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Das weltweite Christentum vor der eigenen Haustür

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Umstrittene Allianz

Die Kirchgemeinde Flaach- tal spannt mit Freikirchen zusammen und steht dafür in der Kritik.

REGION 2

Kirchgemeinden

Infos aus Ihrer Kirch ge- meinde enthält der zweite Bund oder die separate Gemeindebeilage.

BEILAGE

Die evangelisch- reformierte Zeitung Kirchenbote

Kanton Zürich

Nr. 22/Dezember 2021 www.reformiert.info

Das Heilige entdecken

Psychologin Maja Storch spricht über Seele und Glauben, den Körper und das Heilige.

HINTERGRUND 3

Der Abstieg der Herde Wenn 1800 Schafe von der Alp ins Tal trotten, stehen Hirten und Hunde unter Strom.

DOSSIER 5–8

Foto: Ephraim Bieri

Post CH AG

Das weltweite Christentum vor der eigenen Haustür

Theologie Zwischen der reformierten Landeskirche und den vielerorts entstandenen evangelischen Migrationsgemeinschaften besteht wenig Kontakt. Die Universität Basel versucht, dies zu ändern.

«Halleluja!», «Amen!». Die Predigt von Adolfina Lucombo kommt bei ihrer Gemeinde hörbar gut an. Die chic angezogenen Frauen, Männer und Kin der bestätigen mit lauten Zwischenrufen die religiösen Aus- sagen der 55-Jährigen, die voller In- brunst ins Mikrofon spricht.

Es ist Sonntagmorgen im Kirch- gemeindehaus Wipkingen in Zürich.

Die älteste afrikanische Kirche in der Schweiz, die Eglise Evangélique Mission naire Internationale de Zu- rich (Eemiz), feiert ihren wöchentli- chen Gottesdienst. Lucombo spricht Lingala, die Nationalsprache Ango- las und Kongos. 2018 nahm der Pas- tor der Eemiz sie ins Predigerteam auf, nachdem sie und eine andere Frau aus der Gemeinde an der Uni- versität Basel das CAS-Zertifikat «In- terkulturelle Theologie und Migra- tion» erworben hatten.

Der CAS-Kurs ist in der Schweiz einzigartig. Er wurde 2016 lanciert, um Berührungspunkte zwischen Migrationskirchen und reformier- ten Kirchen zu schaffen. Während die Landeskirche Mitglieder verliert, sind vielerorts Gemeinschaften von Christen aus aller Welt entstanden.

Die rund 640 Gemeinden feiern Got- tesdienste und leisten Seelsorge- und Integrationsarbeit. Sie formie- ren sich nach Herkunftsland und Art der Theologie.

Ein Austausch zwischen den ver- schiedenen Kirchen findet bisher kaum statt. Viele Kirchgemeinden vermieten zwar Räume an Migrati- onskirchen, und einige begehen ein- mal im Jahr eine gemeinsame Feier, aber die meisten bleiben lieber un- ter sich. Zu gross ist auf beiden Sei- ten die Skepsis vor den unterschied- lichen Frömmigkeitsstilen.

Knallharte Überzeugungen Das weltweite Christentum vor der Tür und kaum Interesse da ran: Für Andreas Heuser, der den Lehrgang

«Interkulturelle Theo logie und Mi- gration» initiiert hat, darf das nicht so bleiben. Der Professor für Aus- sereuropäisches Christentum an der Theologischen Fakultät der Univer- sität Basel hält fest: «In einer globa- lisierten Welt sollten sich die Kir- chen in der Schweiz nicht anderen kirchlichen Formen verschliessen.»

Vor allem bei den Reformierten sei der Horizont «eher eng», in der katholischen Kirche habe der Aus- tausch mehr Tradition. «Der Ein- blick in andere Kirchen, in die spi- rituelle Vitalität und Art, wie etwa mit Beten umgegangen wird, ist für beide Seiten sehr bereichernd.» Im

Lehrgang treffen Menschen aus di- versen evangelischen Gemeinden zu- sammen. Heuer stammen sie etwa aus Kolumbien, Syrien und Kame- run, auch Schweizer sind dabei. Im Kurs lernen sie unterschiedliche Bi- belauslegungen kennen, trainieren ihre Gemeindeleitungskompeten- zen, erweitern ihr Wissen über die Schweizer Kirche.

Laut Heuser wird diskutiert, ge- lacht, gestritten. «Die theologische Reflexion führt zu einer starken Kon frontation mit sich selbst.» Oft beginnen dann «knallharte» Über- zeugungen, was der richtige Glaube sei, zu bröckeln. «Und sie weichen einer Toleranz für die vielen Arten zu glauben.» Zu erkennen, dass der christliche Glaube keine Monokir- che ist, sondern viele Zimmer habe, sei ein Ziel des Kurses.

Auf ausschliessende Wertehal- tun gen wie etwa die Ablehnung der Homosexualität in vielen charis- matischen Gemeinden wird im CAS nicht gross eingegangen. Auch in der Landeskirche gebe es Menschen, die gegen die Homosexualität sei- en, sagt Heuser. «Wichtig ist, dass wir überhaupt in einen Dialog tre- ten, Un bekanntes kennenlernen und Vorurteile überprüfen. Und von de- nen gibt es viele!»

Ein Vorzeigemann der Ökume- ne ist Teferi Kassa. Jeden Sonntag-

morgen verbringt der 46-Jährige als Gemeindeanimator und Hilfspredi- ger in der evangelisch methodisti- schen Gemeinde in Baden, am Nach- mittag arbeitet er als Pastor in der äthiopisch-evangelischen Bethel-Ge- meinde in Zürich. Unter der Woche lässt er sich an der Höheren Fach- schule Kirche und Soziales in Aar- au zum Sozialdiakon ausbilden.

Kassa, der vor fünf Jahren in die Schweiz eingewandert ist, sagt: «Es ist wichtig, im Glauben Brücken zu bauen, denn wer sich gegenüber An- dersgläubigen öffnet, ist generell offener unterwegs. Das hilft der In- tegration insgesamt.»

Zur Predigerin aufgestiegen Adolfina Lucombo verhalf der CAS zu einem Aufstieg innerhalb ihrer Kirche. Dank der Ausbildung wur- de sie zur Predigerin berufen. Bei der Eemiz ist Lucombo die erste Frau überhaupt in dieser Funktion.

Einen Effekt spürt die neue Predi- gerin auch in ihrem Beruf als Pfle- geassistentin in einem Alterszent- rum. Im CAS hatte sie Seelsorge zu ihrem Schwerpunkt gemacht. Nun führt sie oft längere Gespräche mit Bewohnern, hört zu, ermutigt, trös- tet. Sie sagt: «Es war mein grosser Wunsch, mich in Gottes Wort zu ver- tiefen, nun habe ich viel Wertvolles mehr gelernt.» Anouk Holthuizen

Zwei Prediger und zwei Integrationsfiguren: Teferi Kassa und Adolfina Lucombo. Fotos: Andrea Zahler

«Es ist wichtig, im Glauben

Brücken zu bauen.

Wer sich gegen­

über Anders gläu­

bigen öffnet,

ist generell offener unterwegs. Das hilft der Integra­

tion insgesamt.»

Teferi Kassa, 46

Prediger und angehender Sozialdiakon

Kommentar

«Das weltweite Christentum vor der Haustür, aber kaum Interesse aneinander», sagt Andreas Hauser, Initiant des Kurses «Interkul- turelle Theologie und Migration».

Schade eigentlich und vermut- lich sogar eine vergebene Chance für mehr Vitalität in den refor- mierten Kirchen. Migration verän- dert die Welt. Mit Menschen aus anderen Ländern wandern auch andere Formen der Religiosität ein.

