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Archiv "Gesundheitschancen: Frühzeitige Weichenstellung" (16.11.2012)

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A 2298 Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 109

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Heft 46

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16. November 2012

GESUNDHEITSCHANCEN

Frühzeitige Weichenstellung

Gesundheitliche Ungleichheit tritt schon in den ersten Lebensjahren auf, verfestigt sich

und hat einen relevanten Einfluss auf die Gesundheit im Erwachsenenalter.

Für die Klärung der kausalen Zusammenhänge sind prospektive Studien nötig.

D

ie Gesundheitschancen von Kindern in Deutschland ent- wickeln sich zunehmend auseinan- der: Säuglinge und Kinder aus sozial benachteiligten Familien sowie aus Familien mit Migrationshintergrund weisen im Mittel ungünstigere Ge- sundheitsindikatoren auf als ihre Altersgenossen aus der Mehrheits- bevölkerung. Das hat nachteilige gesundheitliche Auswirkungen bis ins Erwachsenenalter, etwa durch erhöhte Risiken für allergische Er- krankungen, Übergewicht und Herz- Kreislauf-Erkrankungen. Diese wie- derum können zu einer sozioöko - nomischen Benachteiligung der Be- troffenen beitragen. Auch in einem wohlhabenden Land wie Deutsch- land besteht also ein Zusammen- hang zwischen Armut und Gesund- heit, der sich wechselseitig verstärkt.

Wissen um Ursachen fördert Chancengleichheit

Die Entstehung gesundheitlicher Ungleichheit in der Kindheit, vor allem in der frühen Kindheit, ist in Deutschland in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus der Wissen- schaft gerückt. Auf der Basis empi- rischer Arbeiten sind spezielle Er- klärungsmodelle für die Entstehung gesundheitlicher Ungleichheit bei Kindern entstanden (1, 2). Unter zwei Gesichtspunkten ist gesund- heitliche Ungleichheit bei Kindern von besonderem Interesse für die ärztliche Versorgung. Zum einen lebt ein steigender Anteil der Kinder in Deutschland unter der Armuts- grenze. Der Sachverständigenrat gibt 2009 den Anteil mit 20 Prozent

an (3). Die Zahl der Kinder, deren Gesundheit aufgrund ihrer sozialen Lage besonders gefährdet ist, steigt und ist für ein wohlhabendes Land zu hoch. Zum anderen determiniert die Gesundheit in der frühen Kind- heit, zum Teil schon in der Schwan- gerschaft die gesundheitliche Ent- wicklung im späteren Leben. Die Risiken einer Vielzahl von Krank- heiten beim Erwachsenen und im Alter werden nach Erkenntnissen der sogenannten Barker-Hypothese sowie der Life-Course-Epidemiolo- gie durch Einflüsse in der Kindheit mitbestimmt (4–6). Barker beob- achtete, dass Menschen, die mit niedrigem Geburtsgewicht zur Welt kamen, im späteren Leben aber stark zunahmen, ein besonders hohes Ri- siko für koronare Herzkrankheit und Diabetes mellitus Typ 2 haben.

Verschiedene Faktoren wirken sich zu verschiedenen Zeitpunkten auf die Entstehung gesundheitlicher Ungleichheit in der Kindheit und im späteren Lebenslauf aus. Man- che wirken akut und sofort, manche erst nach vielen Jahren oder erst in Kombination mit einem anderen Faktor. Neben Merkmalen wie Ein- kommen und Bildung oder Wohn- umfeld spielen noch andere, bislang weniger gut untersuchte Faktoren eine Rolle. Dazu gehören Gen-Um- welt-Interaktionen und psychoso- ziale Risiken, vermutlich aber auch neue soziale Heterogenitätsmerkma- le, wie zum Beispiel kulturelle oder migrationsbedingte Unterschiede (7).

Das Wissen über Risikofaktoren und präventive Faktoren gesund- heitlicher Ungleichheit und die Ent-

wicklung von Erklärungsansätzen für die Entstehung gesundheitlicher Ungleichheit in der deutschen Ge- sellschaft sind eine maßgebliche Grundlage für die Entwicklung von Maßnahmen und Interventionen zur Förderung der gesundheitlichen Chancengleichheit.

Migrationsstatus als

eigenständiger Risikomarker?

In Deutschland lebten im Jahr 2011 etwa 15,7 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund. Sie haben entweder eigene Migrationserfah- rungen oder sind in Deutschland geborene Nachkommen von Mi - granten (sogenannte zweite oder dritte Generation). Dies entspricht 19,3 Prozent der Bevölkerung Deutschlands. Die zwei größten Migrantengruppen stellen die circa 3,2 Millionen (Spät-)Aussiedler und die etwa 2,5 Millionen Personen mit türkischem Migrationshinter- grund dar. Die Bevölkerungsgruppe mit Migrationshintergrund ist jün- ger und hat eine höhere Fertilität als die Bevölkerung insgesamt (8).

