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Archiv "Gesundheitstag 2000 in Berlin: Von Lebensfreude und unterbelichteten Themen" (23.06.2000)

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ie Wesen am Eingang zum Au- dimax der Technischen Uni- versität Berlin wirken etwas außerirdisch. Sie tragen silberfarbene Jacken, halten silberfarbene Tabletts und bieten rote, etwas glibberige klei- ne Pyramiden an. Was das sei? „New food“, hauchen sie höflich. Hier soll es zur Eröffnung des alternativen „Ge- sundheitstag 2000“ gehen, der vom 31.

Mai bis 4. Juni stattfindet? Beherzt die Pyramide in den Mund genommen, die nach Erdbeeren schmeckt, und einge- treten zur interaktiven Veranstaltung

„Geld oder Leben“.

Statements und

Performance im Wechsel

Der Saal ist mäßig voll, allseits bekannte Repräsentanten des Ge- sundheitswesens fehlen. Dafür sind viele Leute gekommen, die in Selbst- hilfegruppen, Initiativen und Bera- tungsstellen einen Namen haben. Alle müssen wählen, an welchen von rund 500 Veranstaltungen sie in den näch- sten Tagen teilnehmen wollen. „Die Themen reichen von einem Szenario zum geklonten Menschen über Pati- entenbeteiligungsmodelle in Europa, die Auswirkungen der Gesundheits- telematik, der Gesundheitsversorgung von MigrantInnen bis zu unkonven- tionellen Diagnose- und Therapiever- fahren, Selbsthilfeförderung, der kri- tischen Reflexion des Gesundheits- wesens und der Ausbildungsmisere in der Medizin“, stand in der Einladung.

Statements von Fachleuten auf dem Podium wechseln mit Performan- ce-Einlagen von Studenten der Berli- ner Hochschule der Künste, die auch den Erdbeerglibber angeboten haben.

Prof. Ilse Middendorf, Grande Dame

der Atemtherapie, bittet alle aufzuste- hen und nach ihren Anleitungen zu at- men. Wie sie 90 geworden ist? „Ein- fach atmen“, sagt sie. Die Lachtraine- rin Heidemarie Wahl gibt Proben ihres Könnens und fordert ebenfalls zum Mitmachen auf: „Achtmal am Tag La- chen würde schon genügen, um alle Ärzte arbeitslos zu machen.“

Wie viele Leute wohl kommen werden? So voll wie beim ersten Ge- sundheitstag in Berlin scheint es nicht mehr zu werden. Damals, 1980, rei- sten rund 12 000 Frauen und Männer an. Wichtige Programmpunkte waren

„Medizin und Nationalsozialismus“, die neue „Selbsthilfe-Bewegung“ und

„Das Elend der herrschenden Psych- iatrie“. Bis 1987 fand jährlich in unter- schiedlichen Städten ein Gesund- heitstag statt, dann war Schluss. Nun hat eine Gruppe von Leuten den Ge- sundheitstag neu belebt, darunter vie- le Ehemalige des ersten Treffens. Zu ihnen gehört Dr. med. Ellis Huber, ehemals Präsident der Ärztekammer Berlin und heute Geschäftsführer der Krankenkasse Securvita. Einem Mit- arbeiter der „taz“ sagte er, der Ge- sundheitstag 1980 sei eine „breite Suchbewegung, ein Jahrmarkt der Vi- sionen“ gewesen. Heute gehe es dar- um, „eine Perspektive jenseits von Staat und Markt deutlich zu machen“.

Zur Eröffnung des „Gesundheits- tag 2000“ ist auch Prof. Dr. med. Ilona Kickbusch gekommen, die den ersten vor 20 Jahren miterlebt hat. Sie war zwischenzeitlich als Public Health-Be- auftragte bei der WHO tätig und lehrt derzeit an der Yale-Universität in den USA. Sie habe sich damals nicht vor- stellen können, sagt Kickbusch, dass die wichtigen Themen 20 Jahre später immer noch so dringlich sein würden.

Beispiele? „Armut und Gesundheit,

Infektionskrankheiten.“ Kickbusch ap- pelliert an die Zuhörer, über die Dis- kussion des eigenen Gesundheitswe- sens die Probleme in anderen Ländern nicht zu vergessen und nicht die not- wendige internationale Solidarität.