Nicht nur im Interesse eines friedlichen Miteinanders, sondern auch, um voneinander zu lernen und sich als Kirchen weiterzuent- wickeln, ist es sinnvoll, einen aufrichtigen Austausch miteinan- der zu pflegen. Nur so lernen sich Christinnen und Christen un- terschied licher Herkunft besser kennen. Das in Basel lancierte CAS- Zertifikat für «Interkulturelle Theologie und Migration» ist eine gute Möglichkeit, eine Brücke zwischen Alteingesessenen und Dazugekommenen zu schlagen.

Über Differenzen sprechen Ihre Kirchen vermieten Kirchge- meinden gern an die Migrationsge- meinden, aber deren religiöse Praxis bleibt ihnen oft fremd. Viele Reformierte fremdeln mit dem spontanen Charisma pfingstlicher Gemeinden. Zwar sind sie ange- tan von deren Festlichkeit und Tem- perament, aber konservative Werte und ungewohnte Rituale halten sie auf Distanz. Vermut- lich beruhen Skepsis und Vorbe- halte auf Gegenseitigkeit.

Die Vorurteile versperren jedoch den gemeinsamen Weg. Der christ- liche Glaube hat viele Zimmer, von denen wohl keines schöner ist als das andere. Es sind bloss ver- schiedene Zimmer, die unterschied- lichen Menschen eine spirituelle Heimat bieten.

Wenn es gelingt, die Türen zu öff- nen, wird ein Gespräch möglich, in dem auch Streitfragen und Dif- ferenzen zur Sprache kommen können. Auf dass an einer Kirche der Zukunft gebaut wird, in der die kulturelle Vielfalt der evange- lischen Gemeinden tatsächlich sichtbar wird. Eine tolle Chance für eine lebendige Kirche.

Gegenseitige Vorurteile aus dem Weg räumen

Constanze Broelemann

«reformiert.»-Redaktorin in Graubünden

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2 REGION

reformiert. Nr. 22/Dezember 2021 www.reformiert.info

Auch das noch

Ein glücklicher Hund am Zukunftstag

Bildung Schülerinnen und Schüler von der fünften bis zur siebten Klas- se durften in der ganzen Schweiz am 11. November Berufsluft schnup- pern. In der Redaktion «reformiert.»

waren Noemi und Schirin zu Gast.

Unter Anleitung der Videojourna- listin Vera Kluser schrieben sie ein Drehbuch und drehten einen Bei- trag über Picasso, den Redaktions- hund, der sich am Zukunftstag be- sonders über die Aufmerksamkeit freute, ihm zuteil wurde. fmr Video: reformiert.info/zukunftstag

Kapelle abgerissen und wieder aufgebaut

Einweihung Die Spitalkirche Lim- mattal in Schlieren ist am 13. No- vember eingeweiht worden. An der Feier nahmen auch Kirchenratsprä- sident Michel Müller und Bischof Joseph Maria Bonnemain teil. Die ökumenische Kapelle, die 1970 ge- baut worden war, hat eine besonde- re Geschichte. Sie musste zwar dem Spitalneubau weichen, wurde nun aber an anderer Stelle rekonstruiert und unter Verwendung von Origi- nalteilen neu aufgebaut. fmr

Ein Film über Angst, Isolation und Pandemie

Diakonie Am 11. November fand im Grossmünster in Zürich der Diako- nie-Tag statt, der ans ökumenische Corona-Manifest der Kirchen in der Stadt Zürich anknüpfte. Eine politi- sche sowie eine religiöse Diskussi- on beschäftigten sich mit den Aus- wirkungen der Pandemie. Erstmals gezeigt wurde auch der Tanzfilm

«Ver_Luscht», in dem Menschen, die an Covid-19 erkrankt sind, über ih- re Ängste, die Zeit in der Isola tion und ihre Hoffnungen erzählen. Der eindrückliche Film wurde von den Kirchen initiiert und vom Sozialamt der Stadt Zürich finanziert. fmr Bericht mit Video: reformiert.info/verluscht

Muslimische Verbände werben für Impfung

Pandemie Mit den Gesundheitsbe- hörden des Kantons haben musli- mische Gemeinden eine Impfakti- on gestartet. Sie warben mit einem Koranvers für die Spritze gegen das Coronavirus: «Und wer einem Men- schen das Leben rettet, so ist es, als habe er die ganze Menschheit geret- tet!» Vor vielen Moscheen im Raum Zürich fuhren Impfmobile auf. Das Pilotprojekt soll in anderen Kanto- nen Nachahmer finden. fmr

Bericht: reformiert.info/impfaktion

Annette Kurschus an der Spitze der EKD

Kirche Annette Kurschus (58) ist neue Ratsvorsitzende der Evangeli- schen Kirche in Deutschland (EKD).

Die Theologin wurde bereits im ers- ten Wahlgang als Nachfolgerin von Heinrich Bedford-Strohm gewählt.

Die aus Hessen stammende Pfarre- rin war seit 2015 Stellvertreterin ih- res Vorgängers und leitet die Evan- gelische Kirche von Westfalen. fmr

Die Information versteckte sich im Mitteilungsblatt in der Rubrik «An- lässe»: Die Kirchgemeinde Flaach- tal hat sich mit den drei Freikirchen Chrischona Marthalen, Methodis- tische Kirche Wyland sowie Freie Evangelische Gemeinde Henggart zur Evangelischen Allianz Wyland (EAWL) zusammengeschlossen, ei- ner Sektion der Schweizerischen Evangelischen Allianz (SEA).

Als Grund gab die Kirchgemein- de an, sie wolle der Jugendarbeit «ei- nen besseren Rahmen» geben. Die erwähnten Gemeinden waren be- reits Mitglied des Vereins Godi Wy- land, der in den letzten fünf Jahren einen gemeinsamen Jugendgottes- dienst im Weinland organisiert hat.

Dass die Kirchenpflege die Mitglie- der der Kirchgemeinde vorher nicht

konsultiert hat, gefällt nicht allen.

Etwa Margrit Gut, ehemalige Präsi- dentin der Kirchenpflege Buch am Irchel: «Die evangelikale Richtung engt mich ein», sagte sie gegenüber dem «Landboten».

Gegenüber «reformiert.» bekräf- tigt sie: «Die Nachricht war wie ein Schlag ins Gesicht.» Denn bevor die Kirchgemeinde Buch am Irchel die Fusion mit Berg, Flaach und Volken eingegangen sei, «war uns wichtig, dass die theologische Vielfalt in der Gemeinde erhalten bleibt».

Diese Vielfalt sieht Gut nun in Ge- fahr. Insbesondere, da Pfarrer Hans- peter Werren, der die Gottesdiens- te in Buch und Berg leitet und eine liberale Haltung vertrete, in zwei Jahren in den Ruhestand tritt. Gut fürchtet, dass dann das «konserva-

tiv geprägte» Pfarrehepaar Hanna und Christian Stettler aus Flaach übernimmt. «Wir wünschten uns aber, dass beide Haltungen je zur Hälfte vertreten sind.» Christian Stettler fühlt sich «der Reformation verpflichtet» und versichert, auch das liberale Profil in der Kirchge- meinde habe weiterhin Platz.

Kritischer Kirchenrat

Der Kirchenrat sieht eine Mitglied- schaft bei der SEA kritisch. Die Wer- te und Überzeugungen der Organi- sation gingen über das hinaus, was die Kirchenordnung der Landeskir-

che vorsehe, sagt Präsident Michel Müller: «Wer Mitglied der SEA ist, teilt deren Werte.» Das sei für Ein- zelne natürlich möglich, nicht aber für ganze Gemeinden. So könne et- wa die wörtliche Auslegung der Bi- bel nicht für die ganze Kirchge- meinde gelten: «In der Landeskirche müssen verschiedene Bibelverständ- nisse Platz haben.»

