Zeitenwende im Jahre 2020
was Corona mit uns macht
Antje Kelle
… ein Versuch
gegen die Sprachlosigkeit
für Grisco
Thema: Seite:
Rückblick 9
Gewohnheiten 10
Weitung 11
Tatsachen 12
Parasiten 13
Ursachen 14
Handlungsbedarf 15
Maßnahmen 16
Einsicht 17
Auswirkungen 18
Urbanität 19
Atmosphäre 20
Teilerfolg 21
Strategiewechsel 22
Quarantäne 23
Zäsur 24
Klärung 25
Feststellung 26
Empfindung 27
Aufmerken 28
Ambivalenz 29
Nöte 30
Anteilnahme 31
Krank? 32
Kurzarbeit 33
Existenzsorgen 34
Wirtschaft 35
Familienangelegenheiten 36
Irritationen 37
Dilemma 38
Gerätemangel 39
Güterabwägung 40
Folgenabschätzung 41
Lockerungen 42
Großveranstaltung 43
Kontroversen 44
Wissenschaft 45
Debatten 46
Positionen 47
Grenzen 48
Perspektivenwechsel 49
Menschen 50
Menschlichkeit 51
Systemrelevanz 52
Ausblendungen 53
Kinder 54
Veränderungen 55
Jugend 56
Hausaufgaben 57
Homeoffice 58
Entfremdung 59
Versteifungen 60
Urlaubspläne 61
Leerstellen 62
Spielplatz 63
Museum 64
Bühne 65
Konzertsaal 66
Kapelle 67
Bibliothek 68
Stadion 69
Kneipe 70
Restaurant 71
Strand 72
Befindlichkeiten 73
Wertschätzung 74
Ungeduld 75
Unmut 76
Kritik 77
Unruhe 78
Momente 79
Verschnaufpause 80
Brüche 81
Gelegenheiten 82
Reflexionen 83
Hände 84
Masken 85
Abstand 86
Zahlen 87
Verlust 88
Kreativität 89
Trost 90
Fragen 91 Frühling 92 Plötzlich 93 Besinnung 94
Chance? 95 Wiederaubau 96 Ziele 97
Lebensmodell 98 Vorblick 99 Alternativen 100
Hoffnung 101
Vision 102
Traum 103
Rückblick
Gewohnheiten
Alles war selbstverständlich:
wünschbar planbar erreichbar.
Alles schien möglich.
Und Wuhan war weit.
Weitung
Vor einiger Zeit
nur eine Nachricht am Abend.
–
Das ist ja schlimm dort in China.
Am nächsten Tag
schon eine Ahnung der Folgen.
–
Ob sie sich ausbreiten können?
In der nächsten Woche dann eine wachsende Sorge.
–
Ist wohl Europa gefährdet?
Im nächsten Monat nun die globale Gewissheit.
–
Alle sind weltweit betroffen.
Im nächsten Jahr
wohl noch die zitternde Frage:
Wann ist es endlich vorüber?
Tatsachen
Parasiten
Hinterhältig reist ihr um die Welt.
Gnadenlos sucht ihr eure Opfer.
Unsichtbar nistet ihr euch ein und wütet ohne Maß.
Erbärmliche Schmarotzer, eines Tages
werden wir euch besiegen!
Ursachen
Nicht aus dem Himmel und nicht aus den Tiefen der Erde,
nein,
vermutlich von Menschenhand gemacht,
ahnungslos und unbedacht und folgenschwerst.
Handlungsbedarf
Notstand ist.
Und Angst.
Und ein starker Staat mit konkreten Hilfen, mit wirksamen Regeln,
mit klarer Begründung und Augenmaß.
Maßnahmen
Das Land hält den Atem an.
Politiker suchen Rat.
Sie wägen ab und entscheiden,
dass nur noch Gesundheit zählt und alles, was notwendig ist.
Empfehlung, Verbot, Verzicht.
Beschränkung wird Bürgerpflicht.
Einsicht
Wir machen mit, entschlossen und diszipliniert.
Wir halten stand, notgedrungen, doch achtsam.
Wir steh`n zusammen, solidarisch
und verantwortungsvoll.
Auswirkungen
Abgeschaltet abgesperrt
abgesagt Die Städte welken.
