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Pfister: Deutsche Wirtschaft seit 1850 (WS 2019/20) Die Entstehung moderner ökonomischer Institutionen im Kaiserreich 1

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1 U. Pfister: Deutsche Wirtschaft seit 1850 (WS 2019/20)

Die Entstehung moderner ökonomischer Institutionen im Kaiserreich 1. Begriffe

a. Ökonomische Institutionen sind (rechtliche) Normen u. informelle Konventionen, wel- che Entscheidungen der Wirtschaftssubjekte anleiten u. begrenzen. Wichtig ist das Kon- zept von Transaktionskosten: Kosten der Vertragsanbahnung, Vertragsschließung u. Ver- tragsdurchsetzung. Sowohl auf Märkten (d. h. im Handel) als auch in Unternehmen (ins- bes. bei Verträgen zwischen Aktionären [Prinzipalen] u. Vorstand [Agenten]) existieren Transaktionskosten. Institutionen sind effizient, wenn sie mit tiefen Transaktionskosten verbunden sind. Bsp. relevanter ökonomischer Institutionen im Kaiserreich sind Aktien- recht, Patentrecht, Kartellverträge.

b. Staatliches Handeln. (1) Kollektivgüter. Der moderne Staat stellt im Prinzip allen Wirtschaftssubjekten zugängliche Kollektivgüter zur Verfügung. Wichtige Beispiele sind eine nationale Währung, das Bildungssystem u. die Sozialversicherung. — (2) Marktre- gulierung. Mit der Außenwirtschaftspolitik (im Kaiserreich sehr wichtig: Zollpolitik) be- einflusst der Staat die Preise auf relevanten Güter u. Faktormärkten.

c. Entstehung eines deutschen Wirtschaftsmodells? Verbreitet wird die Entstehung eines spezifisch deutschen Modells ökonomischer Institutionen u. staatlicher Wirtschafts- politik postuliert (»Organisierter Kapitalismus«; WINKLER 1974;AHRENS et al. 2013).

Dieses soll durch eine aktive staatliche Wirtschaftspolitik u. eine starke Stellung von In- teressengruppen, insbes. in großbetrieblich strukturierten Branchen, gekennzeichnet sein.

Die These ist empirisch nur z. T. geklärt (vgl. z. B. HENTSCHEL 1978).

2. Moderne ökonomische Rahmenbedingungen: Zentralbank, Aktienrecht, Patentrecht a. Reichsmark und Reichsbank (OTTO 2002). Nach der Reichsgründung erfolgte bis 1876 der Aufbau eines modernen, national vereinheitlichten Währungssystems. In mehreren Gesetzen wurden 1871–1875 die Währungen der einzelnen Länder zugunsten der Mark abgeschafft. Aus der Preußischen Bank ging 1876 die Reichsbank hervor. Sie hatte die Aufgabe der Administrierung eines Goldstandards u. damit moderne Zentralbankfunkti- onen: Banknotenausgabe auf der Basis von Goldreserven u. Konvertibilität von Bankno- ten in Gold; Sicherstellung des Bestands an Goldreserven mittels Offenmarktgeschäften, v. a. Diskontgeschäften (Steuerung der Ansprüche an die Zentralbank durch Setzung des Zinses, zu dem Handelswechsel vor Fälligkeit angekauft werden). Es wird vermutet, dass der Übergang zur Mark Transaktionskosten im Binnenhandel senkte (Erleichterung des Zahlungsverkehrs, Entfallen von Währungsumrechnungen).

b. Aktienrecht. Durch die Aktienrechtsreform von 1870/71 wurde die Konzessions- pflicht von AGs abgeschafft u. durch eine normative Regulierung ersetzt. Allerdings wa- ren Aktionärsrechte wenig ausgeprägt (geringe Kontrolle über Vorstand, schwache Rech- nungslegungspflicht), was z. T. Gründerboom u. –krise erklärt (vgl. 22.10.19, §1.b). Des- halb 1884 grundlegende Aktienrechtsreform; wichtigste Elemente: (1) Klare Trennung von Vorstand u. Aufsichtsrat → Kontrollgremium für Aktionäre; (2) Pflicht zur Vorlage einer Gewinn- u. Verlustrechnung; (3) Teilnahme- u. Stimmrecht für alle Aktionäre auf