Jonathan Heimlicher, Kirchen- pflegepräsident Flaachtal, begrün- det den Zusammenschluss mit der Ökumene und dem Jugendgottes- dienst, den sie als einzelne Kirch- gemeinde nicht anbieten könnten.

«Weil wir nicht nur Zaungast sein wollten, entschied sich die Kirchen- pflege für den Beitritt.»

Um der Vielfalt der Gemeinde ge- recht zu werden, habe die Kirchge- meinde die Statuten der Allianz Wy- land mitgestaltet, sagt Heimlicher.

Unter dem breiten Dach der Kirch- gemeinde hätten unterschiedliche Ausrichtungen Platz. «Und nicht al- le Mitglieder tragen alle Aktivitäten in gleicher Weise mit.»

An der Kirchgemeindeversamm- lung vom 7. Dezember will die Be- hörde nun nochmals über den Bei- tritt informieren. Nadja Ehrbar

Allianz mit den

Freikirchen polarisiert

Profil Die Kirchgemeinde Flaachtal gründet mit Freikirchen die Evangelische Allianz Wyland.

Eine Kritikerin bangt um die theologische Vielfalt.

«Wir traten der Allianz bei, weil wir bei den Jugendgottesdiensten nicht nur Zaungast sein wollten.»

Jonathan Heimlicher

Präsident Kirchenpflege Flaachtal

In der dunkelsten Stunde hebt die Messe zum Jubel an. Eigentlich hat- te der Komponist Hans-Jürgen Huf- eisen bereits einen Choral geschrie- ben, der das Stück über Dietrich Bonhoeffer abschliessen sollte.

Doch da war dieser letzte Satz, der vom deutschen Theologen und Wi- derstandskämpfer gegen die Natio- nalsozialisten überliefert ist: «Das ist das Ende – für mich der Beginn des Lebens.» In der Morgendämme- rung des 9. April 1945 wurde er im Lager Flossenbürg erhängt.

Das Zeugnis eines Gottvertrau- ens, das über den Tod hinausgeht, liess Hufeisen nicht los. Bonhoeffer kleidete seine Gewissheit, dass sein Passionsweg am Galgen ende, ihm dafür das Osterlicht umso stärker leuchten werde, in schlichte Worte.

Hufeisen schrieb das Ende der Messe um. Deshalb erklingt im Zür- cher Grossmünster, wo das Musik- stück am 4. Dezember uraufgeführt wird, zuletzt ein Weltenjubel: «Ge- het hin, ihr seid gesandt.»

Gandhi und die Bergpredigt In einem engen Zimmer im Kultur- haus Helferei sitzt der Komponist und Flötist am Laptop. Was wie eine Sitzung wirkt, ist eine Probe. Hufei- sen spielt Schnipsel seiner Kompo- sition ab, singt stellenweise mit. Mit am Tisch sind Grossmünsterpfarrer Christoph Sigrist, Produzentin Ale- xandra Steinegger, Dirigent Davide Fior sowie Franziska Driessen-Re- ding und Amira Hafner-Al Jabaji.

Die Präsidentin des Synodalrats der Katholischen Kirche im Kanton Zü- rich und die Publizistin treten je in einer der beiden Aufführungen als Sprecherinnen auf.

Dass Sigrist, der das Libretto ge- schrieben hat, die Messe über kon- fessionelle und religiöse Grenzen hinweg öffnet, hat nicht zuletzt mit einem Brief Bonhoeffers an Mahat- ma Gandhi zu tun. Der Text, der lan- ge als verschollen galt, berichtet von Bonhoeffers Verzweiflung an- gesichts einer Kirche, die sich mit dem Naziregime arrangiert hatte.

Bereits 1934 sah der Theologe den Krieg voraus und erzählte dem hin- duistischen Freiheitskämpfer von seiner Überzeugung, «dass nur wah- res Christentum unseren westlichen Völkern zu einem neuen, geistlich gesunden Leben verhelfen kann».

Aus der Bergpredigt, in der Jesus die Gewaltlosen seligpreist, müsse

«die westliche Christenheit neu ge- boren werden», schrieb der damals 28-jährige Pfarrer an den Inder, der die britische Kolonialmacht gewalt- frei und durch zivilen Ungehorsam bekämpfte. Er bat um Aufnahme in Gandhis Gemeinschaft, um ihn ken- nenzulernen, von ihm zu lernen.

Der Brief ist ein Lehrstück für den interreligiösen Dialog, das ak- tueller nicht sein könnte. Denn die Unterschiede zwischen den Religio- nen werden nicht negiert, vielmehr wächst gerade aus der Verwurze- lung im eigenen Glauben heraus die Kraft, Brücken zu schlagen. Bon- hoeffer habe sich dem Willen Got- tes ganz ergeben und sich zugleich für Schwache und die Opfer der Ge-

Durch den Glauben

politisiert

Musik Pfarrer Christoph Sigrist und Komponist Hans-Jürgen Hufeisen haben eine Messe über den Theologen Dietrich Bonhoeffer geschrieben.

Sie ist politisch brisant wie der Glaube selbst.

Franziska Driessen-Reding, Amira Hafner-Al Jabaji, Christoph Sigrist, Hans-Jürgen Hufeisen und Alexandra Steinegger (von links). Fotos: Patrick Gutenberg

walt eingesetzt, für Gerechtigkeit in der Welt gekämpft, sagt Amira Haf- ner-Al Jabaji. «Diesen Glaubensweg verlangt auch der Islam.»

Der Schrei und der Gesang

Bonhoeffer brach nie nach Indien auf. Die Leitung des Predigersemi- nars der Bekennenden Kirche, die sich von der nazifreundlichen Evan- gelischen Kirche gelöst hatte, zu übernehmen, erschien ihm dringli- cher. Seinen Schülern sagte er: «Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen.»

Für Christoph Sigrist ist das ein Schlüsselsatz für Bonhoeffers Kir- chenverständnis, «das nichts an Ak- tualität verloren hat». Und Anstoss gebe, «angesichts der humanitären Katastrophen Widerstand zu leis- ten». In seiner Messe lässt Sigrist den Chor in die Stille hinein die Na- men der Flüchtlinge murmeln, die im Meer ertrunken sind. Felix Reich

Dietrich Bonhoeffer. Eine politische Messe.

4./5. Dezember, 19.30 Uhr, Grossmünster Zürich. Vorverkauf: www.seetickets.com Komponist und Flötist Hufeisen.

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Für die Psychologin Maja Storch ist der Körper das Mittel, um dem Heiligen näherzukommen. Foto: Gettyimages

reformiert. Nr. 22/Dezember 2021 www.reformiert.info

HINTERGRUND 3

Bislang haben Sie sich als Psycholo­

gin nicht zu spirituellen Themen geäussert. Ihr jüngstes Buch handelt nun vom «Körper als spiritueller Heimat». Wie kam es dazu?

Maja Storch: Vor sechs Jahren habe ich in Deutschland die Ausbildung zur nebenamtlichen Organistin be­

gonnen. Ich befasste mich vertieft mit christlichen Themen. Irgend­

wann kam die Einsicht: Bei Klien­

ten, die religiös sind oder gläubig, sollte ich versuchen, über die Spi­

ritualität Ressourcen freizusetzen.

In Ihrem Buch postulieren Sie: Alte Praktiken wie das Beten von Psal­

men oder das Singen von Chorälen verbessern die psychische Gesund­

heit. Ein Griff in die Mottenkiste?

