1
14. Quasikristalle
14.1 Raumfüllung
Johannes Kepler: Harmonices Mundi (1619)
Kristallographisch erlaubte Symmetrien:
2-, 3-, 4- und 6-zählig 5-zählige Symmetrieachsen:
keine Raumfüllung möglich!
Elektronenbeugungsbild eines ikosaedrischen Quasikristalls in Al-Cu-Fe
Ikosaeder
14.2 Quasikristalle
Shechtman et al. (1984):
Elektronenbeugungsbilder mit kristallo- graphisch verbotener Symmetrie an abgeschreckten Al86Mn14-Proben.
10-zählige Symmetrie das Beugungsbildes
==>
5-zählige Ikosaedersymmetie im Festkörpers
neue Klasse von Festkörpern: Quasikristalle
- Eigenschaften von Kristallen (scharfe Beugungsmaxima), - kristallographisch verbotene Symmetrie
weitere quasikristalline Systeme
- oktogonale Symmetrie (8-zählig) - dekagonale Symmetrie (10-zählig) - dodekagonale Symmetrie (12-zählig)
14.3 Interpretation der zehnzähligen Beugungsbilder
Streuamplitude:
) (
ρ( ))
(k =
F
rA ρ(r): Streudichte
Beugungsintensität:
| A
=|
I(k) (k) 2
Durch die Betragsbildung geht Information über die Phase verloren!
Auswertung des Beugungsbildes durch Fourier-Rücktransformation:
R R
r R
r
k) ( ) ( ) ( d
(
)
(
1
- I = P = ∫ρ ρ + )
F
P(r) : Paarkorrelationsfunktion der Streudichte umgekehrt:
) (
( ))
(k = P r
I
F
==>
* Zur Erzeugung des Beugungsbildes eines ikosaedrischen Quasikristalls genügt Ikosaedersymmetrie von P(r)!
* ρ(r), d.h. das Gitter, besitzt keine Ikosaedersymmetrie!
14.4 Modell des quasiperiodischen Kristalls
Bauprinzip des Normalkristalls:
- Kristall ist raumfüllend aus identischen Einheitszellen aufgebaut
- inkompatibel mit nichtkristallografischer, z.B. ikosaedrischer Symmetrie
Forderung an ein Bauprinzip eines Quasikrisalls:
- schwächere Ordnungsprinzipien als bei Normalkristallen
- Ordnung hinreichend stark um im reziproken Raum scharfe Beugungsreflexe mit nicht-kristallographischer Symmetrie zu erzeugen
Modell des quasiperiodischen Kristalls:
- Quasikristalle sind aus zwei Typen von Bausteinen aufgebaut, die ein raumfüllendes sogenanntes Quasigitter bilden.
14.4.1 Das Penrose-Muster
(Modell für ein zweidimensionales Quasigitter)
Das Penrosemuster wurde Anfang der 70er Jahre, d.h. vor der Entdeckung der Quasikristalle, von Penrose entwickelt.
Bausteine des Penrose-Musters:
- zwei rautenförmige Kacheln deren Winkel ganzzahlige Vielfache von 36° sind
goldener Schnitt
Aufbauregel:
- Kacheln werden lückenlos derart zusammengefügt, dass zwei aneinandergrenzende Kachelseiten gleichartige Markierungspfeile (Einfach- bzw. Doppelpfeil), die
zudem in die gleiche Richtung zeigen, besitzen.
) 5 + (1
= τ 21
14.4.2 Symmetrieeigenschaften des Penrose Musters
- alle Kanten weisen zu den Ecken eines regelmäßigen Zehnecks
=> langreichweitige fünf- bzw.
zehnzählige Orientierungssymmetrie - Kacheln mit parallelen Seiten bilden
Systeme von unregelmäßigen Streifen ("Würmern"), die eine Scharr von
äquidistanten Linien umgeben.
- ínsgesamt 5 Liniensysteme, die sich unter Winkeln von 72° schneiden
- ähnliche Bedeutung der Liniensysteme im Quasigitter wie Netzebenen in
klassischen Kristallen
(=> scharfe Beugungsreflexe).
