frau nie als das bessere und höhere Wesen, als das sie die Frauenbewegung gerne sehen würde, geschildert habe, sondern eben das Zerrbild einer patriarchalischen Gesellschaft, die sich ihre Sklaven letztlich anpasst. Patriarchat heißt nicht, dass immer die Männer kommandieren, es kommandieren auch die Frauen, nur kommt das letztlich immer den Männern zugute. Ich habe die Frauen sehr kritisch als die Opfer dieser Gesellschaft gezeigt, die sich aber nicht als Opfer sehen, sondern glauben, sie könnten Komplizinnen sein. Das ist eigentlich mein Thema, ob das jetzt die Sexualität ist oder die ökonomische Macht, sobald die Frauen sich zu Komplizinnen der Männer machen, um sich dadurch einen besseren sozialen Status zu verschaffen, muss das schief gehen. Ich mache mich aber nicht über Menschen lustig um dessentwegen, was sie sind, sondern um ihres falschen Bewusstseins wegen. Dieses Bewusstsein ist natürlich bei der Frau, nach all den Jahrhunderten Patriarchat, pervertiert. Ich denunziere die Frau also als

13 Elfriede Jelinek, Warum Nora ihren Mann verlassen hatte, aaO., S. 30

14 Ebd., S. 10

15 Ebd., S. 30

16 Ebd., S. 66-67

17 Ebd., S. 68

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Komplizin des Mannes nicht um dessentwillen, was sie in ihrer Unterdrückung ist, denn ich ergreife ja doch sehr stark Partei für die Frau“.18

Neben der „Demontage von Sprachsymbolen“ stellt Jelinek die Identitätssymbole in Frage. Sie zweifelt die Identität der Frau in einer weiterhin patriarchalischen Gesellschaft an (wie in den bereits erwähnten Stücken). In ihrer „Alpensaga“, die mit der Natur unmittelbar zu tun hat, prangert Jelinek den Umgang des modernen Menschen mit der Natur, aber auch die Gewalt des Menschen an der Natur, an den anderen Menschen, sowie die Gewalt in der Natur des Menschen schlechthin - sozusagen als Teil seiner von der Natur kommenden Natur. Das Gespräch zwischen Mensch und Natur ist längst keine Idylle mehr, wenn sie überhaupt je eine – außer in der Literatur und Kunst – war.

Jelinek nimmt die Identitätssymbole einer Nation ins Visier. Die Stücke „In den Alpen“ und „Das Werk“ setzen sich mit dem Bild eines Alpenlandes auseinander. Beide Texte nehmen eine Katastrophe zum Anlass für eine schonungslose Kritik. Selbst wenn die Schriftstellerin die Sprache bloßstellt, kann von einer sprachkritischen Haltung nur bedingt gesprochen werden. Die Sprachkritik ist nicht das eigentliche Ziel, sonst müsste man Jelinek als eine Philosophin aus der österreichischen Schule des Sprachkritizismus bezeichnen.

Die Sprachkritik ist das Mittel zur Desavouierung der herrschenden Zustände oder genauer genommen der Missstände, um der Wahrnehmungsweise von Elfriede Jelinek gerecht zu werden, denn an den Zuständen interessieren die Schriftstellerin die Missstände, so wie sie einst ihren großen Vorgänger, auf den sie mit ihrem „Nora“-Stück Bezug nimmt, beschäftigt haben. Indem sie die Sprache desavouiert, desavouiert sie die Verhältnisse von einst und von heute sowie das latente bzw. manchmal ganz evidente Fortdauern der Verhältnisse von einst in denen von heute. Dass Jelinek mehr die Phänomene und weniger die Personen angreift, die sie schlicht als Sprachrohre der Phänomene abkanzelt, betont die Schriftstellerin im Gespräch mit Riki Winter. Die oben zitierte Stelle (siehe Fußnote fünf) gilt dem „Burgtheater“, das drei Jahre vor Bernhards

„Heldenplatz“ die vehementeste Kontroverse der jüngsten Burgtheatergeschichte auslöste und – da das Burgtheater neben der Staatsoper wohl als die wichtigste kulturelle Identitäts-Institution Österreichs der Zweiten Republik bezeichnet werden darf – in eine weit gefächerte Polemik ausuferte.

Jelinek lässt die schönen einladenden Werbe-Bilder zu einem einzigen Zerrbild verschmelzen, sodass dem Schauenden das Grauen kommt. Nicht den Enzian und das Edelweiß sieht er. Stellvertretend für die Glorie der Nationalmythen hat hier die Grausamkeit das Sagen. „In den Alpen“ handelt von der Brandkatastrophe im Tunnel von Kaprun, wahrscheinlich der schlimmsten Katastrophe der österreichischen Nachkriegsgeschichte, als in der Gletscherbahn 155 Menschen verbrennen. Sie glaubten sich auf dem Weg aufs Kitzsteinhorn, zum Skilaufen, befunden zu haben, in Wirklichkeit befanden sie sich auf einer

18 Riki Winter, Gespräch mit Elfriede Jelinek, aaO., S. 12-13

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Höllenfahrt. Anstatt der verschneiten Skipiste erwartete sie das Inferno. Jelinek lässt die Wirklichkeit den Mythos abbauen. Natürlich: „So ein Ereignis ereignet sich schließlich nicht oft“ und dennoch, das ist „beste Werbung, zur Hauptsendezeit“.19

Die Helferworte werden im Stück von den Kindworten konterkariert. Es spielen Opfer und Retter. Wer der Täter ist, bleibt undefiniert: die Natur, der technokratische Einbruch des Menschen in seine Umwelt, die zuständige Industriebranche, die, wie jeder andere Zweig der Konsumgesellschaft, alles rücksichtslos in einen Konsumartikel umwandelt und sich dem wachsenden Akzelerationszwang selbstlos ausliefert. Die in einen Kindermund gelegten anklagenden Worte klagen eigentlich die Werbungsindustrie an. Es kommen auch andere Opfer zu Wort, während der Bergungsmann ihre Körperteile einsammelt. Die letzte Episode hat die Form einer Protokollaufnahme, die das Schreckliche des Geschehenen ad absurdum treibt, mitsamt dem zu einer Höflichkeitsfloskel verkümmerten „Danke“, das den Dialog zwischen einer A.- Rolle und einer B.-Rolle auf eine unheimlich groteske Weise aufrecht zu erhalten hilft. „Danke“, bedankt sich die B.-Rolle. Dieses „Danke“ ist Jelineks Variante des „abstoßenden Schauspiels“ in der Art Bernhards. Während der Balkonsturz bei Bernhard erdacht, künstlich ist und als solches wahrgenommen werden will, ist die Kaprunkatastrophe bei Jelinek ein reelles Ereignis, das sie mit den Mitteln der Kunst aufarbeitet, ohne es als etwas Künstliches erscheinen zu lassen: anstelle von Mythos ein Trauma.

Traumatisch soll laut Jelinek auch „Das Werk“ sein. Damit ist eines der größten Speicherkraftwerke der Welt und die wohl größte wirtschaftlich- technologische Leistung, die den Grundstein für das Gebäude der Zweiten Republik gelegt hat, angesprochen. Jelinek rüttelt und sägt an diesem „Ort österreichischer Identität“. Sie „erörtert“ ihn auf eine den berühmten

„Erörternden des 20. Jahrhunderts“, Martin Heidegger, verhöhnende Art und Weise, insbesondere da die Quellen der Sprache Jelineks nicht nur bei der Tradition des österreichischen Sprachkritizismus und der Sprachskepsis, sondern auch bei Heidegger ernsthaft zu orten sind – als jüngstes Beispiel kann die Nobelpreisvorlesung gelten.