Wenn etwas alt ist, bedeutet das im­

mer, dass es wirkt. Denn wenn es nicht wirken würde, so hätte es die Volksseele schon lange vergessen.

Aber auch was schon lange währt, muss ir gend wann renoviert werden.

Die al te Kaplanei, in der ich wohne, braucht neue Fenster, Glasfaserka­

bel oder ein besser wärmegedämm­

tes Dach. Und so muss man eben die alten und wirksamen Methoden be­

hutsam renovieren. Das haben ja an­

dere auch schon gemacht.

Zum Beispiel?

Die gregorianischen Gesänge waren speziell ausgebildeten Kantoren in den Mönchsorden vorbehalten. Ein Mönch brauchte rund zehn Jahre, bis er das ganze Kirchenjahr aus­

wendig intus hatte! Martin Luther wollte dann, dass die Gläubigen die Worte und den Gesang erlernen.

Weil er merkte, dass sie viel ergrif­

fener sind, wenn sie selber singen.

Darum befand Luther: «Einmal ge­

sungen ist doppelt gebetet.» Und er­

fand das Kirchengesangbuch.

Die Psychologie entdeckt also klös­

terliche Praktiken, um Gott näher­

zukommen. Das Neue ist vor allem die Verpackung mit der Marke

«spirituelles Embodiment», oder?

Man kann es Branding nennen. Wa­

rum nicht? Alter Wein in neuen Schläuchen: Da bin ich total dafür.

Die Psychologie ist eher als religi­

onsskeptisch bekannt. Worin besteht die Schnittmenge zwischen Psychologie und Religion?

Religion ist psychotherapeutisch be­

trachtet eine Anleitung zu einem geglückten Leben und Sterben. Die Gebete, die Evangelien, die Psalmen.

Das Buch der Psalmen bildet sämtli­

che menschliche Existenzlagen ab.

Egal, wie es Ihnen geht, Sie werden immer einen Psalm finden, der Ih­

re Situation beschreibt. Wer sich mit den biblischen Schicksalsgeschich­

ten beschäftigt, kommt zum Schluss:

Seit Tausenden von Jahren ergeht es vielen Menschen genauso wie mir gerade jetzt.

Und das tröstet und befreit.

Mehr als das. Oft zeigen die Psalmen auch die Lösung auf: Vertrauen fas­

sen, resilient und optimistisch wer­

den. Und wenn Sie einen guten Got­

tesdienst besuchen – mit einer guten Liturgie, schöner Kirchenmusik und einer einleuchtenden Predigt –, geht es Ihnen hinterher garantiert bes­

ser als davor.

Wie oft spielen bei Krisen spirituelle Themen eine Rolle?

Immer dann, wenn sich existenzi­

elle Fragen stellen. Warum kann ausgerechnet ich keine Kinder be­

kommen, warum hat mein Mann Krebs, weshalb gibt es Corona? Hi­

obsthemen gibt es an jeder Ecke.

Von Schicksalsschlägen betroffenen Menschen können Sie auf der Ver­

standesebene nicht weiterhelfen.

Man kann sie jedoch auf der Ebene des Heiligen abholen.

Sie schreiben, ganz viele Menschen seien auf der «Suche nach dem Hei­

ligen». Wie viele sind es?

Spiritualität ist für die meisten Men­

schen von Bedeutung. Vielleicht für 90 Prozent. Auch in Workshops mit Profis renne ich mit dem Thema of­

fene Türen ein.

Und wie findet man «das Heilige»?

Das Heilige kann nicht durch das Denken adressiert werden. Men­

schen kommen nur über den Kör­

per in Kontakt mit diesem Unsag­

baren oder Numinosen, er ist der Telefondraht des Heiligen. Das ist die Kernbotschaft meines Buches.

Selbst die Verhaltenstherapie arbei­

tet ja mit Achtsamkeitskonzepten.

Ein guter Predigtgottesdienst, bewe­

gende Psalmen, schöne Gesänge:

All diese wunderbaren Praktiken

locken aber immer weniger Leute in die Kirchen.

Ja, das Unternehmen Kirche geht gerade den Bach runter, zumindest im deutschsprachigen Raum. Aber Spiritualität ist ein Megatrend, nicht erst seit gestern. Schon C. G. Jung wusste, dass Spirituelles für das see­

lische Wohlbefinden so wich tig ist wie die Sexualität. Wenn das Grund­

bedürfnis nach dem Heiligen nicht erfüllt ist, werden die Leute neuro­

tisch. Die Landeskirchen erreichen die Menschen mit ihrer Liturgie aber nicht mehr. Dass der Trend den­

noch da ist, zeigen die vollen Hallen und Kassen innovativer Freikirchen.

Oder der Hang zur Patchwork­Re­

ligion: etwas Yoga, einen Buddha­

Altar und schamanisches Räucher­

werk und so weiter.

Springen Sie also einfach auf den Megatrend Spiritualität auf?

Das kann man so sehen. Psycholo­

gie hat die Aufgabe, den Menschen zu helfen, und wenn sie bei der Re­

ligion helfende Dinge findet, prima!

Für mich ist Spiritualität eine Kern­

quelle von Resilienz.

Wie lautet Ihr Rat an die Kirche?

Besinnt euch auf eure jahrtausende­

alten Traditionen und moderni siert sie. Hechelt nicht kurzlebigen Mo­

den hinterher, sonst seid ihr bloss ewiger Zweiter. Es gilt, den kostba­

ren Schatz an Methoden, der über Jahrtausende Menschen geholfen hat, neu zu beleben und zu branden.

Interview: Christian Kaiser

Die Reformierten. Die Lutheraner.

Die Anglikaner. Die Römisch­katho­

lische Kirche. Die Christkatholiken.

Die Orthodoxen in all ihren Ausprä­

gungen. Die Freikirchen. Sie alle sind Christinnen und Christen, fei­

ern Weihnachten und Ostern, beten das Unservater. In Theologie, Li tur­

gie und religiöser Tradition sind sie aber verschieden. So verschieden, dass eine Verständigung in man chen Fragen zuweilen schwer ist und die Annäherung Zeit braucht.

Trotz aller Unterschiede und Dif­

ferenzen tauschen sich die verschie­

denen christlichen Konfessionen je­

doch untereinander aus, manche von ihnen arbeiten zum Teil auch mehr oder weniger eng zusammen.

Weltweit gibt es zu diesem Zweck ökumenische Organisationen. In der Schweiz feiert die Arbeitsgemein­

schaft Christlicher Kirchen (AGCK) heuer ein Jubiläum: Hier ist sie seit 50 Jahren aktiv.

Ein Klima des Aufbruchs

«Hier in der Schweiz sind wir öku­

menisch sehr gut unterwegs», sagt Anne Durrer. Sie ist Generalsekre­

tärin der AGCK. «Vielleicht auch, weil unser Land insgesamt pragma­

tisch und die konfessionelle Durch­

mischung schon lange Realität ist.»

Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, das 1965 endete, herrschte im Katholizismus ein Klima des Auf­

bruchs. In der Schweiz äusser te sich dies darin, dass die Bischofskonfe­

renz zusammen mit fünf an deren Kirchen zu den Gründungsmitglie­

dern der AGCK gehörte. Das ist nicht selbstverständlich: In den ökume­

nischen Plattformen in zahl reichen anderen Länder sowie internationa­

len Organisationen ist die Rö misch­

katholische Kirche nicht Mitglied.