- Verhältnis von dicken Rauten zu dünnen Rauten: τ
14.4.3 Das dreidimensionale Penrose Muster
Bauelemente des dreidimensionalen Penrose-Musters:
(Kramer und Neri (1983))
Seitenflächen der Kramerpolyeder:
Triakontaeder aus 10 dicken und 10 dünnen Kramerpolyedern aufgebaut:
14.5 Die Projektionsmethoden
Tiling-Methode (Tile: (engl.) Ziegel):
Ausfüllung des Parketts mit geeigneten Kacheln bzw. des Raums mit geeigneten Bausteinen nach gewissen Regeln.
Nachteile:
- unübersichtlich
- In der Praxis kann nur mit endlich großen Ausschnitten aus dem Quasigitter gearbeitet werden.
Projektionsmethoden:
- Quasigitter werden durch Projektion eines höherdimensionalen
Translationsgitters in einen Raum mit niedrigerer Dimension erzeugt.
- Mit der Tiling-Methode erzeugte Quasigitter lassen sich mit Hilfe der Projektionsmethode herstellen.
14.5.1 Konstruktion eines eindimensionalen Quasigitters durch eine Projektion
1) Ausgangspunkt:
zweidimensionales quadratisches Gitter 2.) Gerade x║einzeichnen
mit Steigung τ (θ = arctan(τ)) τ: irrational
3.) Streifen der Breite B=A (sin(θ)+cos(θ))
parallel zu x║einzeichnen 4.) Alle Gitterpunkte inner-
halb des Streifens auf die Gerade projezieren
=> quasiperiodische Struktur bestehend aus kurzen und langen Strecken parallel zu x║
14.5.2 Das eindimensionale Quasigitter
* unterschiedliche Abstände zwischen Streifen und x║
==> - unterschiedliche quasiperiodische Muster - alle Muster lokal isomorph
* Steigungs m von x║ rational ==> periodische Struktur
* m ≈ τ ==> rationaler Approximant
* eindimensionales Quasigitter: Fibonacci Folge
(Leonardo Fibonacci of Pisa (1170-1230))
am+2 = am+1 + am
m -> ∞: Verhältnis der erwachsenen zu jungen Kaninchen -> τ
14.5.3 Erzeugung höherdimensionaler Quasigitter mit Projektionsmethoden
zweidimensionales Penrose-Muster:
- Projektion von Gitterpunkten eines fünfdimensionalen hyperkubischen Gitters auf eine zweidimensionale Ebene
- Ebene schneidet das Gitter unter irrationalen Winkeln
- projezierte Gitterpunkte liegen in Streifen der durch Entlangfahren der
Einheitszelle des hyperkubischen Gitters an der Schnittebene umrissen wird
dreidimensionales Penrose-Muster:
- Projektion eines sechsdimensionalen hyperkubischen Gitters auf dreidimensionale "Schnittebene"
14.6 Strukturuntersuchungen durch HRTEM
fünfzählig dreizählig zweizählig
Transmissionselektronen- mikroskopische Hoch- auflösungsaufnahmen, gewonnen an Al86Mn14
Simulierte elektronen- mikroskopische Hoch- auflösungsbilder unter Annahme eines Quasi- gitters entspechend des dreidimensionalen
Penrose Musters K. Urban, P. Kramer and M. Wilkens; Physikalische Blätter 42, 373 (1986).