Die Wurzeln einer zwielichtigen Kontinuität aufzeigend, verlangt Jelinek Bedenken und Gedenken. In der „Nachbemerkung“ fasst sie zusammen: „Schon in den zwanziger Jahren wurde mit dem Bau begonnen, in der Nazizeit wurde (Spatenstich: Hermann Göring) intensiv weitergebaut, zuerst mit Freiwilligen, dann mit Zwangsarbeitern und schließlich auch mit Kriegsgefangenen, vor allem Russen. Die Zwangsrekrutierten wurden in allen besetzten Gebieten und im Protektorat zusammengefangen (in „Fangaktionen“), zum Teil im Osten buchstäblich aus ihren Alltagsbeschäftigungen herausgerissen oder von ihren Dorfältesten, die eine vorgegebene Quote zu erfüllen hatten, ausgeliefert und zum Bau gezwungen. Unter extremen Bedingungen, wie sie im Gebirge

19 Elfriede Jelinek, In den Alpen. Drei Dramen. 2. Aufl., Berlin: Berlin 2004, S. 10-11

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herrschen, mit unzureichender Ernährung und Ausrüstung. Die offizielle Todeszahl bei diesem Kraftwerkbau ist 160. Das sind aber nur die Toten der Nachkriegszeit, und da waren die Arbeiter, darunter damals auch viele ehemalige Nazis, die nirgendwo sonst Arbeit gefunden hätten, schon besser ausgerüstet. Die Zahl der Toten liegt insgesamt sehr viel höher“.20

Ob in Romanen, Hörspielen oder Theaterstücken, ob Sport, Freizeit oder Massenkultur – die Stimme einer Sprachkritikerin ist unüberhörbar. Sie klagt die Sprache als Komplizin der heutigen Welt, als „Bedienstete des Herrn Konsum“, ja als Konsumartikel an. Ob Privat- oder Nationalmythen, es gilt, ihre Sprache zu demaskieren, denn der Mythos ist eine Sprachmaske und nur als solches relevant. Wird die Maske abgenommen, schwindet die Relevanz.

2. „Unter Liebenden bedarf es des Briefs als Medium nicht“.21 Von der Schwierigkeit der Beziehungen und der Beziehung zu sich selbst.

Der Roman beginnt damit, dass die Klavierspielerin Erika Kohut „wie ein Wirbelsturm in die Wohnung“ „stürzt“, „die sie mit ihrer Mutter teilt“. Es gibt Sätze, deren Gehalt sich geradezu in einer Disproportion zu ihrer Länge befindet, so auch dieser Satz -naturgemäß, weil er der erste des Buchs ist und dadurch das Privileg hat, das Meiste zu sagen und in die riesige Einheit eines Romantextes einzustimmen, und wir die Stimme des Romans an der Stimme dieses ersten Satzes messen. Jedes Satzglied ist mit so viel Information geladen, dass die Aussagekraft des Satzganzen seinen syntaktisch-strukturellen Rahmen sprengt und Sinnsignale in seine nächste Umgebung bzw. über diese hinaus sendet.

Zunächst erfahren wir den Beruf (Klavierspielerin) und gleich auch den Namen der Protagonistin (Erika Kohut), wobei die Identifizierung der namentlich erwähnten Person aus einem größeren Umfeld heraus erfolgt und sich ausschließlich auf diesen Roman bezieht. Daraus resultiert keinerlei Protagonisten-Identifizierungs-Theorie; die Romane von heute und mitunter von gestern können dezentrisch bzw. polyzentrisch sein – nicht immer und nicht unbedingt gerät gleich der Protagonist in den narrativen Fokus des ersten Satzes.

Es kann der Erzähler höchstpersönlich bzw. eine andere Figur sein, die nicht die Hauptfigur ist, sondern die Hauptfigur in den Text einführt und vielleicht auch durch den Text führt, ob sich der Protagonist solch einer Begleitung erfreuen wolle oder nicht.

Wir lernen sie in dem Moment kennen, als sie eben nach Hause kommt. Die Art ihres Kommens lässt uns fragen, weshalb sie „als Wirbelsturm in die Wohnung“ „stürzt“? Was ist die Ursache ihrer Eile? Angst? Wovor? Wir erfahren auch, dass sie die Wohnung mit ihrer Mutter teilt. Sie, Erika Kohut, Klavierspielerin, und ihre Mutter, mit der sie die Wohnung teilt, so eine Wohngemeinschaft. Der Mitteilungswert dieses Satzes ist zugleich sein

20 Elfriede Jelinek, In den Alpen, aaO., S. 257-258

21 Elfriede Jelinek, Die Klavierspielerin, .aaO., S. 232

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Denkwert: Der Satz vermag mehr, als Informationen zu vermitteln und Aussagen zu machen. Die einzelnen Informationen kommen miteinander in Berührung. Sie begegnen einander auf dem knappen Raum eines Satzes. Erst ihre Begegnungen stiften das Gespräch, das Fragen-und-Antworten. Die Einzelinformationen liefern die Grundlage dafür, sie sind ein Vor-Gespräch. Die Informationseinheit „Klavierspielerin Erika Kohut“, die aus zwei primären Informationen besteht, begegnet der Informationseinheit „(Wohnung), die sie mit ihrer Mutter teilt“, es ergibt sich die Frage nach einer Berufstätigen und ihrer Mutter, sowie ihrem Zusammensein. Es sind die wichtigsten Fragen des Satzes:

das Teilen der Wohnung mit der Mutter und das Wie -ein-Wirbelsturm-in-die- Wohnung-Stürzen. Die Fragen trachten nach Antworten. Der weitere Text gestaltet sich als Antwort auf die Fragen und als ein ständig neues Fragen, dass dann wiederum Antworten sucht und vielleicht auch findet.

„Die Klavierspielerin“ ist eine wunderbare Illustration für die dialogische Natur eines literarischen Textes. Neben der oftmals behandelten Dialogizität zwischen einem Text und seinem Leser, dass sich in das Prokrustesbett der Rezeptionsästhetik und ferner auch der Hermeneutik einbettet, handelt es sich auch um diese andere, textimmanente Dialogizität, die in Anwesenheit eines Lesers auflebt und eine ebenso wichtige Rolle spielt. Sie hilft, den Text als eine inhaltliche und ästhetische Ganzheit besser zu erfassen bzw. zu begreifen.

Während die Hermeneutik eine interpretierende Instanz vorsieht, die den Text liest (im Sinne von „deutet“), bedarf die textimmanente Dialogizität keiner interpretierenden, sondern einer anwesenden Instanz. Die Aufmerksamkeit wird auf den Text selbst verschoben. Der Dialog findet nicht zwischen Subjekt und Text, sondern innerhalb des Textes statt, sowie es auch Gespräche zwischen den Texten gibt (in Form von Intertextualität).

Für die Mutter ist Erika ein Kind. Diese Rollenverteilung wird gleich im zweiten Romansatz hervorgehoben. Es gibt kein Und, kein Aber. Erika ist nicht Kind und Klavierspielerin. Sie ist schlicht ein Kind. Ein Kind, das Musikunterricht erteilt, an die anderen Kinder. Die anderen Kinder sind eine Generation jünger als sie. Das macht nichts. Ein Kind bleibt immer ein Kind, kein Erwachsener. Nur so und nicht anders identifiziert die Mutter ihr Kind. Die Kindesidentität ihrer Tochter steht für die Mutter außer Zweifel. Es ist einfach so und daran darf nicht gerüttelt werden. An einem Heiligtum rüttelt man nicht.