Immer mehr Mitglieder

Seit der Gründung der Arbeitsge­

meinschaft sind etliche Mitglieder hinzugekommen, einerseits, weil ein Zusammenrücken der Kirchen ein Gebot der Zeit ist, aber auch, weil mit der Migration neue christliche Konfessionen ins Land kamen. Heu­

te zählt die AGCK Schweiz zwölf Vollmitglieder und vier Gastmitglie­

der. Zu den Vollmitgliedern gehören vier orthodoxe Kirchen.

Multikonfessionell zu sein be­

deu tet auch, die Unterschiede zu ken nen und zu benennen. Aus die­

sem Dialog kann gegenseitige An­

erkennung wach sen, zum Beispiel in der Tauffrage. «Bei der Taufaner­

Trennendes benennen, Gemeinsames leben

Ökumene Seit 50 Jahren pflegen Reformierte und Katholiken in der Schweiz offiziell den Kontakt.

Schrittweise kamen weitere Konfessionen hinzu.

kennung sind wir weit», sagt Anne Durrer. In den 1970er­Jahren mach­

ten die drei Landeskirchen den ers­

ten Schritt, 2014 folgten vier weite­

re Kirchen, und im Juli dieses Jahres unterzeich nete auch die neuaposto­

lische Kirche die gegenseitige Aner­

kennung der Taufe. Noch keine Ei­

nigkeit herrscht aber etwa bei der Abend mahlsgemeinschaft oder der Stellung der Frau in der Kirche.

Schweigen und beten

Dass bei allen Unterschieden auch viel Gemeinsames gelebt wird, zei­

gen die Projekte, die von der AGCK teils durchgeführt, teils zuhanden der kantonalen und regionalen Ak­

teure angestossen werden.

Unter dem von der Arbeitsgemein­

schaft geschaffenen Oecumenica­

La bel läuft etwa die ökumenische Kampagne zur Fastenzeit, «Schwei­

gen und Beten in Davos» während des WEF oder die Gefängnisseelsor­

ge in Genf. Hans Herrmann

«Ökumenisch sind wir in der Schweiz sehr gut unterwegs, nicht zuletzt,

weil unser Land pragmatisch ist.»

Anne Durrer

Generalsekretärin der AGCK

«Für mich

ist Spiritualität schlicht eine Kernquelle von Resilienz.»

Maja Storch

Psychologin und Egnér-Preisträgerin

Maja Storch, 63

Maja Storch ist Mitbegründerin und wis­

senschaftliche Leiterin des Instituts für Selbstmanagement und Motivation Zürich (ISMZ). Sie studierte Psycho­

logie, Philosophie und Pädagogik. Be­

kannt wurde sie durch das Zürcher Ressourcen­Modell (ZRM). Am 11. No­

vember erhielt sie den Egnér­Preis für Psychologie. Sie ist Autorin zahlrei­

cher Sachbücher. «Spirituelles Embodiment» ist ihr neustes Buch.

«Wenn etwas alt ist, wirkt es immer»

Spiritualität Alter Wein in neuen Schläuchen? Maja Storch ist «total dafür».

In ihrem Buch über «spirituelles Embodiment» zeigt die Psychologin auf, wie

«die Suche nach dem Heiligen» gelingen kann.

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reformiert. Nr. 22/Dezember 2021 www.reformiert.info

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Damit kein Schaf verloren geht

Auf einer Alp im Berner Gantrischgebiet verbrachten 1800 Schafe den Sommer. Wenn die Herde ins Tal zurückkehrt, müssen Hirten und Hunde perfekt zusammenspielen. Kein Schaf darf verloren gehen. Danach

wandern die Hirten mit einer kleineren Herde durch Winterlandschaften.

Fotografie: Ephraim Bieri Reportage: Noah Pilloud

Eine andere Welt: Die Schafherde versammelt sich und macht sich auf den Weg ins Tal.

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6 DOSSIER: Das Schaf

reformiert. Nr. 22/Dezember 2021 www.reformiert.info

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Die Hirtin Barbara Gisiger sitzt hin- ter dem Steu er ihres roten Pick-ups.

Im Schritt tempo fährt das Auto auf der kurvigen Landstrasse, die den Waldrand entlang hinunter zu ei- nem Fluss führt. Rechts hinter der Leitplanke fällt die saftig grüne Wiese leicht ab. Vor dem Auto trot- tet eine unüberblickbare Kolonne aus rund 1800 Schafen her. Gisiger koordiniert den Alpabzug.

Nicht immer war die Hirtin bei einem Alpabzug so entspannt wie diesmal. Früher trug sie mit ihrem Partner Markus Nyffeler die Verant- wortung al lein. Mittlerweile ist das Team gewachsen. Mareike Hehl und Simon Zaugg begleiten die Herde zu Fuss, weisen ihre Hunde an, die Tiere beisammenzuhalten. Zudem sind von Riffenmatt im Naturpark Gantrisch, der zur Berner Gemein- de Guggisberg gehört, bis zum Ziel in Rüsch egg-Graben entlang des Weges Netze gespannt.

Ohne Abschrankung seien die Scha fe ständig auf die umliegenden Weiden ausgeschert, erzählt Gisi- ger. «Das war ein Riesenstress.» Die Bauern, denen die Wiesen gehören, hatten ihren Unmut über die unge- betenen Gäste lautstark kundgetan.

Jetzt kann die Hirtin getrost anhal- ten für einen kurzen Schwatz mit einem Bauern. Er scheint zufrieden damit, dass die Schafe schnell vorü- bergezogen sind und seine Weiden nichts abbekommen haben.

Der lange Abstieg

Drei Monate verbrachten Simon Zaugg und Mareike Hehl mit der Schaf herde in den Bergen, zogen an der Grenze zwischen Freiburger Al- pen und Berner Oberland unter den Gip feln Schafarnisch und Kaiser- egg um her. Sie übernachteten in ei- nem Wohnwagen und einem umge- bauten Baucontainer.

An diesem frühen Freitagmorgen Mitte September geht es zurück ins

Hunden nicht so viel Druck machen, sonst landen die Schafe im Bach», warnt Simon Zaugg jetzt.

In dieser Situation wird deutlich, wie wichtig die Kommunikation in- nerhalb des Teams ist. Ständig wer- den Informationen ausgetauscht.

Auch aus den Autos ganz am Ende des Zuges werden Auskünfte zu aus- scherenden Schafen oder Tieren, die zurückbleiben, gebrüllt: «Dort drü- ben, in Rich tung Wald!» Oder: «Da hinten auf dem Hügel!»

Die Strategie scheint aufzugehen.

Alle Schafe haben es offensichtlich über die Brücke geschafft. Doch der Schein trügt: Ein Schaf ist im Bach- bett gelandet. Von allein scheint es nicht wieder hochzukommen, also schickt Simon Zaugg den Hund los.

Zuerst ist das Schaf nicht mehr zu sehen, weil es unter die Brücke ge- laufen ist. Angetrieben von einem Hund, kämpft es sich schliesslich doch die Uferböschung hoch.

Als das Schaf dann oben auf dem Weg ankommt, wird offensichtlich, weshalb sich das Tier verirrt hat: Es ist blind. Ein milchig weisser Film überzieht die Augäpfel des Tiers.

«Eine Krankheit, die sich nach ein paar Tagen wieder legt», erklärt Zaugg. Da sich das verlorene und nun wieder in die Herde integrierte Schaf mit seinem Gehör am Rest der Herde orientieren kann, lässt er es vorerst weiter mitlaufen. Doch bald schon fällt es wieder zurück. Also wird es eingefangen und in den An- hänger des Pick-ups verladen.