Das sei vor zwanzig Jahren ausgepräg- ter gewesen. Ihre Botschaft? „Ge- sundheit wird im Alltag hergestellt, und wir alle stellen sie zusammen her.“

Viel Zustimmung, doch die Frage bleibt: welche Veranstaltungen besu- chen? Manches Angebot klingt ziem- lich abseitig und erscheint damit ty- pisch alternativ, beispielsweise „Zur Geschichte der Psychiatrie in Afrika“.

Doch viele Foren und Vorträge befas- sen sich mit Fragestellungen, die längst auch in der etablierten Medizin aufgegriffen werden – wenngleich die Antworten oft anders ausfallen. Man- ches, was vor 20 Jahren neu und al- ternativ war, ist heute etablierter Be- standteil des Gesundheitswesens.

Was früher alternativ war, ist heute etabliert

Die Selbsthilfegruppen beispiels- weise mögen nach eigenem Verständ- nis noch nicht machtvoll genug sein.

Doch sie haben sich als wichtige Zu- sammenschlüsse etabliert. Sogar ihre Berücksichtigung bei der Arbeit des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen wird derzeit disku- tiert. In Deutschland seien drei Millio- nen Menschen in 70 000 Selbsthilfe- gruppen organisiert, berichtet Klaus Balke in Berlin. „Es wächst etwas, auch wenn es sich hier nicht zeigt.“

Wer sich zeigt, ist die Bundesge- sundheitsministerin. Andrea Fischer hat die Schirmherrschaft über den Gesundheitstag übernommen und A-1731

P O L I T I K TAGUNGSBERICHT

Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 25, 23. Juni 2000

Gesundheitstag 2000 in Berlin

Von Lebensfreude und unterbelichteten Themen

Viele erinnerten sich an den alternativen Aufbruch vor 20 Jahren – sofern die vielen Veranstaltungen Zeit dazu ließen.

D

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kommt zur Abschlussveranstaltung.

Zudem bietet ihr Ministerium eine gut besuchte Diskussionsveranstaltung zum Thema „Integrierte Versorgung“

an, bei der sie ebenfalls mitdebattiert.

Dort berichten Initiatoren des Ärzte- netzes Rhein-Main, der Praxisnetze Nürnberg und Berlin sowie der Medi- zinischen Qualitätsgemeinschaft Mo- dell Herdecke (Zusammenschluss von niedergelassenen Ärztinnen und Ärz- ten in Herdecke sowie des Gemein- schaftskrankenhauses dort) von ihrer Arbeit und ihren Erwartungen.*

Fischer betont, sie habe mit der neuen gesetzlichen Regelung zur Inte- grationsversorgung Türen öffnen wol- len. Nun müssten diejenigen durchge- hen, die es wünschten. Ein Erziehungs- programm sei die integrierte Versor- gung nicht. Die anwesenden „Netz- ärzte“ versprechen sich durchweg ein Verbesserung der Qualität und der kollegialen Zusammenarbeit. Wer län- ger dabei ist, hat manchen Anspruch offenbar schon relativiert. Dr. med.

Rüdiger Dreykluft vom Praxisnetz

Berlin sagt, manche Kollegen hätten sich zuweilen aus betriebswirtschaftli- chen Überlegungen heraus für etwas entschieden, hielten dies aber inzwi- schen auch qualitativ für sinnvoll. Sie von etwas anderem zu überzeugen, sei schwierig. Zudem sei die Frage, was eine bessere Qualität oder ein höherer Nutzen für den Patienten konkret sei, oft nur schwer zu beantworten. Drey- fuss berichtet auch, dass man vielen Patienten kaum vermitteln könne, was für sie der Vorteil eines Netzes sei.

Nachbesserungen bei den Patientenrechten

Der Gesundheitstag endete mit Arbeitsergebnissen und Forderun- gen. Christoph Krannich von der Hamburger Verbraucherzentrale, be- kannt als Verfechter ausgedehnterer Patientenrechte, mahnt: „Es wäre ei- ne fatale Gefahr, wenn Patientenun- terstützung von der Definitionsmacht der Krankenkassen abhängig bliebe.“

Er verlangt, die Politik solle die ent- sprechenden gesetzlichen Regelungen zur Patientenberatung nachbessern.

Anbieter von Patientenberatung müss-

ten unabhängig sein von Leistungser- bringern und Kostenträgern.