Urbanität
Geisterstunde am helllichten Tag.
Gespenstische Stille.
Surreale Lethargie.
Nur ein Schmetterling
flattert über dem Löwenzahn am Straßenrand.
Er weiß nichts vom Weltendrama.
Atmosphäre
Der Schock sitzt tief.
Lähmung breitet sich aus und Schwermut.
Die Zuversicht liegt brach, und Lebensträume verkümmern.
Allerdings hört man auch von gemütlicher Entschleunigung.
Teilerfolg
Schaum,
einfacher Seifenschaum, kann tödliche Viren vernichten.
Was für eine Macht!
Aber die anderen
verbreiten sich ungebremst weiter.
Was für eine Ohnmacht!
Strategiewechsel
Vom Bund auf die Länder:
statt Einheit jetzt Vielfalt:
föderale Akzente auf verbindlicher Basis:
kein Flickenteppich, sondern atmendes Recht
–
trotz aller Unzulänglichkeiten.
Quarantäne
Zäsur
Alles jäh beendet, abgebrochen.
Ausgegrenzt
hinter verschlossener Tür.
Aber manchmal legt ein Nachbar Brot und Blumen auf meine Fensterbank.
Klärung
Wir müssen reden:
ich und ich.
Wir sind jetzt mit uns allein.
Haben wir uns noch etwas zu sagen?
Sind wir bei uns zu Hause?
Sind wir uns selbst genug?
Feststellung
Die Welt ist nicht mehr verfügbar.
Zuhanden ist nur, was du hast:
die Dinge drinnen.
Das muss vorerst genügen.
Empfindung
Die Welt ist noch da.
Aber anders.
Ganz anders.
Alles ist anders.
Wir auch.
Aufmerken
So viel angefangen.
So viel ungeordnet.
So viel weggeschoben.
Wertlos oder wichtig
?
Ambivalenz
Gefangen
und zugleich auch frei.
Eingesperrt und zugleich geschützt.
Abgeschirmt und zugleich vernetzt.
Und doch keine Balance.
Nöte
Anteilnahme
Italien trägt Trauer.
Bergamo weint.
Die Totengräber lassen müde ihren Spaten sinken.
Da!
Horch!
Aus der Ferne wehen leise Töne herüber
und geben dem Schmerz eine Sprache:
„va, pensiero …“
Krank?
Bin ich`s?
Bist du`s?
Es kann ja jeder sein.
Vielleicht
ist unser Körper schon durchgiftet.
Vielleicht
sind unsere Tage längst gezählt.
Vielleicht aber werden wir verschont.
Das wäre schön.
Kurzarbeit
Von heute auf morgen.
Unverschuldet.
Keine Rücklagen.
Also sparen.
Wie lange?
Und danach?
Da freue ich mich auch nicht über die beiden freien Tage.
Aber wenigstens nicht arbeitslos.
Existenzsorgen
Nicht nur Verwerfungen, sondern nahe am Abgrund.
Nicht nur Schulden, sondern vielleicht Insolvenz.
Nicht nur Einbuße, sondern fast schon Ruin.
Wirtschaft
Solange der Rettungsschirm hält,
bringt der plötzliche Sturzregen nur nasse Füße.
Wenn aber
das Unwetter nicht aufzuhalten ist, wird der Boden überspült
und das Wasser reißt alles mit sich.
Familienangelegenheiten
Selten eine Idylle manchmal eine Gelegenheit
oft ein großes Problem auf kleinem Raum
und meistens ein heftiges Ringen von Wollen und Dürfen
und Müssen.
Irritationen
Die Schwestern bei uns sahen sonst ganz anders
aus. Warum verkleiden sie sich jetzt? Ich kann sie ja kaum noch unterscheiden.
Bisher haben wir oft im Tagesraum gemeinsam
gesessen. Warum holt mich keiner?
Und wo ist meine Tochter?
Warum
kommt sie denn nicht mehr? Ich warte vergebens.
Dilemma
Gerätemangel
Wer
kann es bekommen,
das letzte freie Beatmungsgerät?
Zwei Patienten benötigen es.
Einer wird sterben.
Einer vielleicht überleben.
Jeder ein Schicksal.
Güterabwägung
JA, ES GEHT HIER UM LEBEN UND TOD.