Im Anhänger statt zu Fuss

Es wird nicht das letzte Schaf sein, das von der Herde getrennt wird und den Rest des Weges im Anhän- ger verbringt. Je länger der Alpab- zug dauert, umso mehr Schafe kön- nen nicht mehr mit dem Tempo der Herde mithalten. Um die Schafe ein- zufangen, haben die Hirtinnen und Hirten einen speziellen Stab mit ei- Tal. Zwei Freunde aus Italien sind

als Verstärkung am Tag zuvor an- gereist. Weiter unten stossen wei- tere Helferinnen dazu. Rund 23 Ki- lometer werden die Hirtinnen und Hirten mit ihrer Herde am Ende des Tages bis nach Rüschegg-Graben zu- rückgelegt haben.

In einer anderen Welt

Vor dem Aufbruch schien das Dorf noch weit entfernt. In der Abge schie- denheit der Berge wähnte man sich in einer anderen Welt. Die Mor gen- sonne drückte durch den zähen, sich nur langsam auflockernden Nebel, ver moch te aber erst die Spitzen der Gip fel zu beleuchten.

Aus blechernen Tassen tranken die Hirten Kaffee, während die Hun- de herumtollten. Das Rudel besteht

aus zwei Rassen mit unterschiedli- chen Talenten: Die weissen Marem- men-Abruzzen-Schäferhunde eig- nen sich am besten dazu, die Herde zu bewachen. Und Border Collies haben die Aufgabe, die Schafe anzu- treiben und beisammenzuhalten.

Es ist bereits halb neun Uhr, als der rote Pick-up um die Kurve auf die Alp einbiegt. Nyffeler und Gi- siger steigen aus und beginnen mit den Vorbereitungen. Sie rollen die

ner Krümmung am oberen Ende, wie man ihn von Hirten auf antiken und mittelalterlichen Abbildungen kennt. Nur ist dieser Stab wesent- lich kürzer – kaum mehr als einen Meter lang – und aus Metall. Am geraden Ende sorgt ein Gummigriff für den nötigen Halt.

Mit ihrem Stab packen die Hir- tinnen und Hirten die Schafe an ei- nem Hinterbein und halten es so zurück. Dann drehen sie die Scha- fe auf den Rücken, so dass die Tiere regungslos verharren. Zwei Hirten packen jeweils ein Schaf und tragen es in den Anhänger.

Die Romantik nervt

Wie die Tiere eingefangen und zum Fahrzeug geschleppt werden, passt nicht zum romantischen Bild des

Hirten, der das Schaf auf seinen Schul tern trägt. Der Umgang mit den Schafen wirkt unzimperlich.

Das kümmert Barbara Gisiger we- nig. Vielmehr ärgert sie sich über das «romantische Bild, das die Medi- en vom Hirtenleben zeichnen». Wie jeder andere Beruf habe auch die Arbeit als Hirtin ihre wirtschaftli- che Seite. Die Schafe seien nun ein- mal eine Investition und ihr Fleisch ein Produkt, durch das Umsatz ge- Zäune ein und verladen die Herden-

schutzhunde in die Autos.

Kurz vor dem Aufbruch kommt plötzlich Hektik auf. Die Luft ist er- füllt vom lauten Blöken der Scha- fe. Die Kommandos der Hirten auf Englisch, Deutsch und Italienisch hallen von den Felswänden wider.

Dazwischen die grellen Pfiffe der Hirten. Nach der Stille am frühen Morgen wirkt die Geräuschkulisse jetzt ohrenbetäubend.

Jedem Hund seinen Ton

«Die klassischen Kommandos sind auf Englisch», erklärt Mareike Hehl später auf dem Weg. Sie war lange in Irland tätig und erlernte dort das Hirtenhandwerk. Nun ruft sie ih- ren Hunden «That’ll do!» zu, wenn sie von den Schafen ablassen und zu ihr zurückkehren sollen. Oder «Co- me by!», wenn sie im Uhrzeigersinn, und «Away!», wenn sie gegen den Uhrzeigersinn einen Bogen auf die Schafe zu machen sollen.

Auch mit Pfiffen kommunizieren die Hirtinnen und Hirten mit den Hunden. Dafür verwenden sie spe- zielle Pfeifen, deren hoher Ton meh- rere Hundert Meter weit zu hören ist. Für jeden Hund haben sie eige- ne Tonabfolgen, die für einen be- stimmten Befehl stehen. So können die Hirtinnen und Hirten mehrere Hunde zur selben Zeit unter Kont- rolle halten, ohne dass es zu Verwir- rungen kommt.

Die ersten Kilometer des Alpab- zugs sind schnell zurückgelegt. Das Gefälle ist gross, die Schafe rennen regelrecht. Ausserdem können sie sich auf den weiten Weiden gut ver- teilen. Von den Hirten und ihren Hunden verlangt es jedoch höchste Aufmerksamkeit, sie dürfen kein Schaf aus den Augen verlieren.

Das hohe Tempo zu Beginn birgt noch weitere Gefahren. «Da unten kommt der Bach mit der Brücke, wir müssen schauen, dass wir mit den

neriert werden müsse. Unter dem Strich muss für die Hirten die Rech- nung aufgehen.

Auch diese Herde muss Gewinn abwerfen. Die Lämmer, die im Früh- ling zur Welt gekommen waren, verbrachten ihren Sommer auf der Alp, weil ihr Fleisch durch den Auf- enthalt von besonderer Qualität ist und sich als Alpfleisch gut verkau- fen lässt. Der Weg von der Alp be- deutet für die meisten von ihnen den Gang zur Schlachtbank.

Auch im Winter unterwegs Die Winterwanderherde hingegen ist kleiner. Sie besteht beinahe aus- schliesslich aus Mutterschafen. Mit ihr ziehen Gisiger und Nyffeler von November bis März zwischen Thun und Bern umher. Die Wanderherden haben eine lange Tradition, doch viele gibt es in der Schweiz nicht mehr. Schätzungen gehen von rund 30 Herden aus. Zentral erfasst wer- den sie nicht.

Weil die Zersiedelung den Scha- fen immer mehr Platz nimmt, sind weniger Wanderherden unterwegs.

Dabei ist die Wanderschaft während der kalten Jahreszeit eine besonders praktische Form der Schafhaltung.

Anders als Viehherden können sich die Schafe von den brachliegenden und schnee bedeckten Weiden her- vor ra gend ernähren.

Die Mittagspause stellt im Ver- lauf des Alpabzugs eine Zäsur dar.

War der Vormittag noch hektisch, der Weg von starkem Gefälle und breiten Weiden geprägt, so bietet der Nachmittag danach gemächli- chen Trott, enge Strassen. Rechts und links des Weges ist lange nichts zu sehen als ein dichter Nadelwald.

Die Spitze der Herde ist von hin- ten nicht mehr zu sehen. Mit der Landschaft ändert sich auch die Ar- beit der Hirtinnen und Hirten. Zu- vor hatten sie die gesamte Herde im Blick und waren damit beschäftigt,

Zu jeder Weihnachtskrippe gehören neben der Heiligen Familie auch die Hirten, meist dargestellt als wetter­

harte, drahtige, andächtig blickende Männer mit Bart, Stecken und einfacher Kleidung. Laut der Weihnachtsge­

schichte im Lukasevengelium waren es die Hirten auf dem Feld, die vor allen anderen Menschen von der Ge­

burt Jesu erfuhren.

Wörtlich liest sich das so: «Und es wa­

ren Hirten in jener Gegend auf freiem Feld und hielten in der Nacht Wache bei ihrer Herde. Und ein Engel des Herrn trat zu ihnen, und der Glanz des Herrn umleuchtete sie, und sie fürchteten sich sehr. Da sagte der Engel zu ihnen:

Fürchtet euch nicht! Denn seht, ich verkündige euch grosse Freude, die allem Volk widerfahren wird: Euch wurde heute der Retter geboren, der Herr, in der Stadt Davids.»