Es sei denn, man ist Frau Jelinek, Schriftstellerin. Dann nennt man das Heiligtum Stereotyp, Klischee oder ähnlich und versucht, darauf einzuschlagen - mit den Mitteln der Sprache, aber nicht der Sprache schlechthin, sondern einer ganz besonderen Sprache. Die Zusammenhänge werden etwas anders zusammengefügt, und eine ganz normale Sprache verwandelt sich in eine ganz besondere, als ob sie gegen sich selbst Anzeige erstattet.

Da sich das Kind manchmal „extrem geschwind“ bewegt, nennt es die Mutter liebevoll „ihren kleinen Wirbelwind“. Erika würde gern ihrer Rolle eines Kindes entkommen: Sie „geht auf das Ende der Dreißig zu“. Doch es scheint nicht so leicht, der Rolle, das heißt, der Mutter zu entkommen. Die Mutter hat ihr Kind

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fest im Griff. Sie „könnte leicht Erikas Großmutter sein“. Erika ist nämlich spät auf die Welt gekommen. Der wortkarge Rekurs auf Erikas Herkunft zu Beginn des Buches will aufzeigen, dass es im Rollenspiel „Familie“ eine unabdingbare Komponente fehlt: „Erika trat auf, der Vater ab“. Beinahe zu sarkastisch klingt der Satz, um von einer Generationenkontinuität sprechen zu können. Von der Vater-Tochter-Beziehung wird in einem Staffelläuferidiom gehandelt: „Sofort gab der Vater den Stab an seine Tochter weiter und trat ab“. Das ist wohl ein zu flüchtiges Zeichen für einen Generationenwechsel, eher ein Schichtwechsel.

Etwas Maschinelles steckt darin, es hat mit dem mechanisierten Vorgang der Produktion in einer Fabrik zu tun, mit Darwin kaum etwas. Darwin ließ sich Zeit. Seine Metamorphosen werden in einem langsamen Ton entfaltet, wie die eines Ovid. Jelinek ist kein Ovid. Jelinek lebt nicht nur in einer Konsumgesellschaft, sondern in solch einer, die das Produktions- und auch das Lebenstempo ständig beschleunigt, so wie die Sprache Elfriede Jelineks sich selbst beschleunigt und in eine Art Sprachwahnsinn treibt.

Der programmatische Trialog „Mutter – Vater – Kind(er)“ reduziert sich auf einen Dialog „Mutter – Tochter“, was von Anfang an eine für den Roman Ton angebende Mangelhaftigkeit darstellt. Der Vater tritt ab und die Mutter-Tochter- Beziehung tritt umso mehr in den Vordergrund. Sie wird eine der zwei Hauptlinien der Beziehungen des Romans bilden, und man kann schwer entscheiden, welche von den beiden wichtiger ist. Jedenfalls werden die beiden Linien durch die Figur der Protagonistin miteinander verbunden: „Das fast ausschließende Interesse des Textes gilt der Entwicklung und der Identität der Protagonistin Erika Kohut“.22 Wählt man die Worte ganz genau, kann man die Mutter-Tochter-Beziehung kaum als einen Dialog bezeichnen. Dialog heißt Gespräch, jemand spricht mit jemandem. Wird jemand von jemandem beherrscht, so ist es kein Dialog. Beherrschen heißt etwas anderes als sprechen.

Der Vater dagegen spielt nach seinem prompten Abtritt keine Rolle mehr, auch als eine abwesende Instanz nicht, die mitunter dämonischer wirken kann als die schlimmsten Anwesenden. Freilich fällt die mangelnde Verbindung Vater- Tochter seit Freud anders auf als früher. Dennoch würde eine psychoanalytische Deutung eines Romans, in dem die Sprache gnadenlos desavouiert, unsuffizient und tautologisch klingen, da der Roman selbst mit seiner ganzen Handlung eine Interpretation ist – eine Interpretation der Beziehung zwischen Mutter und Tochter einerseits und der Beziehung zwischen einem Er und einer Sie andererseits und durch das Prisma dieser Beziehungen die Interpretation der Person der Protagonistin, ihrer Psyche.

Dass Erika „wie ein Wirbelsturm in die Wohnung“ „stürzt“, findet sehr bald Erklärung. Sie „bemüht sich, in ihr Zimmer zu gelangen, ohne gesehen zu werden“. Sie hat etwas zu verheimlichen - offensic htlich vor ihrer Mutter, weil es außer ihnen beiden keinen anderen gibt, mit dem sie ihre Wohnung teilen würden. Was sind es für die Beziehungen, wo ein Beziehungspartner vor dem

22 Veronika Vis, Darstellung und Manifestation von Weiblichkeit in der Prosa Elfriede Jelineks. Frankfurt am Main: Peter Lang 1998, S. 381

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anderen etwas zu verheimlichen hat? Was ist es für ein Dialog, in dem der Kontakt gemieden wird? Einen Dialog zu führen heißt, dass Vertrauen aufgebaut wird, nicht Misstrauen.

Erikas übereilige Ankunft wird demzufolge nicht durch eine äußere Gefahr, sondern durch eine Gefahr, die im Wohnungsinneren lokalisiert ist, hervorgerufen. Die Gefahr geht von ihrer Mutter aus. Die Mutter tritt als ein anderer auf, gegenüber dem man sich bemüht sich abzuschotten. Der andere ist eine Gefahrenquelle, das bewirkt Angstprojektionen und Phobien im Umgang mit der Außenwelt. Dass diese Phobien ein ominöses Beziehungsdrama auslösen, wird geradezu vorweggenommen. Der andere wird zu der Angstprojektion des Ich schlechthin und als solche auf jeden Einzelnen übertragen. Aber verbleiben wir noch bei der Mutter: Zuerst widmet sich der Roman ausschließlich ihr und dem Psychologischen bzw. Psychopathologischen dieser doppelten Single -Beziehung. Aber es dauert nicht mehr lang: Eine andere Beziehung ist im Entstehen.

Im Rollenspiel sind die Rollen verteilt auf eine Mutter („Inquisitor und Erschießungskommando in einer Person, in Staat und Familie einstimmig als Mutter anerkannt“) und Tochter („Kind Wirbelwind“, Ende dreißig). Die Mutter ist so eng mit ihrer Mutterrolle zusammengewachsen, ja in sie hineingewachsen und mit ihr verwachsen, dass sie nicht über das Klischeebild des Kindes hinaus kann bzw. will. Sehr schnell wird im Roman klar, dass die beiden Kontrahenten es nicht geschafft haben, Partner zu werden und Gefangene des Klischees geblieben sind. Nicht sie haben es geschafft, das Klischee zu zerstören, sondern das Klischee hat sie gefangen genommen. Die Geburt der Freiheit aus dem Ungeist des Klischees ist ihnen weitgehend vorenthalten geblieben, sowohl der Mutter als auch dem Kind.

Der Kampf gegen die Windmühlen der Klischees und Stereotypen bestimmt sowohl diesen Roman als auch alle anderen Werke Jelineks. Es gibt keinen einzigen Text dieser Schriftstellerin, in dem sie sich nicht anschicken würde, das Thema „Klischee“ mit einer bis zur brutalen und gleichzeitig sprachgewandten Radikalität reichenden Leidenschaftlichkeit anzugehen.

