■ Das Gleichnis von den Talenten (Mt 25, 14-30)
oder: Vom Wettbewerb unter den Sklaven (Lk
19, 12-27)• Mt 25,14-30
14 Denn wie ein Mensch, * verreisend, rief die eigenen Sklaven und ihnen übergab seinen Be
sitz, 15 und dem (einen) gab er fünf Talente, dem (anderen) zwei, dem (anderen) eines, je
dem nach der eigenen Kraft, und er verreiste.
Indem sogleich 16 wegging , der die fünf Ta
lente empfangen hatte, arbeitete er mit ihnen und gewann andere fünf; 17 ebenso der die zwei (empfangen hatte), er gewann andere zwei. 18 Der aber das eine empfangen hatte, hingehend grub er die Erde auf und verbarg das Silber{geld) seines Herrn.
19 Nach viel Zeit aber kommt der Herr jener Sklaven und hält Abrechnung mit ihnen.
20 Und hinzukommend (der), der die fünf Ta
lente empfangen hatte, brachte er hinzu ande
re fünf Talente, sagend: Herr, fünf Talente übergabst du mir; sieh, andere fünf Talente ge
wann ich. 21 (Es) sagte ihm sein Herr: Gut, gu
ter und treuer Sklave, über weniges warst du treu, über vieles werde ich dich stellen; geh ein in die Freude deines Herrn!
22 Hinzukommend [aber] auch der mit den zwei Talenten sprach: Herr, zwei Talente übergabst du mir; sieh, andere zwei Talente gewann ich.
23 (Es) sagte ihm sein Herr: Gut, guter und treuer Sklave, über weniges warst du treu, über vieles werde ich dich stellen; geh ein in die Freude deines Herrn!
24 Hinzukommend aber auch (der), der das ei
ne Talent empfangen hatte, sprach: Herr, ich kannte dich, daß du ein harter Mensch bist, erntend, wo du nicht sätest, und sammelnd von dort, (wo) du nicht ausstreutest; 25 und (dich) fürchtend, hingehend verbarg ich dein Talent in der Erde; sieh, du hast das Deine!
Lk 19,12-27
12 Er sprach nun: Ein hochgeborener Mensch zog in ein fernes Land, zu empfangen für sich ein Königtum und zurückzukehren. 13 Rufend aber seine zehn Sklaven, gab er ihnen zehn Mna und sprach zu ihnen: Handelt (damit), bis ich komme!
14 Seine Bürger aber haßten ihn und schickten eine Gesandtschaft hinter ihm (her), sagend:
Nicht wollen wir, daß dieser als König herrsche über uns!
15 Und es geschah bei seinem Zurückkommen, nachdem er empfangen hatte das Königtum, daß er sprach, daß ihm gerufen werden diese Skla
ven, denen er gegeben hatte das Silber(-geld), damit er erkenne, was sie erhandelten.
16 Herankam aber der Erste, sagend: Herr, dein Mna arbeitete zehn Mna hinzu.
17 Und er sprach zu ihm: Wohlan, guter Skla
ve, weil im Geringsten treu du warst, habe Voll
macht über zehn Städte!
18 Und (es) kam der Zweite, sagend: Dein Mna, Herr, machte fünf Mna.
19 Er sprach aber auch zu diesem: Und du, über fünf Städte werde (bevollmächtigt)!
20 Und der andere kam, sagend: Herr, siehe, dein Mna, das ich niedergelegt hatte in einem Schweißtuch; 21 denn ich fürchtete dich, weil ein strenger Mensch du bist! Du nimmst, was du nicht hinlegtest, und du erntest, was du nicht sätest.
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Das Gleichnis von den Talenten (Mt 25, 14-30)oder: Vom Wettbewerb unter den Sklaven (Lk 19, 12-27) Mt 25,14-30
26 Antwortend aber sprach sein Herr zu ihm:
Böser und träger Sklave, du wußtest, daß ich ernte, wo ich nicht säte, und sammle von dort, (wo) ich nicht ausstreute?