In der Folge machten sich die Hirten auf, um das Jesuskind in Bethlehem aufzusuchen. Sie fanden die Eltern Jo­

sef und Maria in einem Stall, und sie sahen den Neugeborenen in der Futter­

krippe. Den Leuten, denen sie in den nächsten Tagen begegneten, erzählten sie davon, und alle, die es hörten, staunten. So weit die Bibel.

Die Hirten als Randständige Das Motiv der Hirten, die als Erste von der Geburt des Gottessohns er fahren, ist Gegenstand zahlreicher Erörterungen und Predigten. Die Hir­

ten, die in der Weihnachtsgeschichte vorkommen, sind keine stolzen und

Die Jünger fragten Jesus, wer der Gröss te im Himmelreich sei. Da rief Je­

sus ein Kind herbei und sagte, dass keiner ins Himmelreich komme, der nicht umkehre und werde wie ein Kind. «Wer sich also zu den Geringen zählt wie das Kind hier, der ist der Grösste im Himmelreich.» Und Jesus erzählte den Jüngern das Gleichnis vom verlorenen Schaf.

«Was meint ihr? Wenn einer hundert Schafe hat, und es verirrt sich eines von ihnen, wird er nicht die neunund­

neunzig auf den Bergen zurücklas­

sen und sich aufmachen, das verirrte zu suchen? Und wenn es geschieht, dass er es findet, amen, ich sage euch:

Er freut sich über dieses eine mehr als über die neunundneunzig, die sich nicht verirrt haben. So ist es nicht der Wille eures Vaters im Himmel, dass auch nur eins dieser Geringen ver­

loren gehe.»

Gott handelt, nicht der Mensch Dieses Gleichnis im Matthäusevange­

lium enthält mehrere Motive. Zum einen zeigt die Geschichte, dass sich der gute Hirte um jedes einzelne Schaf kümmert. Er steht für Gott, dem jeder einzelne Mensch wichtig ist, ganz besonders aber jene, die sich auf Irrwegen befinden und Beistand brauchen. Analog sagt Jesus an anderer Stelle: «Nicht die Gesunden brau­

chen den Arzt, sondern die Kranken.»

(Mt 9,12) Auch das Motiv der Um­

kehr wird im Gleichnis angetönt. Aller­

dings findet das verirrte Schaf nicht wohlhabenden Wanderhirten wie sei­

nerzeit die Erzväter Isaak und Jakob, sondern sozial am Rand stehende Dienstleute einer längst sesshaft ge­

wordenen Gesellschaft. Und aus­

gerechnet diese materiell schlecht ge­

stellten, ungebildeten und rauen Menschen sind die ersten Adressaten der Frohbotschaft, die vom wunder­

baren Geschehen im nahen Bethlehem kündet. Was zeigt: In Jesus ist Gott ganz besonders für die Armen, Rand­

ständigen, Entrechteten und Bedürf­

tigen Mensch geworden.

Die Hirten als Könige

Dieser weitverbreiteten Interpretation stellt der emeritierte deutsche Alt testamentler Christoph Levin eine andere Deutung entgegen. «Dass man Herden bei Nacht hütet, ist unge­

wöhnlich bis unmöglich», schreibt er in einer Abhandlung. Normalerweise gehörten die Tiere während der Dunkelheit in den Pferch.

Mit den Hirten seien, so Levin, vielmehr die Hüter der Völker gemeint. Die Herrscher über all jene Menschen also, die in Dunkelheit, sprich: in Angst, Not und Bedrängnis lebten. Auch an anderer Stelle bezeichne das Alte Testament menschliche Regenten als Hirten. In dieser Lesart hätten zuerst die Könige dieser Welt von der Geburt des Messias erfahren. So wie beim Evangelisten Matthäus, wo in der Weih­

nachts erzählung die Weisen bezie­

hungs weise Könige aus dem Mor gen­

land auftreten. Hans Herrmann

von allein zurück. Es braucht die Ini ti­

ative des Hirten, damit dies geschieht.

Aus diesem Gedanken heraus lässt sich ein Bogen zur Gnade schlagen:

Gnade wird nach reformiertem Ver­

ständnis nicht aus eigener Kraft erwor­

ben, sondern von Gott geschenkt.

Besonders der Evangelist Lukas, der das Gleichnis ebenfalls erzählt (Lk 15,4–7), betont die Freude über das wiedergefundene Schaf. Jesus selbst überträgt diesen Gedanken am Schluss des Gleichnisses auf die Menschen, indem er sagt: «So wird man sich auch im Himmel mehr freuen über einen Sünder, der umkehrt, als über neunund­

neunzig Gerechte, die keiner Um­

kehr bedürfen.»

Beliebt in der Pädagogik

Manche Deutungen verbinden das Gleichnis vom verlorenen Schaf auch mit der Mahnung an die Jünger, sich ihrer Verantwortung als künftige Ver­

künder des Gottesreiches bewusst zu sein, selber vom Weg nicht abzuwei­

chen und auch andere nicht in die Irre zu leiten.

In der Religionspädagogik ist das Gleichnis beliebt, weil es sich um eine kurze, anschauliche Geschichte handelt, die auch von jüngeren Kindern verstanden wird. In dieser Episode ist die Beziehung zwischen Gott und den Menschen aus zwei Perspekti­

ven dargestellt, aus der Sicht des Hirten und jener des Schafs. Das Gleichnis lässt sich überdies gut zeichnen und auch nachspielen. Hans Herrmann

«Und es

verirrt sich eines von ihnen»

«Euch wurde heute der

Retter geboren»

Matthäus 18,12–14 Lukas 2,8–11

Symbolträchtige Tiere: Die Metaphern von Schaf, Herde und Hirte durchziehen die Bibel. Ausgiebige Rast: Im Wald ruhen sich die Schafe aus und stärken sich für den Rest des Weges.

«Wie jeder andere Beruf auch hat die Arbeit als Hirtin eine wirtschaftliche Seite. Am Ende muss die Rechnung aufgehen.»

Barbara Gisiger Hirtin

«Da kommt die Brücke, jetzt dürfen die Hunde nicht

zu viel Druck machen, sonst landen

die Schafe im Bach.»

Simon Zaugg Hirte

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reformiert. Nr. 22/Dezember 2021 www.reformiert.info

dafür zu sorgen, dass die Schafe zu­

sammenbleiben. Nun besteht ihre Aufgabe hauptsächlich darin, die Herde anzutreiben und müde Scha­

fe einzufangen und in den Anhän­

ger zu verfrachten.

Freilich büxen auch jetzt einzel­

ne Schafe immer wieder aus oder bleiben am Wegrand stehen, um Gras und Blätter von Büschen zu fres­

sen. Dann schicken die Hirtinnen und Hirten jeweils einen Hund los, um die Schafe wieder zur Herde zu treiben. Ansonsten laufen die Hun­

de vor allem im Zickzack hinter der Herde und treiben sie an.

Das grosse Gedränge

Auf der enger werdenden Strasse herrscht unter den Schafen ein gros­

ses Gerangel, insbesondere wenn die hintersten Schafe von den Hun­

den angetrieben nach vorne pre­

schen, jene in der Mitte aber gemüt­

lich vor sich hertrotten.

Die Schafe im Zentrum anzu trei­

ben, ist die Aufgabe der Hündin Em ma. Sie ist ein Neuseeländischer Huntaway. Anders als die Border Collies bellt sie, um den Schafen Bei ne zu machen. Gerade bei einer solch grossen Herde seien die lau­

ten Hunde ganz praktisch, weil die Border Collies nicht ausreichten, um Druck zu machen.