Nicht nur der Kontakt wird gemieden. Während die philosophische Dimension eines Dialogs in der Wahrheitssuche besteht – zumindest steht der okzidentale Dialog unter diesem Stern Platons, „meldet sich die Tochter mit einer von der Wahrheit abweichenden Antwort“. Die Umschreibung für das Wort „Lüge“ klingt stilistisch relevanter, als das Wort „Lüge“. Dem Misstrauen der Mutter stellt die Tochter die Lüge entgegen. Der Schutzmechanismus

„Lüge“ ist durch das Misstrauen und die Herrschaftsgelüste der Mutter irgendwann ins Rollen gebracht worden. Es sind kleine, harmlose Lügen, die das Überleben ermöglichen sollten. Leichter machen sie es nicht, auch das Zusammenleben nicht, obwohl bereits lange zusammen gelebt worden ist. Es ist die Lüge gegenüber einer Person, die eine andere Person in ihrem legitimen („in Staat und Familie einstimmig als Mutter anerkannt“) Besitz hat und auf ihr Besitztum besessen ist. Neben den genehmigten vier Bänden Beethovensonaten

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wird etwas Unerlaubtes sicher gestellt, das die Tochter durch die Muttergrenze und an der Mutterkontrolle vorbei in ihr Zimmer hineinschmuggeln wollte:

„Und da kauft Erika ausgerechnet ein Kleid!, beinahe noch vergänglicher als ein Tupfer Mayonnaise auf einem Fischbrötchen“. Um das zum Fenster hinausgeworfene und für die Sparkasse bestimmte Geld tut es der Mutter Leid.

Während das Kleid „nicht schon nächstes Jahr, sondern bereits nächsten Monat außerhalb jeglicher Mode stehen“ wird, kommt das Geld nie aus der Mode, räsoniert die Mutter. Die Vergänglichkeit der Mode und die Ewigkeit des Geldes bevollmächtigt die Mutter, „die nur eine winzige Rente hat“, zum rationalen Denken und Handeln. Sie bestimmt, wofür Geld in der Familie verwendet wird, denn: „Es wird eine gemeinsame große Eigentumswohnung angespart“. Das Motto der Mutter ist ein Misstrauensmotto: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist dennoch angebracht“. Das verschwörerische Zusammenwirken von Mode und Geld, das an dieser Stelle nicht zum Vorschein kommt, wird an anderen Stellen des Romans und in anderen Texten der Schriftstellerin offenbart, wo es sich um das Accelerando im Leben der Konsumgesellschaft handelt – um des Geldes willen tanzt die Mode heutzutage schneller ab, als die Jugend bei ihrem Abschiedsritornell mit Wurzel in „Das Mädchen aus der Feenwelt oder Der Bauer als Millionär“ von Ferdinand Raimund.

Die Kleiderszene, während der es zu Handgreiflichkeiten kommt, zeigt, wie unfrei Erika ist. Die anschließende Aussöhnungsszene zeigt, dass Erika in ihrer Unfreiheit gebrochen ist. Der Zerrissene eines Johann Nepomuk Nestroys wird zu der Zerrissenen einer Elfriede Jelinek. Zerrissen zwischen der Mutter, die sie liebt und deren Kind sie letztlich ist, und dem Tyrannen, der sie malträtiert, führt Erika eine gebrochene Existenz. Die Doppelidentität der Mutter verunsichert Erika. Das System von Verboten und Kontrollen macht Erika zur Voyeurin.

Einem Requisit kommt dabei entscheidende Rolle zu: dem Fernseher. Mit ihrem Roman „Die Klavierspielerin“ nimmt Elfriede Jelinek das Zeitalter des Voyeurismus vorweg – Voyeurismus als Flucht vor und zu sich selbst, im Gegensatz zum Voyeurismus in „1984“ von George Orwell. Der Voyeurismus als totalitäre Staatsdoktrin wird durch den Voyeurismus als Mediendoktrin („Big Brothers“) ersetzt.

Im Gegensatz zum Œvre Bernhards ist das Werk Jelineks spärlich möbliert.

Jelineks Requisiten sind keine Dekorationen, die Atmosphäre und Identität stiften, was für die Texte von Thomas Bernhard charakteristisch ist – denken wir an den berühmten Ohrensessel, dem der Schriftsteller ein Denkmal gesetzt hat.

Er gehört so fest zu seinem Werk, wie die Aufschrift „Bauer zu Obernathal“ zu dem Traktor, der in seiner Scheune steht und allem Anschein nach von Bernhard nie benutzt worden ist.

Die Zweckmäßigkeit Jelinek´scher Requisiten beschränkt sich ausschließlich auf ihre Funktion oder genauer genommen auf eine Funktion: wenn nicht die primäre, wie beim Fernseher, so ist es die sekundäre Funktion, wie im Fall mit dem Schrank. Requisiten sind Instrumente: Der Fernseher ist dazu da, Erika zu bezähmen, der Schrank ersetzt im Notfall, der dann irgendwann im Roman

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eintritt, das fehlende Zimmertürschloss, für dessen Fehlen der Roman eine plausible Erklärung parat hat: „Die Tür von Erikas Zimmer hat kein Schloss, und kein Kind hat Geheimnisse“23, selbst wenn das Kind Ende dreißig ist, auch dann nicht.

Nicht der Fernseher und auch kein anderer Teil ihres Besitztums macht der Mutter Sorge. Der Schrank wird sie erst später und nur kurz beunruhigen, und zwar hat der Anlass nichts mit den darin hängenden Kleidern zu tun. Was ihr jedoch fortwährend Kopfzerbrechen macht, ist Erika, der einzige Gegenstand ihres Besitztums, der imstande ist davonzulaufen. Der Fernseher soll es verhindern und – so ist die Mutter der Überzeugung – tut es auch: „Das Hauptproblem der Mama besteht darin, ihr Besitztum möglichst unbeweglich an einem Ort zu fixieren, damit es nicht davonläuft. Diesem Zweck dient der Fernsehapparat, der schöne Bilder, schöne Weisen, vorfabriziert und verpackt, ins Haus liefert. Um seinetwillen ist Erika fast immer da, und wenn sie einmal fort ist, weiß man genau, wo sie herumschwirrt“.24

Erika Kohut hat keinen Ort, wohin sie sich zurückziehen könnte. Sowohl zeitlich, als auch lokal ist sie ihrer Mutter ausgeliefert. Überall, wo sie sich nur befinden mag, kann sie angerufen werden. „Wenn Erika einmal im Monat in einem Café sitzt, weiß die Mutter, in welchem und kann dort anrufen. Von diesem Recht macht sie freizügig Gebrauch.“25 Den Traum, ihre Tochter könne

„eine überregionale Pianistin werden“, hat die Mutter längst ausgelebt: „Die Mutter erklärt, eigentlich ist mir die Erika schon recht so wie sie ist. Mehr wird wohl nicht daraus“.26 Der Drill hat zwar aus Erika keine Weltberühmtheit gemacht, aber „etwas Sicheres hat man sicher: das Lehramt für Klavier am Konservatorium der Stadt Wien“.27 In ihrem Beruf ist Erika genauso eine Projektion ihrer Mutter wie im Familienleben. Die Mutter hat an der Identität ihrer Tochter tüchtig herumgebastelt. In das Identitätsbild ihrer Tochter hat sie die Bausteine ihrer Visionen (vom Kind und von der berühmten Klavierspielerin) investiert. Dass diese Identitätssteine den Weg der eigenen Identitätsfindung ihrer Tochter versperrt haben, wird von der Mutter nicht wahrgenommen. Jeglicher Zweifel wird durch die Einschaltung der Legitimationsinstanz „Mutter“ ausgeschaltet. Für die Mutter steht die Identität ihrer Tochter außer Zweifel, nur wurde der Identitätsbaustein „berühmte Klavierspielerin“ durch den anderen ersetzt, der eine sanftere Modifikation des Anfänglichen darstellt: Klavierspielerin am Wiener Konservatorium. Der Glanz des Ruhmes wurde mit der Stabilität von „etwas Sicherem“ halbwegs kompensiert, anstelle von Schein – das Sein.