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der Hauptversammlung; (4) Erhöhung des Mindestbetrags von Aktien von effektiv 40 auf 1.000 M, dadurch Erhöhung des Überwachungsanreizes; (5) Erhöhung der Strafen für Fehlverhalten von Vorständen u. Aufsichtsräten. Die Reform reduzierte die Überwa- chungskosten von Vorständen, indem die erfolgsabhängige Komponente im Gehalt von Vorständen zurückging. Zugleich hingen Wechsel in der Zusammensetzung der Vor- stände stärker als vor 1884 von der (schlechten) Performanz des Unternehmens ab.

c. Großunternehmen (KOCKA /SIEGRIST 1979). Die deutsche Industrie war früh durch Großunternehmen geprägt. V. a. in den Branchen, die in der Hochindustrialisierung an Bedeutung gewannen, waren Großunternehmen häufig. Modernes Aktienrecht bildete eine wichtige Voraussetzung: Sowohl 1887 als auch 1907 waren 4/5 der 100 größten Un- ternehmen als AGs organisiert  frühe Entwicklung des Manager-Unternehmens.

d. Patentrecht gewährt dem Erfinder i. d. R. ein zeitlich befristetes Monopol hin- sichtlich der Nutzung seiner Erfindung; es gewährt damit einen Anreiz zur Tätigung von Innovationen. Der statischen Wohlfahrtseinbuße eines Monopols (s.u., §4.b) steht der dy- namische Wohlfahrtsgewinn gegenüber, der aus dem durch Innovationen bewirkten tech- nologischen Fortschritt entsteht. Ein zu weit gehender Patentschutz kann jedoch dazu füh- ren, dass die Möglichkeiten bzw. Anreize zur Weiterentwicklung einer Innovation fehlen.

— Das dt. Patentgesetz von 1877 gewährte bei jährlich steigenden Gebühren bis 15 Jahre einen Schutz. Allerdings musste ein Patent binnen 3 Jahren angewendet werden, ansons- ten entfiel der Schutz. Dies förderte die Entstehung eines Markts für Patente. Deshalb u.

wegen des Schutzes von Verfahren statt von Produkten in der chemischen Industrie (22.10.19, §4.d) dürfte das Patentrecht des Kaiserreichs eine gute Voraussetzung für tech- nischen Fortschritt dargestellt haben.

3. Wichtige Kollektivgüter: Technische Bildung — Sozialversicherung

a. Technisches Bildungswesen. Deutschland verfügte im späten 19. Jh. über ein gut aus- gebildetes allgemeines u. insbes. ein technisches Bildungswesen; das Land verfügte des- halb international über einen komparativen Vorteil in humankapitalintensiven Branchen.

Aus der preußischen Gewerbeförderung ab den 1820er–1840er J. gingen ab 1879 Tech- nische Hochschulen mit Dipl.-Ing. als Regelabschluss hervor. Preußen gründete ab 1891 Maschinenbauschulen mit zweijährigen Kursen (Vorläufer der FHs).

b. Sozialversicherung. Deutschland führte als erstes Land in Europa obligatorische Sozialversicherungen für Arbeiter ein (1883 Kranken-, 1884 Unfall-, 1889 Invaliditäts- u. Rentenversicherung). Hintergrund: Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie (1878 Sozialistengesetz); die Arbeiterschaft sollte sich durch Sozialversicherungen stär- ker mit dem Reich identifizieren. Hauptgrundsätze: Versicherung (d.h. Begünstigte leis- ten Beiträge u. erwerben dadurch einen Rechtsanspruch auf Leistung) vs. Versorgung;

dezentrale Verwaltung durch regionale, kommunale, branchenbezogene Träger. Folgen:

(1) Das Leistungsniveau war zwar lange gering. (2) Besonders die Krankenversicherung trug zur Integration der Arbeiterschaft in den Staat u. zur Ausbreitung von bürgerlichen Hygienestandards u. Krankheitsverhalten bei. (3) Eltern waren zur Sicherung eines Ein-

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kommens im Alter und nach Unfällen weniger auf die Arbeitskraft ihrer Kinder angewie- sen. Einführung der Sozialversicherung begünstigte deshalb Humankapitalakkumulation u. das Einsetzen des ersten Fruchtbarkeitsübergangs (vgl. 08.10.19, §2.a/4, 2.b).