Die Hirtinnen und Hirten verfü­

gen nicht nur über ein grosses Wis­

sen über die Schafe, sie sind auch Expertinnen und Experten für ihre Hunde. «Es ist wichtig, den Charak­

ter der einzelnen Hunde gut zu ken­

nen und sie entsprechend einsetzen zu können», erzählt Hehl. Die älte­

ren Hunde beispielsweise seien in der Regel geduldiger. Wenn ein Schaf bockt und sich schlecht zurücktrei­

ben lässt, ist es besser, einen jünge­

ren Hund loszuschicken, der nicht so schnell lockerlässt.

«Cracker, jetzt reicht es aber, ver­

dammt noch mal!», weist Hehl mit­

ten im Gespräch ihren Hund zu­

recht. Mit zunehmender Müdigkeit würden die Hunde generell unge­

duldiger. «Dann müssen wir sie häu­

figer zurückpfeifen.»

Zwei Schafe auf dem Fels

Dem Border Collie Cracker scheint der Geduldfaden endgültig geris­

sen. Immer wieder prescht er in die Herde hinein, zwickt einem Schaf in die Flanke. Damit er zur Ruhe kommt, lässt ihn Simon Zaugg auf die Ladefläche seines Quads – eines vierrädrigen Motorrads, mit dem er hinter der Herde herfährt – sprin­

gen, und ein anderer Hund kommt zum Einsatz.

Immer mal wieder legen die Hir­

tinnen und Hirten kleine Pausen ein, je näher das Ziel rückt. Sie essen et­

was, wechseln ihre Positionen oder tauschen die Hunde aus. Wer zuvor im Auto war, läuft hinter der Her­

de her und umgekehrt. Auch die Schafe nutzen die Pausen, um sich zu stärken. In den langen Pausen dringen die Schafe jedoch weit in den Wald ein. Die verstreute Herde muss wieder mühsam zusammen­

getrieben werden.

Als die Herde nach einer länge­

ren Rast aufbricht, zeigt sich, wie

gut die Hunde auf die Befehle ihrer Besitzerinnen und Besitzer hören.

Auf der Suche nach saftigen Blät­

tern sind zwei Scha fe eine steile Bö­

schung hochgestiegen. Nun stehen sie auf einem rund drei Meter ho­

hen Sandsteinfelsen, von dem es nur einen Weg hinunter gibt.

Mareike Hehl weist ihren Hund an, sich von hinten an die Schafe an­

zuschleichen. Jetzt darf er ja nicht zu viel Druck machen, sonst ren­

nen die Schafe aufgescheucht da­

von und laufen Gefahr, den Felsen hinunterzustürzen.

«Away! Stand! Away! Stand!», ruft Hehl, sichtlich angespannt, im­

mer wieder und lässt den Hund so die Schafe Schritt für Schritt den Weg hinuntertreiben. Dann sind die Schafe endlich auf sicherem Boden.

Das Manöver hat Zeit gekostet, die restliche Herde ist schon nicht mehr zu sehen. Im Laufschritt geht es al­

so weiter, bis das Ende des langen Umzugs erreicht ist.

Nochmals Hektik zum Ende Auf den letzten Kilometern geht es wieder steiler bergab. Die Herde ist nicht mehr so arg im Trott und et­

was schneller unterwegs. Doch lei­

der ist der Weg eine Hauptstrasse, so müssen die Hirtsleute immer wie­

der Autos anhalten, damit der Tross vorüberziehen kann.

Das Ende des Alpabzugs gestal­

tet sich nochmals hektisch. Zum Glück bleiben aber Zwischenfälle aus. Entsprechend zufrieden sind alle mit dem Verlauf des Tages, als die Schafe endlich eingezäunt auf ihrer Weide stehen.

Neben der Weide mit der grasen­

den Herde brausen auf der Strasse die Autos vorbei, von etwas weiter weg ist das Rauschen eines Flusses zu hören. Die Ruhe, die zehn Stun­

den zuvor hoch oben auf der Alp ge­

herrscht hat, ist jetzt nur noch eine weit entfernte Erinnerung.

«Es ist wichtig, den Charakter eines Hundes genau zu kennen, damit

er richtig eingesetzt werden kann.»

Mareike Hehl Hirtin

Ein Teil der Schafe, die nach dem Alp­

sommer zu Tal gebracht werden, landen nicht im heimischen Stall, son­

dern beim Metzger. Die Schlachtung der Schafe war im alten Israel ein rituel­

ler Vorgang, bei dem Gott ein Opfer dargebracht wurde. Opferlämmer hat­

ten makellos zu sein. Das Lamm­

opfer hatte zwar nicht ausdrücklich einen sühnenden Charakter, aber im antiken Judentum war die Idee, dass die Schlachtung eines Lammes dem Volk Vergebung schaffe, durchaus prä­

sent, wie der Theologe Jesper Tang Nielsen in einer Abhandlung darlegt.

Das Bekenntnis des Täufers

In den Evangelien klingt diese Vorstel­

lung an, wenn Jesus als «Lamm»

bezeichnet wird. Gemeint ist hier das Lamm, das von Gott in Form seines Sohnes Jesus am Kreuz geopfert wird, um die Menschheit endgültig von ihrer Schuld zu befreien und künftige Opfer unnötig zu machen.

Im Johannesevangelium kommt an zwei Stellen im ersten Kapitel explizit die Formel «Lamm Gottes» vor. Es ist der Täufer, der diesen Ausdruck braucht. Die Menschen fragen ihn, ob er der Christus sei. Der Täufer ver­

neint. Am Tag darauf sieht er Jesus auf sich zukommen. Da sagt er zu den Leuten: «Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt.»

Die symbolische Nähe Jesu zum Opferlamm ergibt sich auch aus dem Umstand, dass Jesus nach bibli­

scher Überlieferung den Kreuzestod

am Vortag des Passahfestes erlitt – an dem Tag also, an dem man rituell die Passahlämmer schlachtete.

Das Bild von Jesus als Opferlamm taucht im Neuen Testament mehrmals auf, zuletzt in der Apokalypse des Johannes. «Diese apokalyptische Figur ist als eine symbolische Darstellung des himmlischen Christus zu verste­

hen», schreibt Nielsen. Dies, weil der Text sagt, dass das Lamm «wie ge­

schlachtet» aussieht, es den Opfer­

tod also bereits erlitten hat. Aus diesem Grund ist es würdig, neben Gott zu sitzen und die sieben Siegel der Schrift ­ rolle zu lösen.

Diesem himmlischen beziehungsweise endzeitlichen Lamm wird in der Apo­

kalypse Wunderbares zugeschrieben:

144 000 Kranke haben durch sein Blut Heilung erfahren; der Teufel ist mit seinem Blut bezwungen worden;

auch das mächtige Babylon und mit ihm zehn Könige werden sich im mythischen Endkampf der Macht des Lammes beugen müssen.

Teil der Liturgie

«Das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt wegträgt»: Diese Formulierung des Evangelisten Johannes hat bereits in frühen Zeiten Eingang in die christ­

liche Liturgie gefunden. Sie wurde zum Bestandteil der Messe und als «Ag­

nus Dei» vielfach vertont, eindrücklich zum Beispiel in den Messen von Wolfgang Amadeus Mozart oder in der

«Missa solemnis» von Ludwig van Beethoven. Hans Herrmann

«Das Lamm

Gottes, das die Sünden tilgt»

Johannes 1,29 und 1,36

Das grosse Gedränge: Wenn die Strasse enger wird, kommt in der Herde Hektik auf.

Referenzen

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