27 Du hättest also hinlegen müssen mein Sil
ber(geld) den Geldwechslern, und kommend hätte ich empfangen das Meine mit Zins. 28
Nehmt also weg von ihm das Talent und gebt (es) dem Habenden die zehn Talente. 29 Denn jedem Habenden wird gegeben werden, und er wird überreich gemacht werden, von dem Nicht-Habenden aber, auch was er hat, wird weggenommen werden von ihm. 30 Und den unnützen Sklaven werft hinaus in die Finster
nis draußen! Dort wird sein das Weinen und das Klappern der Zähne.
{Bibelübersetzung:
Münchener Neues Testament)
Lk 19, 12-27
22 Er sagt ihm: Aus deinem Mund werde ich dich richten, böser Sklave. Du wußtest, daß ich ein strenger Mensch bin, nehmend, was ich nicht hinlegte, und erntend, was ich nicht säte?
23 Und weshalb gabst du nicht mein Sil
ber(geld) auf einen (Wechsel)tisch? Und ich, kommend, mit Zins hätte ich es eingefordert. 24
Und zu den Dabeistehenden sprach er: Nehmt weg von ihm das Mna und gebt (es) dem die zehn Mna Habenden! -25 Und sie sprachen zu ihm: Herr, er hat zehn Mna! -26 Ich sage euch:
Jedem Habenden wird gegeben werden, von dem Nicht-Habenden aber, auch was er hat, wird weggenommen werden.
27 Jedoch diese meine Feinde, die nicht woll
ten, daß ich als König herrsche über sie, führt sie hierher und schlachtet sie ab vor mir!
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Martin Ebner... du nimmst weg, was du nicht hingelegt hast" (Lk 19,21)
Strukturen der Gewalt in Palästina zur Zeit Jesu
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Gewalt in Palästina im 1. Jh. n. Chr.? Da denkt man sofort an den Römisch-Jüdischen Krieg 66-70 n. Chr., an die Belagerung Jerusalems, die Brandschatzung des Tempels, an die Massenkreuzigungen und die Verschlep
pungen in die Bergwerke oder in die Arenen zum Kampf mit wilden Tieren, nicht zu ver
gessen die Auswahl der „schönsten Jünglin
ge" für die Hinrichtung beim Triumphzug in Rom (Josephus, Bell 4,418f.; Vit 420). Aber 40 Jahre zuvor, zur Zeit Jesu, unter der Herr
schaft des Tiberius, sah da nicht alles noch anders aus? Sub Tiberio quies. Unter Kaiser Tiberius Ruhe, vermerkt der römische Ge
schichtsschreiber Tacitus lakonisch im Blick auf die Lage in Palästina (Hist 5,9,2).
■ Allerdings: (1) Gemäß Mk 15,27 wurde Je
sus zusammen mit zwei Aufständischen ge
kreuzigt, deren Leader namens Barabbas aufgrund einer Amnestie freikam (Mk 15,6- 15). Auch Jesus selbst wurde unter dem Ti
tel „König der Juden" offiziell als Aufrührer hingerichtet; genauso wie nicht lange zuvor Johannes der Täufer. Laut Josephus (Ant 18, 118) wollte Herodes Antipas, der Landes
herr Jesu, damit einen Aufstand im Keim er
sticken. Vielleicht war das der Grund, wes
halb Jesus dessen Residenzstädte in Galiläa bewusst vermieden hat. Ganz so ruhig waren die Zeiten also doch nicht! Und (2): Der Rö
misch-Jüdische Krieg hat einen langen Vor
lauf. Er beginnt mit der schleichenden Okku
pation Israels durch Rom ab 63 v. Chr., die in der Absetzung des Herodessohns Archelaos
1 Richard A. Horsl,y, Jesus and the Spiral ofViolenc,. Popular Je
wish R,sistance in Roman Palestin,, Minneapolis (MN) 1993.
und der Einsetzung eines Präfekten für Judäa 6 n. Chr. erstmals handgreiflich wird.