Menschen mit Migrationshinter- grund unterscheiden sich von de- nen deutscher Herkunft hinsichtlich soziodemografischer Faktoren. Sie weisen tendenziell ein niedrigeres Bildungsniveau und ein damit ein- hergehend höheres Armutsrisiko auf (9). Zudem bestehen Unter- schiede in Gesundheit und Gesund- heitsverhalten zwischen Menschen mit und ohne Migrationshinter- grund. Beispiele sind ein erhöhtes Risiko für perinatale Todesfälle und Säuglingssterblichkeit, Unterschie-

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Fotos: dpa [m]

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16. November 2012 de in der Krebsinzidenz oder ein

geringeres Inanspruchnahmever- halten von Präventionsangeboten, die nicht ausschließlich auf den häufig niedrigeren sozioökonomi- schen Status zurückgeführt werden können (7, 9, 10). Migrantinnen – im Besonderen Frauen aus Osteuro- pa und den Mittelmeerländern – nehmen Vorsorgeuntersuchungen später und seltener in Anspruch.

Die Sterberaten von Säuglingen aus Migrantengruppen sind höher als bei Säuglingen deutscher Herkunft.

Hinsichtlich Frühgeburtlichkeit und niedrigen Geburtsgewichts gibt es allerdings keine Unterschiede zwi- schen Migranten- und Mehrheits - bevölkerung (11).

Bislang ist unklar, ob der Migra- tionsstatus ein eigenständiger Risi- komarker ist oder lediglich eng mit dem Sozialstatus korreliert. Frühe- re deutsche Studien zu frühkindli- chen Einflüssen auf die Gesundheit wurden oft im Querschnittdesign durchgeführt und erlauben daher keine Rückschlüsse auf Ursache und Wirkung. Die wenigen longitu- dinalen Studien beruhten entweder auf sehr kleinen Fallzahlen, berück- sichtigten keine Migrantinnen und Migranten oder erhoben keine dif- ferenzierten gesundheitlichen Out- comes (9, 12, 13). Die im Aufbau befindliche „Nationale Kohorte“

kann hier keine weiterführenden Erkenntnisse erbringen, da sie erst Personen im jungen Erwachsenen- alter rekrutiert. Um den Forschungs - bedarf bei der Entstehung gesund- heitlicher Ungleichheit und um kausale Zusammenhänge zwischen der gesundheitlichen und sozioöko- nomischen Situation im Säuglings- und Kindesalter und der Entstehung gesundheitlicher Ungleichheit ins- besondere in der Bevölkerung mit Migrationshintergrund herstellen zu können, sind prospektive Geburts- kohorten notwendig.

Ein erster Schritt:

die BaBi-Studie

In Bielefeld wird derzeit an der Fa- kultät für Gesundheitswissenschaf- ten die sozialepidemiologische Ko- horte „Gesundheit von Babys und Kindern in Bielefeld“ (BaBi-Stu- die) aufgebaut. Es werden 1 500

Neugeborene rekrutiert, von denen je 500 einen türkischen oder Aus- siedler-Migrationshintergrund ha- ben, weitere 500 sind ohne Migrati- onshintergrund. Finanziert wird die Studie durch das Bundesministe - rium für Bildung und Forschung und die Universität Bielefeld für zunächst zwölf Jahre. Ziel ist es, Zusammenhänge zwischen Migra- tionshintergrund, sozioökonomi- scher Benachteiligung, weiteren Expositionen und kindlicher Ge- sundheit zu untersuchen. Damit wird ein Beitrag zum besseren Ver- ständnis der Produktion gesund- heitlicher Ungleichheit geleistet.

Daraus abgeleitet werden Wege aufgezeigt, wie diese Ungleichheit verringert werden kann.

Das prospektive Design der mit der Schwangerschaft beginnenden Studie erlaubt die Untersuchung

von elterlichen, fötalen und perinatalen Wirkfaktoren auf die Gesundheit in der frühen Kindheit,

von mehreren Outcomes und der zeitlichen Abfolge von Out- comes (zum Beispiel Geburtsge- wicht, Gewicht mit einem und zwei Jahren),

von multidimensionalen Ent- stehungspfaden gesundheitlicher Ungleichheit, vor allem des Ein- flusses von Akkumulation und In- teraktion von Expositionen und von Expositionen zu bestimmten, kritischen Perioden des Lebens- laufs.

Die Daten werden mit compu- tergestützten Interviews (CAPIs), anhand der Dokumentation wäh- rend Schwangerschaft und Kind- heit (Mütterpässe, U-Hefte) und anhand von Sekundärdatenquellen (statistische Angaben zu Stadtteil- merkmalen et cetera) erhoben. We- sentliche Inhalte (Outcomes) der Erhebung sind:

die körperliche Entwicklung nach der Geburt, bestimmt durch Größe, Gewicht, Body-mass-Index, die in den jeweiligen U-Untersu- chungen dokumentiert werden,

die mentale/kognitive Ent- wicklung: Entwicklung des Sozial- verhaltens, Sprach- und Hörvermö- gen, Einschränkungen der Entwick- lung, wie in den U-Untersuchungen abgebildet,

Allergien: die Bestimmung der Inzidenzen von Allergien in bei- den Erhebungen per CAPI und U-Heft,

Impfungen: unterschiedliche Impfabdeckung bei Kindern von Frauen mit/ohne Migrationshinter- grund, wie in den Impfpässen/

U-Heften abgebildet.