Das Psychodrama fängt erst recht dort an, wo das Identitätsbild, das die Mutter von der Tochter hat, mit den Selbstauffassungsbemühungen ihrer

23 Ebd., S. 7

24 Ebd.

25 Ebd., S. 8

26 Ebd.

27 Ebd.

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Tochter kollidiert. Es spielt sich in der Welt von Erikas Psyche ab, es ist eben ein Psychodrama. Ihre Auswirkungen zeigen sich natürlich nach außen. Der Roman „Die Klavierspielerin“ ist eine Art Katalog dieser äußeren Zeichen der inneren Gebrochenheit. Erika ist zu schwach, sich dem Identitätsbild, welches sich ihre Mutter von ihr gemacht hat, zu widersetzen und dem einen eigenen Identitätsentwurf entgegenzusetzen. Sie hat den Weg begangen, der in der außerliterarischen (nicht fiktiven) Wirklichkeit des Öfteren begangen wird. Sie hat den Kampf um die Identität aufgegeben, noch bevor sie hat damit anfangen können. Der unerbittlichen Kontinuität der von Geburt an dauernden mütterlichen Bemühungen konnte sie unmöglich den Kampf ansagen. Ein Kind ist einem Erwachsenen darin nicht gewachsen. An einer anderen Stelle heißt es später im Roman: „Sie weiß, diese mütterliche Umschlingung wird sie restlos auffressen und verdauen, und doch wird sie von ihr magisch angezogen“.28

Erika hat eine Doppelidentität, ohne sich dessen bewusst zu werden. Ihre Identität weist eine Oberflächen- und eine Tiefenstruktur auf. Auf der Oberfläche hat sie sich das Identitätsbild, das ihr die Mutter in die Wiege gelegt und jahrelang gepflegt hat, angeeignet. Die Tiefenstruktur ist kaum ausgebildet.

Obwohl ihr Profil sehr unscharf umrissen ist, zielt es darauf hin zu kompensieren, was die Oberfläche verwehrt. Durch die Doppelidentität dazu prädestiniert, führt Erika Kohut ein Doppelleben – das eine, das die meiste Zeit in Anspruch nimmt und in dem die Mutter schaltet und waltet und Erika verwaltet wird, und ein anderes, von dem weder die Mutter noch die Umgebung etwas merken kann. Im Grunde repräsentiert die Mutter durch ihre Omnipräsenz fast die ganze Umgebung, Berufskollegen dürfen nur am Rande vorkommen.

Im Roman wird die Aufmerksamkeit auf das Sexualleben fokussiert. Was in der Oberflächenstruktur nicht zu existieren scheint, wird in der Tiefenstruktur ausgelebt. Da es von der Oberfläche verdrängt worden ist, nimmt es in der Tiefenstruktur typische Formen einer bedrängten Sexualität an. Am Beginn des 20. Jahrhunderts zog man gegen die Heuchelei in Sachen Sexualmoral ins Feld bzw. ins Bordell – denken wir etwa an die beispielhafte Expressionistengeneration – , am Ende des Jahrhunderts aber verläuft der Protest subversiv und verdeckt. Er meidet die Öffentlichkeit. Die sexualmoralischen Säulen der Gesellschaft, wie bei Jelinek am Beispiel einer Wiener Familie, sind fest und unerschütterlich.

Die Schizophrenie zwischen der katholischen Kirche auf einer Seite und dem Pornoshop auf der anderen wird nun im Roman „Die Klavierspielerin“ an Erika Kohut exemplifiziert, mit der gutbürgerlichen Mutter auf einer Seite und der sich mit den Ausweichformen der Sexualität abgebenden Tochter auf der anderen. Dem Satz „Notfalls wird Erika zu diesem Zweck von der Mutter ganz glattgehobelt, damit nichts Überflüssiges an ihr haften kann“ wird durch die gesamte Romanhandlung ein bitteres Dementi erstattet. Von der Oberfläche

„ganz glattgehobelt“, siedelt es sich umso fester in der Tiefe an. Der Streit

28 Ebd., S. 118

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zwischen der Tochter und der Mutter wegen des neuen Kleidungsstückes am Romananfang ist eine peinliche Ausnahme, wo das Verdrängte direkt zurückschlägt. Im Übrigen wird kaum gestritten: Die beiden Dimensionen des Doppellebens stoßen äußerst selten zusammen. In die Tiefenstruktur verlagert, vollzieht sich der Streit zutiefst subversiv. Nichts anderes als ein Streit mit der Mutter und mit dem von ihr aufgezwungenen Identitätsbild ist das heimliche Leben der Klavierspielerin Erika Kohut. Nicht der Streit einer Kämpfenden, sondern der einer Versagerin, wie es die Leistungsgesellschaft schön zynisch nennt.

Aber auch nach diesem einzelnen Streit kommt es recht schnell zur Versöhnung. Nachdem das Kleid zerfetzt und genug Haarbüschel gezupft sind, bereut Erika ihre Tat und fällt in die Arme ihrer Mutter. Die Mutter bereut nichts. Sie hat nichts zu bereuen. Aus der Streitszene ihres größeren Rollenspiels tritt die Mutter als Siegerin hervor. Während Erika einen dramatischen Zusammenbruch erlebt, handelt es sich bei der Mutter um eine inszenierte Enttäuschung. Die Mutter ist im Roman schematischer gezeichnet als Erika, deren Perspektive gewählt wird. „Alles, was Erika gegen die Mutter unternimmt, tut ihr sehr leid, weil sie ihre Mutti liebhat, die sie schon seit frühester Kindheit kennt. Schließlich lenkt Erika, wie erwartet, ein, wobei sie bitterlich heult. Gern, nur allzu gern, gibt die Mutti nach, sie kann ihrer Tochter eben nicht ernsthaft böse sein. Jetzt koche ich uns erst einmal einen Kaffee, den wir gemeinsam trinken werden. Bei der Jause tut Erika die Mutter noch mehr leid, und die letzten Reste ihrer Wut lösen sich im Guglhupf auf“.29

Nach dem Kammerspiel in der Wohnung, das in die Romanhandlung einführt, verlagert sich das Romangeschehen in die Öffentlichkeit, aus einem geschlossenen Raum in einen offenen. Dieser Abschnitt, der die Mutter-Tochter- Beziehung in ein grelles Licht rückt, schließt mit einer Bilanz über die Identität der Klavierspielerin Erika Kohut. Der Vergleich, der, laut Handke, ansonsten vom Vergleichsgegenstand wegführt, führt ihn diesmal mit sarkastischer Unbarmherzigkeit vor: „Erika ist ein Insekt in Bernstein, zeitlos, alterslos. Erika hat keine Geschichte und macht keine Geschichten. Die Fähigkeit zum Krabbeln und Kriechen hat dieses Insekt längst verloren. Eingebacken ist Erika in die Backform der Unendlichkeit.“30

Der Mutter-Tochter-Liebeszwist am Anfang ist Präludium zu der folgenden Handlung. Während im Rahmen der Mutter-Tochter-Beziehung der Unterschied zwischen dem Ich (Erika) und dem anderen (Mutter) aufgrund der Mutterfunktion schwer fällt, wird im Bereich des Draußen scharf geschieden.