14.7 Quasikristallbildende Legierungssysteme und Herstellung quasikristalliner Phasen
2 Klassen quasikristalliner Phasen: - metastabile quasikristalline Phasen - stabile quasikristalline Phasen
Metastabile Quasikristalle
* Unterkühlung der Schmelze unter virtuelle Schmelztemperatur der metastabilen Phase bei Herstellung notwendig
* geeignete Herstellungsverfahren:
- schnelles Abschrecken (Schmelzspinnen, Laserschmelzen, Splatkühlen ...) - Ausschaltung heterogener Keimstellen (tiegelfreies Prozessieren)
Stabile Quasikristalle
* Phasen thermodynamisch stabil (nicht notwendgerweise bei Raumtemperatur sondern vielfach Hochtemperaturphasen)
* keine tiefe Unterkühlung der Schmelze notwendig
=> langsame Prozesse nahe am Gleichgewicht möglich (Herstellung großer Einquasikristalle)
14.7.1 Metastabile quasikristalline Phasen
System Zusammensetzung Symmetrie
Al-Mn Al75-94Mn25-6 ikosaedr./dekagonal
Al-Mn-Si Al79-50Mn20Si1-30 Al3Mn82Si15
dekagonal oktogonal
Al-V Al78-94V22-6 ikosaedr./dekagonal
Zr-Cu-Ni-Al-(Ti)-(Be)-(...) Zr65Cu17Ni10Al8 ikosaedrisch
Pd-U-Si Pd60U20Si20 ikosaedrisch
Cr-Ni-Si Cr16-25Ni32-35Si52-40 oktogonal
V-Ni V60Ni40 dodekagonal
Ti-TM-Si-O
(TM=Mn,Fe,Cr) Ti60TM25Si5O10 ikosaedrisch
14.7.2 Stabile quasikristalline Phasen
System Zusammensetzung ca. Symmetrie
Al-Cu-Fe Al62Cu25.5Fe12.5 ikosaedrisch
Al-Cu-Co Al65Cu20Co15 dekagonal
Al-Ni-Co Al65Ni20Co15 dekagonal
Al-Pd-Mn Al72Pd20Mn8 ikosaedrisch/dekagonal
Al-Ni-Fe Al71Ni24Fe5 ikosaedrisch
Cd-Yb Cd85Yb15 ikosaedrisch
Ti-Zr-Ni Ti45Zr38Ni17 ikosaedrisch
Zn-Mg-RE
(RE=Ho,Dy,Y,Gd,Tb,Er) Zn60Mg30RE10 ikosaedrisch
14.7.3 Zucht von Einquasikristallen
Voraussetzungen:
* stabile quasikristalline Phase
* Zweiphasengleichgewicht:
Schmelze - quasikristalline Phase
Anwendung klassischer Kristallzucht- techniken, z.B.:
* Bridgman-Technik
* Czochralski-Verfahren
* Flux-growth Technik
Größe der Einquasikristalle:
bis zu mehreren Zentimetern
Al-Pd-Mn Einquasikristall (FZ-Jülich, IFF-IMF)
Zn-Mg-Dy
Einquasikristall (FZ-Jülich, IFF- IMF)
Czochralski- Züchtung eines Einquasikristalls (FZ-Jülich, IFF- IMF)
Al-Cu-Fe Al-Cu-Co
14.7.4 Phasendiagramme quasikristallbildender Legierungen
Al-Ni-Co
* ausgedehnte Phasengebiete der quasikristallinen Phasen
* Approximantenphasen
14.8 Elektronische Stabilisierung
14.8.1 Verhältnis der Valenzelektronen pro Atom
Zusammensetzungsbereiche der dekagonalen quasikristallinen Phasen in Al-Cu-Co und Al-Ni-Co:
quasikristalline Phasen und Approximanten: e/a ≈ 1.8
B. Grushko and K. Urban, Phil. Mag. B, 70, 1063 (1994)
14.8.2 Hume-Rothery Mechanismus
Stabilisierung durch einen Hume-Rothery Mechanismus:
e/a ≈ 1.8: Fermifläche berührt Pseudo-Billouin Zone
==>
- Pseudo-Bandlücke an der Fermienergie - Erniedrigung der Energie des Systems
* Elektronische Stabilisierung
* geringe Zustandsdichte an
Fermifläche (Pseudo-Bandlücke)