Um den subtilen Gewaltstrukturen der rö
mischen Herrschaft in Palästina im langen Vorfeld des Aufstands auf die Spur zu kom
men und sie analytisch erfassen zu können, benutze ich den Begriff der „strukturellen Ge
walt" und stütze mich empirisch auf die Wahrnehmung der Betroffenen. Mit dem 1969 vom norwegischen Friedensforscher Jo
han Galtung entwickelten Konzept der struk
turellen Gewalt sind politische Strukturen gemeint, die über den Faktor Macht Organi
sationsformen steuern und institutionell Me
chanismen generieren, durch die der Einzelne in Zugzwang gerät. Entweder er beugt sich dem Systemdruck, dann kann er vielleicht so
gar davon profitieren. Oder er verweigert sich, opponiert und leistet gar Widerstand, dann hat er mit entsprechenden Sanktionen zu rechnen. Die Dynamik, die durch strukturelle Gewalt ausgelöst wird, hat der amerikanische Exeget R. A. Horsley idealtypisch in vier Stu
fen differenziert: eine Spirale der Gewalt.1 Stufe 1 ist der von außen ausgelöste System
druck, der von den Eliten des Landes ge
wöhnlich auf die einfache Bevölkerung ver
lagert wird. Diese Basissituation löst auf Stu
fe 2 Unmut und Empörung aus. Das kann sich in Protesten und spontanem Widerstand ent
laden. Entsprechende Sanktionen der system
bestimmenden Gruppen folgen auf Stufe 3:
Hinrichtung von Aufrührern bis hin zum Ein
satz von Truppen. Diese massive Repression bewirkt aber anstelle einer Beruhigung eher einen Gärungsprozess, der zur Zusammenrot
tung verschiedener Gruppen und schließlich auf Stufe 4 zu einer organisierten Revolte führen kann.
Martin Ebner
Für Palästina ist Stufe 4 im Römisch-Jüdi
schen Krieg erreicht. Zu Stufe 3 wären die Hinrichtungen von Jesus und Johannes durch die zuständigen politischen Organe zu rech
nen. Offensichtlich wurde ihr Auftreten als Protestaktion (Stufe 2) gegen den von Rom er
zeugten Systemdruck (Stufe 1) eingestuft. An einem ausgewählten Textbeispiel möchte ich aufweisen, wie sensibel Jesus von diesem rö
mischen Systemdruck zu erzählen weiß und es ihm gleichzeitig gelingt, einen Systemverwei
gerer als mutigen Helden zu stilisieren. Ge
meint ist das so genannte Talentegleichnis (Mt 25,14-30), das in seiner lukanischen Fassung (Lk 19,12-27) ganz anders klingt - und etwas
vom O-Ton Jesu erhalten haben dürfte.2 Eine Beispielgeschichte: Wie man Sklaven motiviert ... (Lk 19, 12-27)
Gemäß der matthäischen Version werden Talente verteilt. Jeder Sklave bekommt unter
schiedlich viele Talente: zehn, fünf, eins. Jeder, der damit nach Kräften gearbeitet hat, wird am Ende vom Herrn gelobt. Aber wehe dem fau
len Knecht, der sein Talent ungenutzt zurück
gibt! Ganz anders bei Lukas: Bei ihm werden Mna verteilt(= 1/60 Talent = 100 Drachmen).
Jeder der zehn Sklaven bekommt gleich viel.
Auch der Erzählzusammenhang ist unter
schiedlich: Bei Matthäus verreist ein (reicher) Mensch - und übergibt seinen ganzen Besitz seinen Sklaven zur Verwaltung. Bei Lukas ver
reist ein „Hochwohlgeborener", also ein Adeli
ger, in einfernes Land, um für sich ein König
tum zu empfangen. Er übergibt seinen Sklaven einen (mickrigen) Teil seines Vermögens, da
mit jeder „damit Handel treibe" (Lk 19, 13) - bis zu seiner Rückkehr. Es geht also um einen
Wettbewerb unter den Sklaven: Wer kann mehr Gewinn machen, besser wirtschaften?
