Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 104⏐⏐Heft 42⏐⏐19. Oktober 2007 A2841
P O L I T I K
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U-Gesundheitskommissar Mar- kos Kyprianou plant einen re- gelrechten Dammbruch in der euro- päischen Gesundheitspolitik. Nach einem bislang nur inoffiziell vorlie- genden Richtlinienvorschlag des Kommissars soll der Anspruch der EU-Bürger auf grenzüberschrei- tende Gesundheitsdienstleistungen, auf Informationen über das Versor- gungsangebot sowie auf Erstattung der Kosten nach Auslandsbehand- lungen rechtlich zementiert werden.Gleichzeitig soll langfristig der Ein- fluss der EU auf nationale gesund- heitspolitische Entscheidungen stei- gen, um die finanzielle Stabilität der Gesundheitssysteme zu sichern und Unterschiede in den nationalen Ver- sorgungsniveaus auszugleichen.
Dabei beruft sich Kyprianou auf Umfragen der Kommission bei der EU-Bevölkerung und Urteile des Europäischen Gerichtshofs zur Pati- entenmobilität.
Einzelstaatliche Zulassungskrite- rien für Ärzte und Zahnärzte sowie die Vorschriften der Berufsanerken- nungsrichtlinie und die EU-Verord- nung zur Koordinierung der Sozial- schutzsysteme sollen durch den neuen Rechtstext allerdings nicht berührt werden. Letztere bildet bis- lang die einzige rechtliche Grundla- ge für die Behandlung von Patienten im europäischen Ausland auf Basis der Europäischen Krankenversi- chertenkarte. Die Kommission will einen abgestimmten Richtlinienvor- schlag für eine „sichere, hoch quali- fizierte und effiziente grenzüber- schreitende medizinische Versor- gung“ am 20. November veröffent- lichen. Über diesen Text müssen das Europäische Parlament (EP) und die zuständigen Minister der EU-Mit- gliedstaaten entscheiden, bevor die Richtlinie endgültig steht.
Bereits der erste Entwurf lässt aber keinen Zweifel daran, dass die
EU-Länder bei der einzelstaatlichen Planung ihrer Gesundheitssysteme künftig verstärkt Aspekte der grenz- überschreitenden Versorgung be- rücksichtigen sollen. Da Brüssel hierfür wiederum den Takt vorge- ben will, könnte dies – vorausge- setzt EP und Ministerrat stimmen den Vorschlägen der Kommission zu – zulasten nationaler Kompeten- zen im Gesundheitswesen gehen.
Auch ist davon auszugehen, dass die Erfüllung der Vorschriften zu ei- nem enormen bürokratischen Auf- wand führen wird. Denn der Ge- sundheitskommissar will den eu- ropäischen Gesundheitsmarkt nach dem Vorbild der Ende vergangenen Jahres verabschiedeten Dienstleis- tungsrichtlinie revolutionieren.
Mehr grenzüberschreitende Kooperationen
So sollen sich EU-Bürger zum Bei- spiel bei zentralen Stellen über ihre Rechte bei grenzüberschreitenden medizinischen Behandlungen sowie über die Leistungsangebote und die Qualität der Versorgung informie- ren können. Außerdem sollen diese Einrichtungen die Patienten im Fal- le von Schadensabwicklungen nach einer Auslandsbehandlung unter- stützen. Der Kommissar will es den Ländern überlassen, wer diese Auf- gaben übernehmen soll. Verbrau- cherstellen, wie der Euro-Info-Ver- braucher e.V. in Kehl, haben bereits Interesse angemeldet. Die Informa- tionspflicht setzt jedoch zugleich voraus, dass die erforderlichen Da- ten fortlaufend aktualisiert werden und die Länder bereit sind, die Da- ten auch über Landesgrenzen hin- weg auszutauschen.
Ärzte und Zahnärzte wiederum will der Kommissar verpflichten, sich gegen etwaige Ansprüche nach Behandlungsfehlern ausreichend abzusichern. Eine generelle Versi-
cherungspflicht für medizinische Berufsgruppen existiert allerdings noch nicht in allen EU-Ländern.
Impulse für eine verbesserte Pati- entenversorgung verspricht sich der Kommissar zudem von grenzüber- schreitenden Kooperationen im Ge- sundheitswesen. Dem Richtlinien- vorschlag zufolge eignen sich hier- für besonders telemedizinische An- wendungen oder der Austausch von Fachkräften. Regeln will Kyprianou zudem die Vernetzung von Versor- gungszentren, die auf die Behand- lung von Patienten mit seltenen Er- krankungen spezialisiert sind. Auf diese Weise sollen die fachlichen Kompetenzen gebündelt werden.
Zu heftigen Diskussionen im EP und im Kreis der Regierungsvertre- ter könnte auch die geplante Unter- scheidung zwischen ambulanten und stationären Leistungen führen.
Denn zu den stationären Leistun- gen, für die die Patienten im Rah- men einer Auslandsbehandlung eine Vorabgenehmigung ihrer Kasse benötigen, sollen vor allem Leistun- gen zählen, die eine Übernachtung in einer Versorgungseinrichtung er- fordern ebenso wie hoch speziali- sierte und kostenintensive Behand- lungen. Krankenhausleistungen wer- den in den EU-Ländern jedoch zum Teil unterschiedlich definiert. So gelten in Frankreich chirurgische Zahnbehandlungen und Augenope- rationen als stationäre Leistungen, während sie in Deutschland auch ambulant angeboten werden. Der Euro-Info-Verbraucher e.V. fürchtet, dass die vorgeschlagene Unter- scheidung zwischen ambulant und stationär keine Rechtssicherheit bringen wird. Die Patienten wären im Zweifel weiterhin gezwungen, bei den Krankenkassen nachzufra- gen, ob eine Vorabgenehmigung erforderlich ist oder nicht. I Petra Spielberg