Erst jenseits der Wohnungstür fängt die tatsächliche Andersartigkeit an, so Jelinek. Erst draußen wird das Ich mit dem anderen richtig konfrontiert. Die Anonymität der Straßenbahnszene zeigt die Verlassenheit des Ichs in der humanen bzw. urbanen Umgebung: „Zwingt man SIE aufgrund von Volkszorn an der einen Haltestelle hinaus, wo sie noch zu weit von zu Hause entfernt ist, so

29 Ebd., S. 10

30 Ebd., S. 15-16

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verlässt sie auch wirklich folgsam den Waggon, weicht der geballten Wut, die ihr in die geballte Faust gelaufen ist, doch nur, um geduldig auf die nächste Elektrische zu warten, die wie das Amen im Gebet sicher einherkommt. Das sind die Ketten, die nie abreißen“.31 Je größer die Deklinationsformen des Ich geschrieben werden, desto kläglicher ist es um das Ich bestellt. Das Ich, das alle anderen zu einer einzigen abstrakten Größe des anderen (Volk) homogenisiert, versucht, sich von dem anderen noch mehr abzuheben. Seine Süffisance unterstreicht nur mehr seine (Selbst)isoliertheit: „Drängeln ist unter IHRER Würde, denn es drängt der Mob, es drängt nicht die Geigerin und Bratschistin“.32

Der verallgemeinerte andere – der Prozess der Extrapolierung von Phobien ist an und für sich ein Verallgemeinerungsprozess – kommt Erika einer ungebändigten Naturgewalt gleich, der sie nicht entgegenwirkt, sondern fügsam folgt. Diese Verfremdung des anderen und die Entfremdung des Ich von dem anderen draußen (der Außenwelt) ist Folge der Mutterdiktatur zu Hause. Der gebrochene Wille kennt nur diesen Weg: den der Einsamkeit und Einfügsamkeit. Die Episoden, in denen das Ich dem anonymen anderen („SIE“) begegnet, werden mehrmals in die Romanhandlung eingebettet. Zur Hervorhebung der Anonymität des anderen werden die öffentlichen Verkehrsmittel eingesetzt, wo man sich räumlich zwar sehr nahe ist, aber umso anonymer kommt das Ich sich und kommt der andere dem Ich vor. Das Sauberkeitsbedürfnis und der Ekel vor dem anderen stellen einen programmatischen Bestandteil der Angststrategien dar. Die Angst des Ich vor dem anderen wird vom Ich auf sich selbst zurückprojiziert. Das Ich fixiert seine Aufmerksamkeit auf seine Sauberkeit, angefangen mit der Körperhygiene bis zu der Welt der Psyche und kulturellen Bedürfnissen hin. Der xenophobe Umgang mit der Außenwelt ist ein Plädoyer für die Ästhetik des Ekelhaften: „IHR Sauberkeitsinstinkt ist unheimlich empfindlich. Schmutzige Leiber bilden einen harzigen Wald ringsumher. Nicht nur der körperliche Schmutz, die Unreinlichkeit gröbster Sorte, die sich den Achselhöhlen und Schößen entringt, der feine Uringestank der Greisin, das aus dem Leitungsnetz der Adern und Poren strömende Nikotin des Greises, jene unzählbaren Haufen von Nahrung billigster Qualität, die aus den Magen heraufdünsten; nicht nur der fahle Wachsgestank des Kopfschorfs, des Grinds, nicht nur der haardünne, doch für den Geübten durchdringende Gestank von Scheißemikrotomen unter den Fingernägeln – Rückstände der Verbrennung farbloser Nahrungsmittel, jener grauen, ledrigen Genussmittel, wenn man es Genuss nennen kann, die sie zu sich nehmen, peinigen IHREN Geruchssinn, IHRE Geschmacksknospen – nein, am schlimmsten trifft es SIE, wie sie einer im anderen hausen, sich einer den anderen schamlos aneignen. Einer drängt sich sogar noch in die Gedanken des anderen hinein, in seine innerste Aufmerksamkeit“.33 Die Angst des Ich vor dem

31 Ebd., S. 17

32 Ebd., S. 21

33 Ebd., S. 23

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Kontakt mit dem anderen schlägt in den Ekel des Ich vor dem anderen um – die Angst, von dem kollektiven bzw. singularisierten anderen vereinnahmt zu werden. Die faschistoiden Züge des Sauberkeitsinstinkts des Ich und des Ekels des Ich vor dem anderen, die in diesem Roman nicht thematisiert, im Zusammenhang mit der Erzählmaterie jedoch angestreift werden, sind unüberhörbar. Da „Die Klavierspielerin“ andere Intention hat und anderswo die Prioritäten setzt, bleibt die Frage nach den Zusammenhängen zwischen Faschismus und den Grundlagen von Beherrschung und Demütigung dahingestellt.

Zu guter Letzt handelt es sich im Roman um die Aufgabe der Persönlichkeit.

Wie auch ihr Identitätsbild ausschauen mag, identifiziert sich Erika Kohut als Persönlichkeit mit diesem Bild. Von dem gewohnten Identitätsbild abzurücken hieße für sie, ihre Persönlichkeit aufzugeben: „Sein [Klemmers] Wunsch ist, dass sie sich von ihren Hemmungen endlich befreien möge. Sie solle ihre Persönlichkeit als Lehrerin ablegen und einen Gegenstand aus sich machen, den sie ihm dann anbietet. Er wird für alles Sorge tragen“.34 Angst, Abneigung, Aggression gegen das andere Geschlecht wird im Roman „Die Klavierspielerin“

anders als in den meisten anderen Texten der Schriftstellerin, nämlich nicht mit der patriarchalischen Dominanz begründet, sondern der Tochter von der Mutter und ferner auch der Großmutter eingeimpft: „Die Mutter warnt Erika vor einer neidischen Horde, die stets das eben Errungene zu stören versucht und fast durchwegs männlichen Geschlechts ist“35, oder: „Mutter und Oma, die Frauenbrigade, steht Gewehr bei Fuß, um sie vor dem männlichen Jäger, der draußen lauert, abzuschirmen und den Jäger notfalls handgreiflich zu verwarnen.

Die beiden älteren Frauen mit ihren zugewachsenen verdorrten Geschlechtsteilen werfen sich vor jeden Mann, damit er zu ihrem Kitz nicht eindringen kann. Dem Jungtier sollen nicht Liebe, nicht Lust etwas anhaben können“.36 Die Verdrängung des Sexuellen und seine Reduzierung auf Lust und Trieb geht mit der Biologisierung der Sprache einher.

In anderen Werken Jelineks dominiert das Patriarchalische, hier hat man es - klammert man die Beziehungen zwischen Erika Kohut und Walter Klemmer für einen Augenblick aus - mit dem Fehlen des Patriarchalischen zu tun. Das Eindringen des Patriarchalischen in die Hochburg der mütterlichen Alleinherrschaft wird an der Figur Walter Klemmers exemplifiziert. Ob der junge Mann tatsächlich so monströs ist, wie er per Darstellung wirkt, ist sehr fraglich, insbesondere da das Bild vom anderen Geschlecht von der Mutter und der Oma zu einem Feindbild geschmiedet worden ist. Man könnte die Mutter als eine Figur interpretieren, die sich die Vaterrolle mangels der väterlichen Autorität oder aus Scham und Wut vor dessen Unzulänglichkeit aneignet und sich als absolute Herrscherin bzw. Entscheidungsträgerin aufführt. Das wäre auch eine Möglichkeit. Inwieweit sie standhält, sei dahingestellt.