Entsprechend unterschiedlich ist die Fort
setzung: Im Matthäusevangelium bekommen die Sklaven unabhängig davon, wie viele wei
tere Talente sie dazugewonnen haben, den
gleichen Lohn. ,,Geh ein in die Freude deines Herrn!", dürfen sie hören (Mt 25,21.23). Da
mit ist der eschatologische, himmlische Lohn gemeint. Ganz anders bei Lukas: Nachdem der Hochwohlgeborene als König in sein Land zurückgekehrt ist, verteilt er proportional zum Gewinn, den die einzelnen Sklaven erzielt ha
ben, ganz irdische Gratifikationen: Amtsvoll
macht über zehn bzw. fünf Städte entspre
chend der Vervielfachung des Ausgangsbe
trags. Dabei haben sich die Sklaven durchaus nicht zu Tode geschuftet. Sie haben vielmehr das Geld selbst arbeiten lassen: ,,Dein Mna ar
beitete 10 Mna hinzu" bzw. ,,Dein Mna mach
te 5 Mna" (Lk 19,16.18), sagen sie selbst.
Neben diesen willigen Gehilfen gibt es aber auch eine Opposition bei Lukas: die Bürger des Landes (Lk 19, 14). Sie wollen ge
rade nicht, dass dieser Hochwohlgeboren über sie König wird. Sie reisen ihm deshalb nach und versuchen sein Ansinnen „im fer
nen Land" zu vereiteln. Umsonst. Dafür lässt sie der als König Installierte abschlachten:
,,Jedoch diese meine Feinde, die nicht woll
ten, dass ich König über sie werde, führt sie hierher und schlachtet sie vor meinen Augen ab!" (Lk 19,27).
Mit leider bisher noch ganz wenigen exe
getischen Fachkolleglnnen3 weigere ich mich, diese Erzählung als Gleichnis für Jesu Königtum zu lesen, für seine Abwesenheit bis zur Parusie und das dann stattfindende
2 Für den Nachweis vgl. Martin Ebner, Face to face-Widerstand im Sinn der Gottesherrschaft. Jesu Wahrnehmung seines sozialen Umfeldes im Spiegel seiner Beispielgeschichten, in: Early Chris
tianity 1 (2010), 406-440, 418-423.
3 Dietrich Schirmer, .,Du nimmst, wo du nichts hingelegt hast" (Lk 19,21) - Kritik ausbeuterischer Finanzpraxis, in: Kuno Füssel/
Franz Segbers (Hg.), ... so lernen die Völker des Erdkreises Ge
rechtigkeit", Luzern 1995, 179-186; Hubert Frankemölle, Das Gleichnis von den Zentnern/Talenten (Mt 25, 14-30) - Zwei Le
seweisen: Jesus und Matthäus, in: Orien. 69 (2005), 10-12; Luise Schottroff, Die Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2005, 238-246; Brian Schultz, Jesus as Archelaus in the Parable of the Pounds (Lk.
19:11-27), in: NT 49 (2007), 105-127; Michael Fricke, Wer ist der Held des Gleichnisses? Kontextuelle Lesarten des Gleichnisses von den Talenten, in: BiKi 63 (2008), 76-80. Vgl. Martin Ebner, Widerstand gegen den „diskreten Charme der sozialen Distanz"
im Lukasevangelium, in: ThPQ 155 (2007), 123-130.
Gericht.4 Ich erkenne in unserer Erzählung vielmehr eine Spiegelung der römischen Herrschaftsordnung, die dem Königtum Got
tes, das Jesus verkündet und für das er ein
steht, diametral entgegengesetzt ist.
Die römische Herrschaftspyramide und die Beispielgeschichte
Die römische Herrschaftsordnung ist wie eine Pyramide, in der Macht gegen Geld nach unten weitergegeben wird. An der Spitze steht der Kaiser - mit allumfassender Amtsvoll
macht. Sein Wort ist Befehl - ohne Diskussi
on. In allen Bereichen. Aber verwalten lässt sich das riesige Reich nur, wenn diese umfas
sende Amtsvollmacht nach unten delegiert wird, begrenzt auf ganz bestimmte geogra
phische Bereiche (Provinzen), für „Statthalter"
zusätzlich begrenzt auf eine ganz bestimmte Zeit (meistens auf ein Jahr), für „Könige" da
gegen auf Lebzeiten. Insofern erzählt unsere Geschichte exemplarisch eine Amtsbeleh
nung: Ein Adliger reist nach Rom, um dort die Amtsvollmacht über ein bestimmtes Territo
rium als „König" in Empfang zu nehmen.