4. Kartelle und Syndikate (Übersicht HENTSCHEL 1978: Kap. 2)

a. Facts. Kartelle: Mengen- u. Preisabsprachen; Syndikate: zusätzlich gemeinsame Ab- satzorganisation. Seit 1897 waren vertraglich eingegangene Kartellverpflichtungen ein- klagbar. Vor dem 1. WK bestanden ca. 700 Kartelle. Meistens waren diese von kurzer Dauer u. erfolglos. Am wichtigsten waren die Kartelle der NRW-Montanindustrie (relativ wenige Großunternehmen  i. d. R. geringe Organisationskosten von Gruppen mit klei- ner Mitgliederzahl): Rheinisch-Westfälisches Kohlensyndikat, 1893–1945 (BÖSE 2018);

Roheisensyndikat (RWKS), 1896–1908; Schienenkartell 1874/76–1886, gegr. nicht zu- letzt unter Druck von Banken, die um ihre Kredite an beteiligte Unternehmen fürchteten, später Ausbildung zu einem internationalen Schienenkartell (B, D, GB), relativer Erfolg u. a. wegen homogenem Produkt; Stahlwerksverband, gegr. 1904.

b. Erfolg und Auswirkungen der Montankartelle. (1) In theoretischer Sicht sind Kar- telle ein Spezialfall des Monopols. Monopole bewirken im Vergleich zu voller Konkur- renz höhere Preise, niedrigere Produktmengen u. höhere Unternehmensgewinne; die ge- samtwirtschaftliche Wohlfahrt sinkt (Grund für heutiges Verbot bzw. Regulierung). Mit- telfristig sind jedoch die meisten Monopole nicht stabil, da höhere Preise als Marktgleich- gewicht zu Außenseiterkonkurrenz einladen. — (2) Preis- und Mengenstabilisierung sind theoretisch schwierig zu erreichen. Das RWKS konnte Kohlenpreise etwas stabilisieren u. vermutlich im Mittel leicht steigern, aber die Profitabilität der Unternehmen erhöhte sich dadurch nicht. — (3) »Reine« vs. integrierte Werke. Letztere bezogen Vorprodukte (Kohle, Roheisen, Stahl) aus eigener Produktion u. damit billiger als »reine«, d.h. nur eine Verarbeitungsstufe umfassende Unternehmen  Kartelle begünstigten vertikale Integra- tion u. Unternehmenskonzentration.

5. Interessengruppen und interventionistische Wirtschaftspolitik: Schutzzölle

a. Allgemeines (WEBB 1980, 1982). In den 1860er J. allgemeiner Trend zur Liberalisie- rung des Außenhandels über Meistbegünstigung u. Zollsenkungen. 1879 Wiedereinfüh- rung von Importzöllen v. a. auf Getreide u. Produkten des Montansektors; starker Anstieg von 1880er bis 1890er J. — Gründe: (1) Preisverfall von Getreide wegen sinkender Trans- portkosten im internat. Handel (vgl. 08.10.19, §3.c)  ostelbische Großgrundbesitzer plädierten aktiv für Schutzzölle. — (2) Preisverfall von Produkten der eisenschaffenden Industrie bei gleichzeitig besserer Konkurrenzfähigkeit englischer Produzenten ließ in den 1870er J. die Schwerindustrie nach Schutzzöllen rufen. — (3) Hohe Betriebskonzent- ration in diesen beiden Branchen → geringe Organisationskosten → schlagkräftige Inte- ressengruppen. — (4) Das Reich verfügte über keine Steuern → Einfuhrzölle waren eine wichtige Einnahmequelle.

b. Wirkungen von Agrarzöllen. Diese verteilten 1906–1913 ca. 1% des Bruttosozial- produkts an landwirtschaftliche Produzenten um u. verringerten die Realeinkommen von

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Arbeiter*innen um rd. 8%. Überdies verlangsamten sie den Strukturwandel in der Land- wirtschaft (Mechanisierung; Verlagerung zu Veredelung: Fleisch, Milchprodukte).

c. Wirkungen von Zöllen in der Montanindustrie. (1) Umverteilung. Es wurden v. a.