Niemand wird dem widersprechen.
DER STAAT HAT DAS LEBEN ZU SCHÜTZEN.
Dazu ist er rechtlich verpflichtet.
DASS ZUM LEBEN GESUNDHEIT GEHÖRT, dies wird wohl jeder so sehen.
Jedoch:
Gelingendes Leben ist mehr als physisch am Leben zu sein.
AUCH FREIHEIT IST FUNDAMENTAL, im Grundgesetz deutlich verbürgt,
und unser höchstes Menschenrecht:
DIE WÜRDE IST UNANTASTBAR.
Nur:
Im Ausnahmezustand wie jetzt kann nicht alles gleichzeitig sein.
Was immer der Staat auch beschließt:
Es gibt oft nicht „richtig“ und „falsch“, sondern nur noch Aporie.
Folgenabschätzung
Welche Wirkung?
Welche Nebenwirkung?
Für die Menschen?
Für die Wirtschaft?
Für den Staat?
Niemand kennt, was nie gewesen ist.
Da bleibt uns nur, zu beobachten,
zu prüfen, zu bessern
und alle Unwägbarkeiten wachsam auszuhalten.
Lockerungen
Zu früh ist riskant.
Jede neue Infektion wäre eine Katastrophe.
Zu spät ist riskant.
Jeder weitere Stillstand wäre eine Katastrophe.
Großveranstaltungen
Und jetzt das in diesen Tagen:
Beeindruckende Demonstrationen für hohe Ideale
mit heißem Herzen aber
ohne kühlen Kopf und dicht gedrängt.
Und unsere Ordnungshüter müssen sie gewähren lassen.
Kontroversen
Wissenschaft
Eigentlich ist es ja gut,
dass zur Wahrheit der Zweifel gehört, dass sie Widerspruch braucht und Diskurs,
dass die Antwort zur Frage mutiert, die Daten benötigt und Zeit,
viel Zeit.
Denn Forschung ist immer Prozess, ein langer Prozess,
auch jetzt in der Virologie.
Leider.
Debatten
Meinungsvielfalt allüberall:
Erfindung Vermutung Behauptung.
Jeder weiß Bescheid
und tut seine Ansicht lautstark kund.
Das muss eine Demokratie aushalten.
Positionen
Die Pandemie Die Abwehr bedroht und der Pandemie bedroht
schadet uns und schadet uns
elementar. elementar.
Es ist unvermeidbar, Der Staat kann es sich dass der Staat hohe nicht leisten, hohe
Summen zur Summen zur
Verfügung stellt. Er Verfügung zu stellen, wird die Schulden da er die Schulden später ausgleichen später nicht ausgleichen können. kann.
Es ist ein Gebot der Es ist ein Gebot der Stunde, jedem zu Stunde, nur denen helfen, der ohne zu helfen, die Hilfe nicht überleben bestimmte Bedingungen kann. erfüllen.
Grenzen
Schlagbäume und Kontrollen.
Wir hatten schon fast vergessen, dass es sie gibt
in Europa.
Jahrzehntelang grenzenlos.
Schengen.
Europäischer Alltag.
Gelebtes Miteinander.
Die Gefahr ist noch nicht gebannt.
Doch was gilt als triftiger Grund?
Und wann ist der richtige Zeitpunkt zur Öffnung?
Perspektivenwechsel
Menschen
Erst einmal Feinde und heimliche Gegner
verdächtig gefährlich verseucht
Abwehr statt Austausch und keine ansteckende Liebe.
Menschlichkeit
Doch!
Sie sind da, die sich zuwenden!
Die alles geben, um Leiden zu mildern und Würde und Leben zu retten!
Die sich nicht schonen und Fürsorge schenken,
wo Einsamkeit ist!
Systemrelevanz
Und all die anderen, die unermüdlich
ihre Arbeit tun für uns.
Die pflanzen und ernten, erzeugen und werken, beschaffen, verkaufen und lehren und hüten und flicken und schrauben
und liefern und fahren und säubern und pflegen
und prüfen und zahlen und regeln und wachen
und helfen und wagen.
Auch ihnen sei Dank!
Aber
es sind noch viele andere,
die lange schließen und schweigen müssen, obwohl wir ihrer essentiell bedürfen.