E. Belin, Z. Dankházi, A. Sadoc und J.M. Dubois, J. Phys.: Cond. Matter 6, 8771 (1994).
14.9 Eigenschaften quasikristalliner Materialien
* hart aber spröde (bei Raumtemperatur)
==> Anwendungen in Kompositmaterialien (harte Quasikristallite in weicher Matrix)
* geringe elektrische Leitfähigkeit (Pseudo-Bandlücke)
* niedrige thermische Leitfähigkeit (Pseudo-Bandlücke)
==> mögliche Anwendungen als thermische Isolatoren
* Antihafteigenschaften (Pseudo-Bandlücke)
==> quasikristalline Beschichtungen (Kochgeschirr)
* geringer Abrieb
==> quasikristalline Beschichtungen (Motorenteile)
* Quasikristalle auf Ti-Basis: hohe Wasserstofflöslichkeit
==> mögliche Anwendungen zur Wasserstoffspeicherung
14.10 Nahordnung unterkühlter Metallschmelzen
Frank (1952):
Ikosaedrische Nahordnung in unter- kühlten Schmelzen
Annahmen:
* radialsymmetrische, weiche Wechselwirkungspotentiale, z.B. Mie-Potentiale:
* monoatomare Systeme oder
Legierungen mit geringer Differenz der Atomradien
Ikosaeder
Dodekaeder ) ]
-( ) C[(
=
V(r) εr1 m εr2 n
14.10.1 Beugungsexperimente zur Nahordnung von Metallschmelzen
* Unterkühlung durch tiegelfreies Prozessieren im elektromagnetischen Levitator
* Studium der Nahordnung durch Beugungs- techniken:
- elastische Neutronenstreuung (ILL) - energiedispersive Beugung von
Synchrotronstrahlung (ESRF)
* Untersuchung von Schmelzen, die unterschiedliche feste Phasen bilden:
Ni, Co: fcc Fe, Zr: bcc
Al60Cu34Fe6: ikosaedrischer Quasikristall Al65Cu25Co10: dekagonaler Quasikristall Al13(Co,Fe)4: polytetraedrische Phasen
T. Schenk, D. Holland-Moritz, V. Simonet, R. Bellissent und D.M. Herlach,
14.10.2 Ikosaedrische Nahordnung in unterkühlten Metallschmelzen
* ikosaedrische Nahordnung in unterkühlten Schmelzen, bestehend vorwiegend aus größeren polytetraedrischen Aggregaten (z.B. Dodekaeder)
* Nahordnung in Flüssigkeit unabhängig von Struktur der festen Phasen
* Nahordnung wird mit fallender Temperatur ausgeprägter
14.10.3 Auswirkungen der Nahordnung der Schmelze auf die Keimbildung
Keimbildung kristalliner Festkörper
ikosaedrische Nahordnung inkompatibel mit Translationsinvarianz von Kristallen
⇓
große flüssig-fest Grenzflächenenergie σ
⇓
Aktivierungsschwelle ∆G* zur Bildung eines kritischen Keims wird erhöht
⇓
Unterkühlung der Schmelze wird erleichtert Keimbildung von Festkörpern mit ikosaedrischer Nahordnung
Nahordnung in der Schmelze ähnelt der des ikosaedrisch geordneten Festkörpers
⇓
niedrige Energie σ der Grenzfläche zwischen Schmelze und Keim der festen Phase
⇓
niedrige Aktivierungsschwelle ∆G* zur Bildung eines kritischen Keims der festen Phase
⇓
schlechte Unterkühlbarkeit der Schmelze
14.10.4 Experimente zur Strukturabhängigkeit der Unterkühbarkeit
Legierung primäre Phase ∆T/TL
Al60Cu34Fe6, Al58Cu34Fe8 ikosaedrischer QC 0.09 Al72Pd21Mn7 ikosaedrischer QC 0.11 Al62Cu25.5Fe12.5 λ(Approximant) 0.14 Al13Fe4 λ(Approximant) 0.12 Al5Fe2 µ(Approximant) 0.14 Al65Cu25Co10, Al67Cu21Co12 dekagonaler QC 0.16 Al64Cu22Co14 dekagonaler QC 0.15 Al75Ni14.5Co10.5 dekagonaler QC 0.14
Al74Co26 dekagonaler QC 0.15
Al65Cu20Co15 ß (CsCl-Struktur) 0.25
* Abhängigkeit der Unterkühlbarkeit von der Struktur der festen Phase
* quasikristalline Phasen: geringe Unterkühlbarkeit
* strukturell einfache Kristalle: hohe Unterkühlbarkeit
* Einfluss der ikosaedrischen Nahordung in Schmelze auf flüssig-fest Grenzflächenenergie