Säuglingen und häufigste Ursache des chronischen subduralen Hämatoms beziehungsweise Hygroms in dieser Altersgruppe, fehlgedeutet werden.
Uns sind drei Patienten mit GA I be- kannt, bei denen primär ein Schüttel- trauma angenommen und fälschlicher- weise als Ursache für das schwere neu- rologische Krankheitsbild angesehen wurde. In beiden Fällen wurden ent- sprechende psychosoziale Maßnah- men eingeleitet, bis Jahre später die ursächliche Erkrankung der GA I dia- gnostiziert wurde.
Die meisten Patienten mit GA I erleiden in ihrem Leben eine einzige enzephalopathische Krise. In wenigen Minuten werden dabei selektiv die Neurone in den Nuclei caudati sowie den Globi pallidi zerstört (1, 2, 3, 5, 6, 8, 9). So verursacht diese Krise eine äußerst schwere dyston/dyskinetische Bewegungsstörung. Die Intelligenz der Kinder dagegen ist weitgehend unbeeinträchtigt. Bleibt die Erkran- kung undiagnostiziert und unbehan- delt, entwickelt sich in späteren Le- bensjahren oft zusätzlich eine genera- lisierte Hirnatrophie, eine Spastik mit Pyramidenbahnzeichen und eine gei- stige Retardierung. Ungefähr 25 Pro- zent der Patienten erleiden keine en- zephalopathischen Krisen, sondern entwickeln schleichend eine dyston/
dyskinetische Bewegungsstörung un- terschiedlichen Ausmaßes. Neurora- diologisch läßt sich auch bei diesen Patienten die spezifische Schädigung
der Nuclei caudati sowie der Globi pallidi nachweisen.
Die Prognose nach Eintreten der neurologischen Symptomatik ist
ernst. Trotz Diagnosestellung und Therapieeinleitung bessert sich die schwere neurologische Symptomatik nicht oder nur wenig, so daß etwa 20 Prozent der Patienten aufgrund krisenhafter neurologischer Ver-
schlechterungen, unbeeinflußbarer Hyperthermien oder interkurrenter Erkrankungen sterben (Tabelle).
Inzwischen konnten wir bei 21 Patienten eine GA I frühzeitig, das
heißt vor Ausbruch der neurologi- schen Erkrankung, diagnostizieren und behandeln (6). Die Therapie be- steht aus einer Carnitinsubstitution
mit 50 bis 100 mg/kg Körpergewicht und Tag sowie einem speziellen Not- fallregime bei interkurrenten Infek- ten. In Analogie zu anderen Amino- säureabbaustörungen, wie der Phe- nylketonurie, erhalten die frühent- deckten Patienten in den ersten Le- bensjahren eine lysinarme und trypto- phanreduzierte Diät (GA I und GA II). Zusätzlich empfehlen wir die Aus- händigung eines Notfallausweises be- ziehungsweise eines Notfallmedail- lons mit den wichtigsten Erstinforma- tionen und Telefonnummern. Unter dieser Behandlung entwickelte bis heute keines der früh diagnostizierten Kinder die neurologische Erkran- kung (mittleres Alter 6,5 Jahre und damit älter, als jemals in der Literatur eine schwere Verschlechterung be- schrieben wurde).
Die nach Ausbruch der GA I schwere, irreversible neurologische Schädigung der betroffenen Kinder muß Anlaß für vermehrte Anstren- gungen einer Diagnosestellung bei möglichst vielen Patienten vor Ent- stehen der neurologischen Erkran- kung sein. Besonders tragisch ist die mögliche Fehldiagnose der Kindes- mißhandlung. Leider handelt es sich bislang bei den meisten von uns früh diagnostizierten und behandelten Pa- tienten um jüngere Geschwister in Fa- milien mit mehreren betroffenen Kin- dern, die im Rahmen von Familienun- tersuchungen schwer erkrankter älte- rer Geschwister diagnostiziert wur- den. Bis die GA I flächendeckend in das Neugeborenenscreening einbezo- gen ist, erscheint eine Urinanalytik der organischen Säuren im Rahmen der differentialdiagnostischen Ab- klärung einer Makrozephalie oder ei- nes vermuteten frühkindlichen Schüt- teltraumas als erfolgversprechender Ansatz zur Frühdiagnose der betrof- fenen Kinder.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1997; 94: A-981–986 [Heft 15]
Literatur
1. Amir N, Elpeleg ON, Shalev RS, Chri- stensen E: Glutaric aciduria type I: Enzy- matic and neuroradiologic investigations of two kindreds. J Pediatr 1989; 114:
983–989.
2. Goodman SI, Frerman FE: Organic aci- demias due to defects in lysine oxida- ion: 2-ketoadipic acidemia and glutaric
A-984
M E D I Z I N
(44) Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 15, 11. April 1997 AKTUELL
Klinische und
neuroradiologische Befunde von 36 Patienten mit GA I
Symptomfreies Intervall:
12 Monate (2 bis 37 Monate)
– Makrozephalie bei Geburt 43%
– Makrozephalie im
Säuglingsalter 67%
– Dystonie, Dyskinesien 100%
– Rumpfhypotonie 61%
– Tetraplegie 39%
– Appetitlosigkeit, Schlafstörungen,
vermehrtes Schwitzen 50%
– Hyperpyrexie 28%
– Zerebrale Anfälle 20%
– Frontotemporale Atrophie 86%
– Basalganglienveränderungen 63%
Tabelle
Krankheitsverlauf und -prognose von Patienten mit GA I*
1Krankheitsverläufe Ausmaß der neurologischen Behinderung Tod
Anzahl Keine Mäßig*2 Schwer*3
Schleichender Beginn 15 – 9 6 –
Enzephalopathische Krise 63 1 4 58 16
Gesamt 78 (100%) 5 (1,3%) 13 (17%) 64 (82%) 16 (21%)
*1 Zusammenstellung aus fünf Publikationen (1, 3, 5, 8, 9) sowie 36 eigenen Beobachtungen.
*2 Mäßiggradige neurologische Behinderung. Die Patienten können sprechen und ohne Hilfestellung gehen.
*3 Die Patienten sind auf den Rollstuhl angewiesen. Kein Sprachvermögen. Eßstörungen.