Ausblendungen
Im Polarkreis schmilzt das Eis
immer noch.
Im Jemen darben die Menschen
immer noch.
In den Lagern harren die Flüchtlinge
immer noch aus.
In Ostafrika
fressen die Heuschrecken immer noch alles kahl.
Aber wir schauen kaum noch hin.
Kinder
Die neuen Spielregeln werden sie nicht verstehen.
Aber sie werden fühlen, dass etwas anders geworden ist:
irgendetwas.
Und am Abend werden sie ihren Teddybär ganz, ganz fest knuddeln.
Veränderungen
Jugend
Lange online beschult Kontakte beschränkt
zu Hause nix los die Eltern gestresst.
Wie denken junge Leute wohl darüber?
Wer fragt sie?
Wer lädt sie öffentlich ein?
Wer bringt ihnen bei,
wie man in der veränderten Welt seinen Weg findet,
an die Zukunft glaubt und Schulden abbaut.
Hausaufgaben
Wer hätte das gedacht:
Schule
fast ein Sehnsuchtsort.
Dort traf man seine Freunde.
Dort gab es feste Strukturen.
Dort waren die Lehrer für alles Wichtige zuständig.
Jetzt aber wochenlang Eigenverantwortung.
Entdeckendes Lernen.
Selbstbestimmt und digital.
Freiraum und Leistung, wenn man Ansprechpartner hat
und das Umfeld stimmt.
Frust und Hilflosigkeit, wenn man nicht einmal WLAN und einen Drucker hat.
Schade.
Homeoffice
Zwischen Küchentisch und häuslichem Arbeitszimmer
modern flexibel mobil.
Sehr praktisch.
Doch leider immer erreichbar.
Dienstreisen werden zum Fototermin.
Der Plausch mit Kollegen entfällt.
Ein interessantes Modell und eine gute Ergänzung für die Arbeit der Zukunft.
Wenn da nur nicht immer
Bauklötze und Krümel neben dem Laptop lägen.
Entfremdung
Lampenfieber könntest du jetzt haben
und das gewisse Kribbeln im Bauch.
Publikum
könnte jetzt anwesend sein, konzentriert und bereit.
Magische Momente könnten euch gleich verbinden,
unmittelbar resonant.
Statt dessen stehst du im Studio
und organisierst das Streaming.
Versteifungen
Stillstand auch hier.
Von Kopf bis Fuß.
Kein Training.
Kein Wettkampf.
Kein Entlastungsventil.
Nur die Jogger
drehen unbeirrt ihre Runden.
Urlaubspläne
Erst die Enttäuschung.
Storno, Ausfall, Verschiebung.
Ein kleines Drama.
Dann aber raus!
Koste es, was es wolle, falls man es sich noch leisten kann.
In jedem Fall aber ein anderer Sommer.
Eventuell auch eine schwierige Heimkehr.
Und hoffentlich keine zweite Welle.
Leerstellen
Spielplatz
Die Schaukel knarrt leise im Wind.
Der Sand döst vor sich hin, und an der Rutsche flattert lustlos
ein Absperrband.
Kein Rufen und Lachen, kein Springen und Toben
und auch keine Oma,
die schützend am Kletterturm steht.
Das wäre auch hochproblematisch, da sie selbst in dieser Zeit ja zu schützen ist.
Museum
Für lange Zeit hält der Zauber inne
die Farben schlummern die Formen ruhen sich aus die Rahmen entspannen sich und alle gehören nur sich selbst.
Bühne
Das Licht ist aus.
Wo sonst Worte Welten erschaffen, wo Phantasie Gestalt annimmt,
hebt sich der Vorhang nicht.
Kein Vergnügen.
Keine Katharsis.
Keine Inspiration.
Nur Bretter.
Konzertsaal
Die Karten verfallen.
Der Saal verwaist.
Die Töne verstummt.
Doch sie werden unversehrt wiederkehren.
Die ungesungenen Lieder schweben schon in der Luft.
Die ungespielten Melodien durchströmen schon die Reihen.
Die gefesselten Rhythmen vibrieren schon zaghaft im Raum.
Der Tag wird kommen, an dem die Klänge wieder die Seelen streicheln.
Kapelle
Gott lässt sich nicht aussperren.