34 Ebd., S. 175

35 Ebd., S. 26

36 Ebd., S. 35

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Der Kontakt mit dem anderen wird gefälligst gemieden. Von Kind an versucht die Mutter, Erikas Aufmerksamkeit an die Kunst zu binden und sie gegen alles andere, insbesondere gegen das andere Geschlecht, abzuschirmen.

An einer späterer Stelle heißt es im Roman: „Lieber den Gipfel der Kunst als die Niederungen des Geschlechts“.37

Die Kunst nimmt in der Literatur der Zweiten Republik einen besonderen Platz ein. Zum einen findet die Kunst der Moderne als öffentliche Selbstrepräsentations-Kulisse der Republik Verwendung, zum anderen wird in den Werken österreichischer Schriftsteller mit der Kunst heftig polemisiert. Die Kunst wird mit der Etikette „Alte Meister“ abgekanzelt. In seiner „Komödie“

„Alte Meister“ bemüht sich Thomas Bernhard um das Niederreißen der Kunstkulisse. Kunst als Finsternis? – Diese Frage könnte man mit dem gleichen Recht stellen, wie die Frage „Wissenschaft als Finsternis?“.38 Auch im Roman

„Die Klavierspielerin“ wird die Kunst zur Rechenschaft gezogen und als bürgerliches Accessoire enthüllt. Hinter dem Kunstwahnsinn, der die Massen zusammen- und in die Konzerte bzw. Ausstellungen hineintreibt, steht die Werbungs- und Kulturmanagerindustrie. Der Mensch geht hin nicht, weil es ihn wirklich interessiert, sondern weil ihn die Kulturindustrie dahin führt. Im sogenannten Bordone-Saal vor dem Tintorettobild des Weißbärtigen Mannes auf der Bank sitzend, betrachtet der Protagonist Reger in „Alte Meister“ die in Scharen vorbeieilenden Kulturtouristen. Während Reger jahrelang vor einem Bild verbringt, schaffen es die anderen, an den vierhundert Jahren europäischer Kunstgeschichte vorbeizugaloppieren: „Die Leute begehen in den Museen ja immer den Fehler, dass sie alles sehen wollen, so gehen sie und gehen sie und schauen und schauen und brechen dann plötzlich, weil sie sich ganz einfach an Kunst überfressen haben, zusammen“.39 Bei Jelinek fällt die Sichtweise nicht viel anders aus: Ob Fleischhauer oder Peepshowbesitzer, man besucht den Tempel der Kunst - aber nicht, um zu beten, sondern um zu schauen und sich beschauen zu lassen: „Eine Fülle der Empfindung überschwemmt einen Herrn Fleischereibesitzer. Er kann sich nicht wehren, obwohl er ein blutiges Handwerk gewohnt ist. Er ist starr vor Staunen. Er sät nicht, er erntet nicht, er hört nicht gut, aber er kann in einem öffentlichen Konzert besichtigt werden. Neben ihm die weiblichen Teile seiner Familie, die mitgehen wollten“.40 Das Thema „Kunst und Philistertum“ scheint durch die neuen Kulturindustriestrategien weder getarnt noch ausgeschöpft zu sein. Seine Hoheit, der Herr Philister, ist überlebensfähiger als die Kunst, die restauriert werden muss, um nicht abzubröckeln.

Wie lang auch die Kunst und wie kurz unser Leben auch sein mag, die Kunst kann nicht alle Ansprüche des Ich befriedigen, vor allem dann nicht, wenn sie

37 Ebd., S. 197

38 So der Titel des Jahrbuches der Thomas -Bernhard-Privatstiftung in Kooperation mit dem Österreichischen Literaturarchiv: Martin Huber, Wendelin Schmidt-Dengler (Hg.), Wissenschaft als Finsternis? Wien: Böhlau 2002

39 Thomas Bernhard, Alte Meister, aaO., S. 202

40 Ebd., S. 22

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dem Ich aufgezwungen wird. In der dem Ich aufgezwungenen Kunstausübung bekämpfen sich gegenseitig der Drang zur ästhetischen Sauberkeit (das groteske Überbleibsel der Vorstellu ng von der Kunst als dem Schönen) und die Ästhetik des Ekelhaften, als dessen Begründer Charles Baudelaire mit seinen „Fleur du mal“ zu Recht gelten kann. Das Ekelhafte, von den Expressionisten groß auf ihre ästhetische Fahne geschrieben, ersetzt im Roman „Die Klavierspielerin“ das Prinzip Hoffnung. An Stelle von großen bereinigenden Emotionen der altgriechischen Herkunft schafft die aufgezwungene Kunst das Leid erst herbei:

„Dabei wird die ganze Kunst SIE nicht trösten können, obwohl der Kunst vieles nachgesagt wird, vor allem, dass sie eine Trösterin sei. Manchmal schafft sie allerdings das Leid erst herbei“.41

Das Hässliche steht auch in einer anderen Weise im Dienste der Kunst. Ob

„Das Parfüm“ von Patrick Süskind, „Schlafes Bruder“ von Robert Schneider oder „Die Klavierspielerin“ von Elfriede Jelinek, in all diesen Werken kommt das Hässliche mit der Kunst in unmittelbaren Kontakt. In allen drei Werken wird der Zusammenhang hergestellt zwischen einer in aller Hässlichkeit geschilderten Geburt und der Kunst, der sich der Geborene bzw. die Geborene später widmet, sei es über die Erzeugung von Parfüms oder die Musik. Die Mutter in „Die Klavierspielerin“ erlebt ein Trauma, als sie das Neugeborene betrachtet.

Während ihr vor der Geburt „etwas Scheues und Zartes vor Augen“ geschwebt hat, schockiert sie der „Schmutz und Kot“ der Wirklichkeit. Der Kontrastbogen zwischen der physiologisch schmutzigen Geburt und der hohen „sauberen“

Kunst wird gespannt. Unter diesem Bogen spielt sich die Romanhandlung ab, obwohl in der Komposition die natürliche Reihenfolge umgedreht wird: zuerst kommt der Lobgesang auf die Kunst, dann der Einblick in Geburt und Kindheit der Protagonistin. „Als sie dann aus ihrem Leib hervorschießenden Lehmklumpen betrachtete, ging sie sofort daran, ohne Rücksicht ihn zurechtzuhauen, um Reinheit und Feinheit zu erhalten. Dort ein Stück weg und dort auch noch. Instinktiv strebt jedes Kind zu Schmutz und Kot, wenn man es nicht davor zurückreißt. Für Erika wählt die Mutter früh einen in irgendeiner Form künstlerischen Beruf, damit sich aus der mühevoll errungenen Feinheit Geld herauspressen lässt, während die Durchschnittsmenschen bewundernd um die Künstlerin herumstehen, applaudieren. Jetzt ist Erika endlich fertig zurechtgezartet, nun soll sie den Wagen der Musik in die Spur heben und auf der Stelle zu künsteln anfangen“.42

Der Mythos von der Wahlfreiheit des Menschen wird zugunsten der Vorgegebenheit entmythologisiert. Die Mutter hobelt Erika zurecht, wie der Holzmeister seinen Pinocchio. Trotz der spezifis chen Sprache, in der erzählt wird und in der die Charaktere gezeichnet werden, wirken die Protagonisten Jelineks insofern puppenhaft, als ihre Identitätvon einem äußeren Zwang bestimmt wird. Dies unterscheidet die Protagonistin Jelineks von den Protagonisten Bernhards. Während die Kunst seinen Protagonisten bei all ihrer