In den Veranstaltungen des Be- reichs „Gesundheit und Ethik“ war der Umgang mit alten, älteren und sterbenden Menschen wichtiges The- ma. Nun fordern die beiden Teilneh- mer, die darüber berichten, eine stär- kere Kontrolle von Alten- und Pflege- heimen und keine weitere Absenkung des Fachpersonalschlüssels. Im Um- gang mit Sterbenden solle man den Stellenwert von Patientenverfügungen stärker juristisch fixieren. Ein weiteres Anliegen ist es, die Öffentlichkeit we- niger einseitig über das Thema Trans- plantationen zu informieren. Aspekte der Belastung und der eingeschränk- ten Lebensqualität von Transplantier- ten kämen noch viel zu kurz.

Ganz am Ende wird dann ein Po- dium dazu befragt, was es aus den Ver- anstaltungen beziehungsweise den Ar- beitsergebnissen der Themengruppen mitnehme. Andrea Fischer sagt, es sei ein großes Verdienst des Gesundheits- tags, den Blick erneut auf „unterbelich- tete“ Themen gelegt zu haben. Als Bei- spiel nennt sie „Armut und Gesund- heit“, damit befasse sich seit kurzem ein Arbeitskreis im Ministerium. Gro- ßen Handlungsbedarf gebe es auch zum Thema Migration und Gesundheit.

Dr. med. Andreas Crusius, Präsi- dent der Ärztekammer Mecklenburg- Vorpommern, bezieht sich auf die For- derung nach einer stärkeren Patien- tenbeteiligung im Gesundheitswesen.

Hierzu müssten erst einmal gesetzliche Grundlagen geändert werden, sagte er, und es sei zu klären, wer denn über- haupt ein legitimierter Patientenvertre- ter sei. Dr. med. Michael Späth, Vorsit- zender der Hamburger Kassenärztli- chen Vereinigung, lobt die Arbeit von Krannich in der Verbraucherzentrale.

Er ist dennoch der Auffassung, dass die eigentliche medizinische und wissen- schaftliche Beratung von Patienten in den Händen von Ärzten liegen solle.

Die beiden ernten für ihre Äuße- rungen Gemurre und Kritik – und werden von Fischer in Schutz genom- men. Wer genau hingehört habe, kön- ne schon erkennen, dass sich auch bei der Ärzteschaft inzwischen etwas ver- ändert habe, meint sie. Aber Verände- rung funktioniere im Gesundheitswe- sen eben nicht nach dem Motto

„Schalter umlegen“. Sabine Rieser A-1734

P O L I T I K TAGUNGSBERICHT

Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 25, 23. Juni 2000

Zehn Gebote für Kongressteilnehmer

Drei Organisatoren des Themenbereichs „Soziale Verantwortung und professio- nelles Handeln“ stimmten Interessenten mit folgendem Text ein:

– Du bist der Herr/die Frau deines Lebens, der dich in Gesundheit und Krank- heit geführt hat. Du sollst keine anderen Götter neben dir haben – auch keine Götter in Weiß.

— Du sollst dir ein Bild von dir selbst machen und Gesundheit leben lernen und dein Arzt soll dich lieben wie sich selbst.

˜ Du sollst dir vorstellen, dass Ärzte auch nur Menschen und ohne Therapeuten verloren sind.

™ Du sollst deine Welt nicht unbedingt verstehen, sondern sie verändern.

š Du sollst lernen, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile und du in einer Gemeinschaft lebst = T – ogether

E – veryone A – chieves M – ore

› Du sollst wissen, dass Gesundheit unbezahlbar ist und ein guter Freund, der hilft, den Arzt in vielen Fällen zu ersetzen.

œ Du sollst wissen, dass Ausbildung mehr ist als Einbildung und Weiterbildung weniger als Erfahrenwerden.

 Du sollst wissen, dass Liebsein nicht genügt und das Gegenteil von gut nicht gut gemeint ist.

ž Du sollst Gesundheit statt Aktien zeichnen, und dein Kurs steigt.

➓ Du sollst die Veranstaltungen des Themenbereichs 10 besuchen.

(Ricki Nusser-Müller-Busch, Kai Schnabel, Wilhelm Rimpau)

*Das Deutsche Ärzteblatt hat in Heft 21/2000 über eine Studie berichtet, die die Ansätze, Hoffnungen und Hürden von Ärzten in Versor- gungsnetzen analysiert.

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