Halbfabrikate (Roheisen, Stahl) durch Importzölle belastet. Eisenwaren erfuhren damit tendenziell eine negative effektive Protektion (d. h. Vorleistungen der Eisen verarbeiten- den Gewerbe erfuhren eine stärkere Zollbelastung als deren Erzeugnisse). 1906–1913 wurden durch die Kombination von Importzöllen u. Kartellen in der Binnenwirtschaft ca.

0,6% des Volkseinkommens u. 7–8% der Wertschöpfung im Montansektor zu sog. inte- grierten Werken (Herstellung von Roheisen, Stahl, Halbfabrikaten) umverteilt.

(2) Voraussetzung für die Ausnützung von Skalenerträgen in kapitalintensiver Pro- duktion? (These von WEBB 1980). Wichtige Innovationen in der eisenschaffenden Indust- rie 2. H. 19. Jh. waren kapitalintensiv bzw. setzten die vertikale Integration verschiedener Verarbeitungsstadien voraus. Hohe Preise auf dem Binnenmarkt als Folge von Kartellen u. Schutzzöllen förderten vertikale Integration (s. o.) u. erlaubten die Abdeckung hoher Fixkosten. Exporte brauchten deshalb nur Grenzkosten (Kosten der Vorleistungen u. de- ren Finanzierung sowie Arbeitskosten) zu decken → Im Vergleich zu GB, wo sich Welt- markt- u. Binnenmarktpreis nicht unterschieden, konnten dt. Montanunternehmen zu niedrigeren Preisen exportieren → bessere Auslastung in Krisenzeiten. Das geringere Ri- siko habe die Bereitstellung von Kapital erleichtert; deutsche Unternehmen seien dadurch im internationalen Vergleich besonders groß u. produktiv geworden. — Die These ist empirisch nicht gesichert.

Zitierte Literatur

AHRENS, Ralf, Boris GEHLEN und Alfred RECKENDREES (Hg.): Die »Deutschland AG«:

[…] Annäherungen an den bundesdeutschen Kapitalismus (Essen: Klartext, 2013).

BÖSE, Christian: Kartellpolitik im Kaiserreich: das Kohlensyndikat und die Absatzorga- nisation im Ruhrbergbau 1893–1919 (Berlin: de Gruyter, 2018).

HENTSCHEL, Volker: Wirtschaft u. Wirtschaftspolitik im Wilhelminischen Deutschland:

Organisierter Kapitalismus und Interventionsstaat? (Stuttgart: Klett-Cotta, 1978).

KOCKA, Jürgen und Hannes SIEGRIST: »Die hundert größten deutschen Industrieunterneh- men im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert: ...«, S. 55–122 in Norbert HORN und Jürgen KOCKA (Hg.), Recht und Entwicklung der Großunternehmen im späten 19.

und frühen 20. Jahrhundert (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1979).

OTTO, Frank: Die Entstehung eines nationalen Geldes: Integrationsprozesse der deut- schen Währungen im 19. Jahrhundert (Berlin: Duncker und Humblot, 2002).

WEBB, Steven B.: »Tariffs, cartels, technology and growth in the German steel industry, 1879 to 1914«, Journal of Economic History 40 (1980), 309–329.

WEBB, Steven B.: »Agricultural protection in Wilhelmine Germany: forging an empire with pork and rye«, Journal of Economic History 42 (1982), 309–326.

WINKLER, Heinrich A. (Hg.): Organisierter Kapitalismus (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1974).

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