41 Ebd., S. 25

42 Ebd.

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dezent kritischen Kunsthaltung das Überleben ermöglicht (ihre Existenz wird durch die negative Wertung der Kunst gerechtfertigt und mit Sinn erfüllt), erlangt die Kunst bei Jelinek eine andere Dimension: Kunst als Trauma. Ab nun, d.h. ab der Geburt gilt es, alles, was Geschlecht und daher Schmutz bedeutet, auszulöschen, und alles, was mit der Kunst zu tun hat, vehement zu fördern. Wo Sex haust, hat die Kunst nichts verloren und umgekehrt. Die Biographie der Kunst gehört umgeschrieben: „Leider wimmeln die Künstlerbiographien, welche überhaupt das Wichtigste an den Künstlern sind, allzu oft von geschlechtlichen Lüsten und Listen ihrer Protagonisten. Sie erwecken den irreführenden Anschein, als entwüchse erst dem Komposthaufen der Geschlechtlichkeit das Gurkenbeet des reinen Wohllauts“.43 Das Geschlechtliche wird mit der Fäulnis, die Kunst mit dem Ewigen gleichgesetzt. Von den Identitätsvorstellungen ihrer Mutter geprägt, versucht Erika das Geschlechtliche ihres Identitätsbildes auszuradieren und sich in die Hülle bzw. Hülse der Kunst zu kleiden. Auf der Flucht vor Nichts bzw. Nichts-Identität klopft Erika umso heftiger an die Tür der Kunst: „Im Gehen hasst Erika diese poröse, ranzige Frucht, die das Ende ihres Unterleibs markiert. Nur die Kunst verspricht endlose Süßigkeit. Erika läuft dahin. Bald wird diese Fäulnis fortschreiten und größere Leibespartien erfassen. Dann stirbt man unter Qualen. Entsetzt malt Erika sich aus, wie sie als ein Meter fünfundsiebzig großes unempfindliches Loch im Sarg liegt und sich in der Erde auflöst; das Loch, das sie verachtete, vernachlässigte, hat nun ganz Besitz von ihr ergriffen. Sie ist Nichts. Und nichts gibt es mehr für sie“.44

Abgesehen von der unterschiedlichen Bedeutung der Kunst im Leben von Erika Kohut und in dem von Reger, hier als Trauma - dort als Existenzsicherung, hier interpretierende Künstlerin - dort „ausübender und schöpferischer kritischer Künstler“ (was eigentlich eine Karikierung ist und nichts anderes meint als einen Interpreten), klingen die Ansichten über Kunst im Roman „Die Klavierspielerin“ und in der „Komödie“ „Alte Meister“

stellenweise verblüffend ähnlich, nämlich bei Jelinek: „Viele jungen Leute treibt es immer noch, wie in alten Zeiten, zur Kunst, die meisten von ihnen werden von ihren Eltern dorthin getrieben, weil diese Eltern von Kunst nichts verstehen, gerade nur wissen, dass es sie gibt. Und darüber freuen sie sich so! Viele drängt die Kunst allerdings wieder von sich ab, denn es muss auch Grenzen geben“45, bei Bernhard: „Die Lehrer sind aber durch und durch kleinbürgerlich und gehen instinktiv gegen die Kunstfaszination und Kunstbegeisterung ihrer Schüler vor, indem sie die Kunst und überhaupt alles Künstlerische auf ihren eigenen deprimierenden stupiden Dilettantismus herunterdrücken und in den Schulen die Kunst und das Künstlerische überhaupt zu ihrem ekelhaften Flöten- und genauso ekelhaften wie stümperhaften Chorgesang machen, was die Schüler abstoßen muss“.46

43 Ebd., S. 198

44 Ebd., S. 199

45 Ebd., S. 29

46 Thomas Bernhard, Alte Meister, aaO., S. 51

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Die Kunst wird zur Kulisse eines Liebesdramas, welches mit dem Mutter- Tochter-Drama um die Vorrangstellung im Roman ringt, eine Beziehung – selbst wenn sie so eigenartig erscheinen mag, darf sie dennoch als Beziehung bezeichnet werden – zwischen dem Ich und dem anderen, zwischen einer SIE und einem ER. SIE ist Erika Kohut, Klavierspiellehrerin am Konservatorium zu Wien, ER heißt Walter Klemmer, kommt aus der technischen Branche, will jedoch gleichzeitig Musik studieren, und zwar in der Musikklasse von Erika Kohut. Aus der technischen Branche kommt auch die Sprache, in der diese sonderbare Liebesstory im Roman geschildert wird. Ist die Branche ausreichender Grund dafür? Oder gibt es im postmodernen Zeitalter keine Gefühle mehr und sie sind zusammen mit dem großen bürgerlichen Roman, dem literarischen Spiegel der Moderne, abgestorben? Oder werden eben nur die Ebenen der Noblesse endgültig gewechselt (von der schöngeistigen Literatur in die Belletristik)? „Die Frau belässt es meist bei der Andeutung eines Könnens, damit gibt sie sich zufrieden. Klemmer hingegen ist ein Mensch, der einer Sache auf den Grund gehen möchte. / Walter Klemmer kann es nicht verhehlen, dass er seine Lehrerin in Betrieb nehmen möchte. Konsequent wünscht er sie zu erobern. Klemmer zertrampelt wie ein Elefant zwei weiße Kachelfliesen bei dem Gedanken, dass diese Liebe lohnlos bleiben soll“.47 Sprachliche Kurzschlüsse untermauern Jelineks Theorie von den Frauen, die sich der patriarchalischen Muster bedienen, und von den Männern, für die der wissenschafts-technische Fortschritt und der Eroberungszwang ausschlaggebende Zeichen ihres Identitätsbildes sind. Die Mutter sieht, laut Jelinek, die Kunst mit patriarchalischen Augen, d.h. als Geldquelle. Walter Klemmer wird von Elfriede Jelinek nach dem Schema eines patriarchalischen Roboters entworfen.

Am Beispiel dieser unglücklichen Liebesgeschichte wird die Instanz Liebe denunziert. Der Mann, der, laut Jelinek, seit Ewigkeiten die Liebe mit der Eroberungslust verwechselt, und die Frau, Erika Kohut. Warum verfolgt sie Herrn Klemmer? Warum folgt sie ihm, bis er „ohne sich einmal umzusehen, sein Haustor in einem Bürgerhaus der oberen Kategorie betritt, um in die Wohnung seiner Eltern im ersten Stock zu gelangen, wo die Familie auf ihn wartet“?48 Die Institution Familie wird ebenfalls denunziert. Die Bindung der Familienmitglieder (Klemmers oder Kohuts) aneinander wird als Fesselung der jüngeren Generation an die Vorstellungen (Stereotypen und Klischees) der älteren interpretiert. Warum wird Erika von ihrer Vergewisserung beruhigt, dass

„Walter Klemmer sich nirgends aufgehalten, sondern unverzüglich nach Hause begeben hat“?49 Es ist etwas mit ihr geschehen: „Aber es ist etwas mit ihr geschehen, und sie nimmt das Ergebnis dieses Geschehens mit in ihr Heim, wo sie erst einmal in einen Kasten sperrt, damit die Mutter es nicht findet“.50 Aber

47 Ebd., S. 124

48 Ebd., S. 129

49 Ebd.

50 Ebd., S. 130

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