Viele Exegeten denken bei der Geschichte, wie Lukas sie erzählt, ganz konkret an Arche
laos, den ältesten Sohn Herodes d. Gr. Der konnte sein Land nicht einfach seinen Söhnen vererben. Er war ja selbst nur König im Auf
trag Roms. Er konnte in seinem Testament dem Kaiser für die Aufteilung des Landes un
ter seine Söhne nur Vorschläge machen. Sei
ne Söhne mussten selbst nach Rom reisen, um sich dort vom Kaiser bestätigen und einsetzen zu lassen. Bei Archelaos war es tatsächlich so,
4 So aber Ulrich Busse, Dechiffrierung eines lukanischen Schlüs
seltextes (Lk 19, 11-27), in: Von Jesus zum Christus - Christologi
sche Studien (FS P. Hoffmann) (BZNW 93), Berlin 1998, 423- 441; Jan Lambrecht, The Parable of the Throne Claimant - Luke 19,11-27, in: Ders., Understanding What 0ne Reads. New Testa
ment Essays (hg. von Veronica Koperski) (ANL 46), Leuven 2003, 112-124; Michael Weiter, Das Lukasevangelium (HNT 5), Tübin
gen 2008, 616-625.
5 Ant 17,219.299f.; Bell 2,20.80.
Strukturen der Gewalt in Palästina zur Zeit Jesu
dass ihm eine Delegation von Jerusalemer Aristokraten nachgereist ist, um seine Ernen
nung zu verhindern. Der jüdische Geschichts
schreiber Josephus erzählt ausführlich darü
ber.5 Und selbst wenn den Hörern diese Details nicht bekannt gewesen sein sollten, wird in je
dem Fall das typische Bewerbungsverfahren von Klientelkönigen Roms erkennbar.
Nicht eigens erzählt wird von Josephus, dass im Gegenzug für die Amtseinsetzung Tribut bezahlt werden musste - und zwar im Voraus. Innerhalb seines Territoriums war der ,,Kleinkönig" dann selbst dafür verantwort
lich, diese vorab geleistete Summe wieder he
reinzuwirtschaften: durch Zwangsabgaben im eigenen Land. Für die Organisation dieser Steuereintreibung belehnte er seinerseits Un
tergebene mit Amtsvollmacht über einen prä
zise abgesteckten Bereich. Nun übernahm er selbst die übergeordnete Rolle und durfte sei
nerseits für die Machtübertragung Tribut ein
fahren. Aufgabe der von ihm Belehnten wie
derum war es, diese Summen vor allem in Form von Naturalabgaben aus dem Volk ein
zutreiben. Wenn der jeweilige König, wie in unserer Erzählung, für die Steuereintreibung an Stelle von Freunden oder Familienange
hörigen Sklaven einsetzte, hatte das für ihn den Vorteil, dass sie ihrerseits keine eigen
ständigen Finanzgeschäfte machen durften, sondern das gesamte eingetriebene Geld an ihn weiterzugeben hatten.
Diese Strukturen vor Augen erzählt unser Beispiel in Lk 19 vom Auswahlverfahren vor der Betrauung mit einer solchen Aufgabe. Im Vorfeld seiner erwarteten Einsetzung als Kö
nig führt Hochwohlgeboren einen Test durch, um unter seinen Sklaven diejenigen herauszufiltern, die das geschickteste Händ
chen dafür haben, seinen eigenen Finanzpott aufzufüllen.