Er hält auch keinen Abstand.
Er bleibt da und wartet geduldig, bis sich die Tür wieder öffnet.
Bibliothek
Ruhe war immer, aber lebendige Ruhe:
knisternde Ruhe, wach und sprungbereit
und voller Energie.
Nun aber lagert sie träge auf den öden Tischen zwischen den toten Regalen.
Stadion
Dort
zweiundzwanzig Spieler aus zweiundzwanzig Haushalten,
gründlich getestet und hochmotiviert.
Der Ball rollt endlich wieder.
Und die Fans
fiebern mit und feuern sie leidenschaftlich an und jubeln trunken
vom Sofa aus.
Kneipe
Der Laden zu.
Die Stühle hoch.
Der Bierhahn trocken.
Die Lebensfreude
muss sich jetzt einen anderen Ort suchen.
Restaurant
Sie sind noch ganz präsent, die lauen Sommerabende, als sei es gestern gewesen:
Auf der Gartenterrasse saßen wir und ließen uns verwöhnen.
Das Windlicht flackerte sacht, und wir genossen den Wein
und das Leben.
Strand
Himmel, Wasser und Sand, und keiner sieht es.
Tosendes Wogengebrüll, und keiner hört es.
Sonne auf hungriger Haut, und keiner fühlt es.
Salz auf trockenen Lippen, und keiner schmeckt es.
Tang an perlendem Ufer, und keiner riecht es.
Menschenleeres Paradies.
Befindlichkeiten
Wertschätzung
Endlich.
Es wurde Zeit wahrzunehmen,
was Menschen für Menschen tun.
Endlich erfahren sie jetzt die Anerkennung, die ihnen gebührt.
Viel zu spät, aber weithin sichtbar und hörbar
von den Balkonen.
Ungeduld
Auch das gehört dazu.
In einer offenen Gesellschaft darf man unzufrieden sein
und das auch sagen,
wenn das Gemüt leidet, wenn die Kräfte schwinden, wenn die Anspannung steigt
und noch kein Ende in Sicht und kein Planungshorizont und kein kalkulierbarer Fahrplan.
Und dabei wollen einige einfach nur ihr altes Leben zurück.
Unmut
Der Alltag ist nicht mehr der Alltag.
Alles ist aus dem Lot.
Ringsum Unsicherheit und Entbehrung.
Musste das wirklich so sein?
Reichte nicht weniger aus?
War alles nötig und auch verhältnismäßig?
Allmählich
gleitet das Leben uns aus der Hand.
Kritik
Zur Freiheit erzogen und nun diese Abhängigkeit.
Zur Mündigkeit gereift und nun diese Gängelung.
Zur Verantwortung befähigt und nun diese Fremdbestimmung.
Dieser Widerspruch ist nicht immer
plausibel.
Unruhe
Es gibt sie nur noch selten, die kleinen Augenblicke
des Atemholens der Leichtigkeit des Urvertrauens.
Es gibt nicht mehr sehr viele, die in sich ruhen und sich aufgehoben wissen in einem sinnhaften Ganzen.
Momente
Verschnaufpause
Die Schadstoffe nehmen ab.
Die Sterne leuchten heller.
Die Natur erholt sich von uns.
Was für ein Pyrrhussieg.
Brüche
In diesem Jahr
blieb beim Segen urbi et orbi die Welt
ausgeschlossen,
konnte man zur Rushhour die Place de la Concorde
zu Fuß überqueren
und der Hamburger Hafen feierte seinen Geburtstag
ohne Besuch.
Gelegenheiten
In der U-Bahn braucht jetzt keiner zu stehen.
An der Kasse drängelt niemand.
Und die Parkbank hat jeder für sich allein.
Wie gern würde man darauf verzichten.
Reflexionen
Hände
Weißt du noch, wie es war,
jemand die Hand zu reichen?
Stummer Druck.
Brückenschlag.
Was für ein schönes Zeichen!
Zwiegespräch ohne Wort.
Wir werden es wieder lernen.
Masken
Geschundenes Angesicht:
aufgeputzt als Mummenschanz.
Die Stimme
verkommen zum Mikrophon.
Das Lächeln vergisst zu sein.
Die Augen funktionieren noch.
Und die Seele ruft nach Erlösung.