Dem großen Vorteil der länger- fristigen Finanzierungszusage steht momentan noch der Nachteil der lokalen Beschränkung gegenüber.

Da die Finanzierung einer großen, deutschlandweiten sozialepidemio- logisch ausgerichteten Geburtsko- horte derzeit nicht realistisch ist, soll unter der Bezeichnung BaBi- Net eine Reihe ähnlicher, kleinerer Geburtskohorten aufgebaut und vernetzt werden.

Ein Netzwerk von Geburtskohorten

Die weiteren neuen Geburtskohor- ten im Netzwerk BaBi-Net wer- den mit vergleichbaren Methoden der Datenerfassung wie in der im Aufbau befindlichen Geburtsko- horte in Bielefeld (BaBi-Biele- feld) in mehreren deutschen Städ- ten aufgebaut und miteinander vernetzt.

Auch bei der künftigen Gestal- tung der gesundheitlichen Versor- gung in Deutschland müssen Kenntnisse über die Entstehung und Vermeidung gesundheitlicher Ungleichheit aufgrund sozialer Ungleichheit einbezogen werden.

Gesundheitliche Ungleichheit tritt schon in den ersten Lebensjahren auf, verfestigt sich und hat einen relevanten Einfluss auf die Ge- sundheit in späteren Lebensjahren.

Deshalb ist es sinnvoll, bei der Erforschung gesundheitlicher Un- gleichheit den ganzen Lebenslauf der Menschen einzubeziehen und nicht erst beim Auftreten der größ- ten Krankheitslast im Alter zu be- ginnen. Ein Netzwerk aus sozial- epidemiologischen Geburtskohor- ten kann hierzu einen wichtigen

Beitrag leisten.

Prof. Dr. Jacob Spallek, Prof. Dr. med. Oliver Razum Universität Bielefeld, Fakultät für Gesundheits wissenschaften, AG Epidemiologie & International Public Health, jacob.spallek@uni-bielefeld.de

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LITERATUR

1. Hurrelmann K (ed.): Gesundheitssoziolo- gie. Eine Einführung in sozialwissen- schaftliche Theorien von Krankheitsprä- vention und Gesundheitsförderung. Wein- heim, München: Juventa 2006.

2. Lampert T, Richter M, Klocke A: Kinder und Jugendliche: Ungleiche Lebensbedin- gungen, ungleiche Gesundheitschancen.

Gesundheitswesen 2006: 68: 94–100.

3. Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen:

Koordination und Integration – Gesund- heitsversorgung in einer Gesellschaft des längeren Lebens. http://dip21.bundestag.

de/dip21/btd/16/137/1613770.pdf (last accessed 25.09.2012)

4. Barker DJ: The developmental origins of adult disease. Eur J Epidemiol 2003;

18(8): 733–76.

5. Ben-Shlomo Y, Kuh D: A life course ap- proach to chronic disease epidemiology:

conceptual models, empirical challenges and interdisciplinary perspectives. Int J Epidemiol 2002; 31(2): 285–93.

6. Kuh D, Ben-Shlomo Y (eds): A life course approach to chronic disease epidemiolo- gy. Oxford: University Press 2004.

7. Spallek J (ed.): Migrantengesundheit. Die Sicht der Life-Course-Epidemiologie am Beispiel von Krebs bei türkischen Zuwan-

LITERATURVERZEICHNIS HEFT 46/2012, ZU:

GESUNDHEITSCHANCEN

Frühzeitige Weichenstellung

Gesundheitliche Ungleichheit tritt schon in den ersten Lebensjahren auf,

verfestigt sich und hat einen relevanten Einfluss auf die Gesundheit im Erwachsenenalter.

Für die Klärung der kausalen Zusammenhänge sind prospektive Studien nötig.

derern. Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2012.

8. Statistisches Bundesamt: Bevölkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2010 – Fachserie 1 Reihe 2.2. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt 2011.

9. Razum O, Zeeb H, Meesmann U, et al.:

Migration und Gesundheit. Schwerpunkt- bericht der Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Berlin: Robert Koch-Institut 2008.

10. Spallek J, Zeeb H, Razum O: Prevention among immigrants: the example of Ger- many. BMC Public Health 2010; 10: 92.

11. Reeske A: Niedriges Geburtsgewicht und Frühgeburtlichkeit – Literaturübersicht. In Razum O, Reeske A, Spallek J (eds.): Ge- sundheit von Schwangeren und Säuglin- gen mit Migrationshintergrund. Frankfurt am Main: Peter Lang 2011; 45–63.

12. Schenk L: Migration und Gesundheit – Entwicklung eines Erklärungs- und Analy- semodells für epidemiologische Studien.

Int J Publ Health 2007; 52: 87–96.

13. Zeeb H, Razum O: Epidemiologische Stu- dien in der Migrationsforschung. Ein ein- leitender Überblick. Bundesgesundheitsbl – Gesundheitsforsch – Gesundheitsschutz 2006; 49: 845–52.

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