Damit kommt innerhalb unserer Erzählung zugleich eine zweite typische Komponente römischer Herrschaft ins Spiel: der durch den Macht-gegen-Geld-Mechanismus in Gang
Martin Ebner
gesetzte Wettbewerb, der Bewegung in die soziale Stufenleiter bringt, zu Auf-, aber auch zu Abstieg führen kann. In unserer Er
zählung reisen Bürger des Landes dem Hoch
wohlgeborenen hinterher. Josephus erzählt die Fortsetzung: wie die jüdischen Eliten in Rom vor dem Kaiser um den Zuschlag der Herrschaftsübergabe wetteifern. Auch jeder der Herodessöhne versucht sich anzubie
dern, um möglichst viel für sich herauszu
schlagen. 6 Dieser Wettbewerb auf der obers
ten Ebene setzt sich nach unten fort: In un
serer lukanischen Erzählung wird die Amtsvollmacht über eine bestimmte Anzahl von Städten im Wettbewerbsverfahren an die einzelnen Sklaven vergeben. Die enorme Vervielfachung der ursprünglichen Aus
gangssumme von einem Mna ist vermutlich über den Handel zu denken. Josephus be
richtet, dass die geschickte Ausnutzung von Versorgungsengpässen in Palästina gerisse
nen Händlern horrende Gewinnsummen ein
gebracht hat. 1
In diesem Horizont betrachtet ist der etwas andere dritte Sklave bei Lukas keineswegs ein „fauler" Sklave wie bei Matthäus, son
dern - in der Perspektive des Königs - ein .,böser" Sklave (Lk 19,22), der weder Loyali
tät noch Konformität zu zeigen bereit ist, kurz: ein Systemverweigerer. Er verweigert sich dem Machtpyramiden-Wettbewerbs
System. Anstatt das Geld arbeiten zu lassen, lässt er es in einem Schweißtuch schwitzen, ohne dass es arbeitet. Und er geht noch ei
nen Schritt weiter. Er bezichtigt den König des Diebstahls: ,,Du nimmst weg, was du nicht hingelegt hast" (Lk 19,21). Damit kommt das Kreditgeschäft in den Blick - oder ganz einfach die Steuereintreibung.
Denn die Fortsetzung ., ... du erntest, wo du nicht gesät hast" kann sich ganz konkret auf die Naturalabgaben der Grund- und Boden
steuer beziehen. Der dritte Sklave deckt so
zusagen die systemimmanent verschleierte strukturelle Gewalt der Römerherrschaft auf:
Er nennt den König einen Dieb und Räuber, die Steuereintreibung eine kriminelle Ma
chenschaft. Auf römischer Seite waren da
gegen längst Theorien entwickelt, die diesen Vorgang als geradezu selbstverständlich er
scheinen lassen sollten: Nachdem Rom das Land erobert hat, wohnen die Menschen dort auf fremdem Land. Sie müssen also „Miete"
bezahlen. Der „Schutz" durch das römische Heer kostet zusätzlich Geld. Dafür müssen die Beschützten aufkommen. Auch in diesem Punkt deckt unsere Erzählung strukturelle Gewalt auf. Der Befehl des Königs in Lk 19,27 zeigt, wofür das Heer eigentlich dient:
als Drohkulisse zur Aufrechterhaltung der Ordnung. Notfalls wird es dazu eingesetzt, mit Gewalt gegen Opponenten vorzugehen.
Unsere Erzählung schildert genau das für die vereitelte Bürgerinitiative.
Im Unterschied zu den Bürgern ist der drit
te Sklave nicht eigentlich ein Opponent, son
dern vielmehr ein Spielverweigerer. Er ord
net sich nicht in das Wettbewerbsverfahren ein, aber traut sich, die Spielregeln des Kö
nigs zu entlarven. Er organisiert keinen Wi
derstand, sondern klinkt sich aus, nicht oh
ne auf seine Motive hinzuweisen: Vor einem unberechenbaren Räuber und Dieb muss man Angst haben (Lk 19,21). Mit dem lässt man sich besser nicht ein.
Anders als die Bürger erleidet der dritte Sklave deshalb auch keine physische Gewalt.
Der König verfährt vielmehr entsprechend seinem Wettbewerbs-Motto: ,,Wer hat, dem wird gegeben ... " (vgl. Lk 19,26). In unserem Fall: Wer nicht mitspielt, der verliert. Dem dritten Sklaven wird sein Startkapital ge
nommen, sozusagen seine Mitspielchance in der Machtpyramide. Er verliert damit seine Aufstiegsmöglichkeit. Für die Macht-gegen
Geld-Karriere kommt er jedenfalls nicht
6 Vgl. Josephus, Ant 17,220.224-249.299-323; Bell 2,20-38.80-100.
7 Vgl. den Ölhandel des Johannes von Gischala: Josephus, Bell 2,591f.; Vit 74-76.
mehr in Frage. Aber für die Hörer ist er der Held der Geschichte: Er zeigt einen dritten Weg zwischen offenem Widerstand und wil
ligem Sich-Beugen. Und damit streut er Sand in das Getriebe des Systems. Seine Analyse motiviert dazu, mit einem aufgeklärten Blick auf das Herrschaftssystem zu schauen. Und das ist der erste Schritt zur aktiven Verwei
gerung.