Abstand
Zerlegter Raum
gemessene Leere.
Entfernung
ist das neue Maß der Menschlichkeit
und
jeder eine Monade.
Zahlen
Jeden Tag
dasselbe mediale Ritual:
Statistik auf dem allerletzten Stand:
Infizierte Genesene
Tote.
Da kann man leicht vergessen, dass Zahlen Stellvertreter sind:
diesmal für Menschen.
Verlust
Kontakt nennt man es jetzt, das leise Berühren.
Unkontrolliert darf es nicht mehr sein.
Auch nicht der kleine Moment:
dem Herzen folgen die Arme ausbreiten
und Nähe spüren.
Früher nannte man es Umarmen.
Kreativität
Erfindergeist in schwerer Zeit
Impulse statt Erstarrung Ideen statt Resignation Improvisieren statt Geht-nicht.
Das macht Mut.
Trost
Ungewiss ist,
wie lange wir noch ausgeliefert sind.
Aber gewiss ist,
dass Menschen sich kümmern, wenn Menschen in Not sind,
und
dass eine große gütige Hand uns hält.
Mehr ist manchmal nicht.
Aber das ist.
Fragen
Frühling
In diesem Jahr
keimen die Samen später entfalten die Knospen sich zögerlicher
blühen die Veilchen blasser als sonst.
Oder scheint dies nur so?
Plötzlich
Etwas Ungeheuerliches ist geschehen und hat uns mit voller Wucht
aus der Bahn geworfen.
Unser Triebwerk ist kaputt.
Unsere Gleise verbogen.
Die Weichen beschädigt.
Und etwas ist uns abhanden gekommen:
unsere Unbekümmertheit.
Für immer?
Besinnung
Wir wähnten uns in Saft und Kraft und hielten es für normal,
dass es uns gutging.
Wir glaubten, dass es in Ordnung sei, sich der Erde zu bedienen.
Wir hatten uns eingerichtet, und Unbehagen kannten wir kaum.
Das alte Leben gibt es nun nicht mehr.
Die Uhren sind angehalten.
Ob wir uns wohl ändern müssen?
Chance?
Die Bilanz ist ernüchternd:
weniger Sicherheit weniger Wohlstand mehr Ratlosigkeit.
Eine neue Welt wird es nicht geben,
höchstens
ein neues Denken:
weniger Gedankenlosigkeit weniger Selbstoptimierung
mehr Gemeinsinn.
Das wäre schon viel.
Wiederaufbau
Die Wirtschaft ächzt
und stemmt sich der Rezession entgegen.
Wie halten wir durch?
Wo wirkt das Konjunkturpaket?
Was leisten die Innovationen?
Wer wird es schaffen, wer nicht?
Wann kommt der Aufschwung, damit ein V entsteht
und kein U?
Fragen über Fragen.
Ziele
Könnte man wohl Fortschritt neu definieren?
Verbesserung – ja,
aber vor allem der Lebensqualität.
Steigerung – ja,
aber vor allem der Nachhaltigkeit.
Effizienz – ja,
aber vor allem des Klimaschutzes.
Lebensmodell
Unbehaust sind wir lange schon.
Jetzt aber geht es an die Substanz.
Bisher konnten wir manches Problem
wegschmusen wegarbeiten wegkompensieren.
Jetzt aber müssen wir uns neu verorten
und möglicherweise auch neu entwerfen.
Wo stehen wir?
Wer wollen wir sein?
Ist unser Leben und Zusammenleben so,
wie wir es wirklich möchten?
Vorblick
Alternativen
Wir werden
mit dem Virus leben müssen und manches unterlassen,
was uns wichtig war.
Vieles aber
können wir heilsam verwandeln.
Und wenn Singen bedenklich ist, dann summen wir eben.
Hoffnung
Was ich mir wünsche:
Der bleierne Nebel möge sich lichten.
Die Wunden mögen verheilen und das Lächeln zurückkehren.
Vision
Neustart:
Analysieren, was war.
Gewichten, was ist.
Justieren, was sein soll.
Traum
Einfach nur so in der Sonne sitzen
weltverloren unbeschwert Hand in Hand.
–
Was für eine Wonne mag das sein!
Vielleicht sogar ein Hauch von Glück.