Kluges Verhalten im Horizont der Gottesherrschaft
Die Geschichte vom etwas anderen Sklaven ist raffiniert erzählt. In wenigen Zügen wird ein zutreffendes Bild von der politisch-wirt
schaftlichen Großwetterlage gezeichnet. Da
bei ist Jesu Wahrnehmung der Verhältnisse äußerst subtil.8 Zwei Dinge fallen besonders auf: ( 1) Jesus fokussiert seine Erzählung auf die Schnittstelle zwischen der Machtpyrami
de und dem einfachen Volk. Er lässt mit den drei Sklaven Figuren unter Druck geraten, die vor der Entscheidung stehen, ob sie sich auf das römische Machtsystem und seine Regeln einlassen und dann evtl. weiter aufsteigen können - oder ob sie, ganz am Anfang dieses Weges, ein klares „Nein!" sprechen. Anders gesagt: Nicht das System muss verändert wer
den, sondern die Träger des Systems haben es selbst in der Hand, ob sie mitspielen oder nicht, ob sie vom System profitieren wollen (und es damit stabilisieren) oder ob sie sich verweigern, auf einen möglichen Aufstieg verzichten (und damit das System zumindest nicht stabilisieren). Und (2): Es fehlt jegliche ausgesprochen religiöse Motivation für das Verhalten des dritten Sklaven. Er handelt ein
fach klug. Bevor er in weitere Handlungs
zwänge kommt, steigt er gleich am Anfang
8 Ausführung dazu: Martin Ebner, Strukturen der Gewalt in Paläs
tina zur Zeit Jesu. Jesuanische Wahrnehmungen und sozialge
schichtliche Daten, in: Reinhold Zwick (Hg.), Religion und Ge
walt im Bibelfilm (Film und Theologie), Marburg 2011 (im Druck).
Strukturen der Gewalt in Palästina zur Zeit Jesu
aus. Offensichtlich - so meine These - weil er bereits in ein anderes System eingestiegen ist:
in die Gottesherrschaft. Gemäß der Grund
überzeugung Jesu ist sie im Himmel längst angebrochen (vgl. Lk 10, 18). Und deshalb kann sie sich auch auf Erden ausbreiten - un
ter allen, die der Herrschaft Gottes mehr ver
trauen als dem Machtgebaren irdischer Po
tentaten. Der Held unserer Erzählung steht paradigmatisch für diese Menschen: Sie brau
chen nicht gegen Rom zu rebellieren, weil der Kampf gegen ungerechte Systeme von Gott selbst geführt wird - und im Himmel bereits gewonnen ist. Aber sie können, sozusagen aus dem Blickwinkel der neuen Herrschafts
verhältnisse, scharf sehen, ihr Urteil furchtlos aussprechen und entsprechend handeln: Mit Dieben und Räubern lässt man sich nicht ein!
Das färbt schnell auf das eigene Verhalten ab.
Und am Ende merkt man es nicht einmal ...
Zusammenfassung
Gewalt fängt an, lange bevor Waffen einge
setzt werden. Mit Hilfe des Begriffs der "struk
turellen Gewalt" lassen sich derartige Phäno
mene im Vorfeld des Waffeneinsatzes erfassen:
Unterdrückungsmechanismen, die ihrerseits zu Protest bzw. Widerstand führen -und so eine Gewaltspirale in Gang setzen können. Mit die
sem Instrumentarium wird die Zeit Jesu in Pa
lästina beleuchtet -und zwar aus dem Blick
winkel einer seiner berühmten Beispielerzäh
lungen ...
Prof. Dr. Martin Ebner
lehrt Exegese des Neuen Tes
taments an der Universität Münster. Seine Arbeits
schwerpunkte sind: Jesusfor
schung, Sozialgeschichte des frühen Christentums.
E-Mail: ebner@uni-muenster.de