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Nationalstaatsbildung und Nationalisierungsprozesse im 19. und 20. Jahrhundert

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Nationalstaatsbildung und Nationalisierungsprozesse im 19. und 20. Jahrhundert

Nationalstaatsbildung und

Nationalisierungsprozesse im 19. und 20.

Jahrhundert

Veranstalter: Arbeitsgemeinschaft für die Neueste Geschichte Italiens Deutsches Histo- risches Institut Rom Kulturabteilung der Ita- lienischen Botschaft Berliner Kolleg für Ver- gleichende Geschichte Europas

Datum, Ort:26.06.2008–28.06.2008, Berlin Bericht von:Sanela Hodži´c, Universität Bern Die Arbeitsgemeinschaft für die Neueste Ge- schichte Italiens richtete vom 26. bis 28. Juni 2008 in Berlin in Verbindung mit dem Deut- schen Historischen Institut Rom, der Kul- turabteilung der Italienischen Botschaft und dem Berliner Kolleg für Vergleichende Ge- schichte Europas in dessen Räumen ihre al- le zwei Jahre stattfindende Tagung aus. Das diesjährige Thema lautete „Nationalstaatsbil- dung und Nationalisierungsprozesse im 19.

und 20. Jahrhundert“. Ein verbindendes Ele- ment zwischen den Beiträgen stellte die Fra- ge nach der Integration der Bevölkerung bzw.

danach, welche Rolle die sogenannten Mas- sen bei der Entstehung und Festigung des ita- lienischen Nationalstaates spielten.

Den Auftakt der Tagung bildete eine Neue- rung: die Freie Sektion. So soll vor allem NachwuchswissenschaftlerInnen die Mög- lichkeit gegeben werden, ihre aktuellen For- schungen auch außerhalb des Rahmenthemas vorzustellen.

Unter dem Vorsitz von Christof Dipper (Darmstadt) Stellte ANTJE DECHERT (Köln) einen Auszug aus ihrer kürzlich eingereichten Dissertation zu Filmstars und Körperdiskur- sen in Italien von 1930 bis 1966 vor. In ihrem Vortrag „É nata una stella. Starkult in Cinecit- tà“ zeigte sie, wie Filmstars den Wandel der Vorstellungen von Weiblichkeit und Männ- lichkeit nachvollziehen, wobei die politische Zäsur von 1943/45 in dieser Hinsicht keine Rolle spielt. An Marcello Mastroiannis Rollen- wandel vom virilen Don Giovanni zum „ver- führten Latin Lover“ zeichnete sie das Auf- brechen der Geschlechterrollen während der Phase desboom economico nach. Während Mastroiannis Filme in den 50er Jahren das da- mals traditionelle Ende des männlichen Sie- gers aufweisen, prägte sie in den 60er Jahren

ein Krisennarrativ, das Ausdruck des Zusam- menbruchs der männlich dominierten Ord- nung sei. Mastroiannis Filme visualisieren so die Spannungen und Konflikte, die sich im Zuge der auch in Italien damals schon spür- baren Verschiebung Geschlechterrollen erga- ben.

Seit einem Jahr erforscht FIAMMETTA BA- LESTRACCI (Trient) Leben und Werk des Flo- rentiner Professors für Zeitgeschichte Enzo Collotti und stellte nun erste Ergebnisse un- ter dem Titel „Enzo Collotti lo storico del Nazismo e le due Germanie“ vor. Sie bet- tete sein Werk in die kulturellen und poli- tischen Zusammenhänge der Nachkriegszeit und seine persönliche Erfahrung der Besat- zung ein. Collottis Ruf als der bedeutendste italienische Deutschlandhistoriker beruhe da- bei nicht nur auf seiner intellektuellen Bedeu- tung und schriftlichen Produktivität, sondern auch auf seiner Rolle als Konfliktperson. Der sich über die Jahrzehnte ergebende bzw. ver- schärfende Kontrast zwischen wissenschaftli- cher Leistung und politischer Einstellung Col- lottis blieb in diesem Beitrag ein Stück weit unaufgelöst und wurde entsprechend kontro- vers diskutiert.

Dass die Tagungen der AG Italien sehr an- regend sein können, bewies MALTE KÖNIG (Saarbrücken), da sein Beitrag „Franco Ba- saglia und das Gesetz 180. Die Auflösung der psychiatrischen Anstalten in Italien 1978“

auf Anregungen der vergangenen Tagung zu- rückgeht. Vor der Reform des Jahres 1978 ba- sierte der Umgang mit den psychisch Kran- ken auf einer Gesetzgebung, die bis 1904 zu- rückreicht und den Schutz der Gesellschaft vor den „Irren“ verabsolutierte. Eine Thera- pie war nicht vorgesehen. Die Zustände in den Anstalten waren derart schlimm, dass Ba- saglia daraus den Schluss zog, sie seien un- reformierbar und müssten aufgelöst werden;

die Kranken sollten in die Gesellschaft zu- rückgeführt werden. König zeichnete nach, wie es Basaglia gelingen konnte, seine radi- kalen Forderungen umzusetzen. Das Gesetz 180 stellt dabei einen Kompromiss dar, des- sen Umsetzung zwar sehr mangelhaft erfolg- te, jedoch vielleicht gerade deshalb noch heu- te, d.h. in Zeiten erheblicher therapeutischer Erfolge, unverändert in Kraft ist. In der Dis- kussion wurde vorgeschlagen, dieses Thema

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stellen und den Vergleich mit anderen euro- päischen Staaten zu wagen, um die ganze Be- deutung dieses wohl einmaligen Gesetzes zu erkennen.

Den inzwischen schon traditionellen Abendvortrag hielt diesmal MARCO ME- RIGGI (Neapel/Berlin). Er sprach über „Cit- tadinanza, masse e nazione nell’Ottocento italiano“ und ließ dafür in einem dreifachen Durchgang die Einstellung der Risorgi- mentoeliten zur Rolle der Volksmassen, die sogenannte Sachgeschichte und die wechsel- haften Aussagen der Geschichtswissenschaft Revue passieren, nachdem er einleitend durch einen spannenden Problemaufriss zum Begriff der „Masse“ Grundsätzliches zum Thema der Tagung ausgeführt hatte. Nur streifen konnte er die Mobilisierungsmöglich- keiten, das heißt den Grad der Literarität und die Anzahl von Zeitungslesern. Meriggi kam zu dem Schluss, dass „einige Zehntausend“

sich aktiv amRisorgimento beteiligt hätten und fragte, ob dies viel oder wenig sei. Im Vergleich zu Frankreich (Revolution) und den USA (Bürgerkrieg) habe Italien weit zurückgelegen. Aber auf der Halbinsel waren die Liberalen die einzigen ernsthaften Träger der Nationalbewegung, das heißt eine politi- sche Richtung, die zwar von der notwenigen Nationalisierung der Massen sprach, aber als Gruppe eine winzige Minderheit darstellte, die unter sich bleiben wollte. Dieser komple- xe Sachverhalt sei von der Forschung noch nicht hinreichend gewürdigt. Auch Meriggi bot keine eindeutige Antwort an, schärfte jedoch das Problembewusstsein und spannte mit dem Stichwort Volksmasse den roten Faden, der sich durch die gesamte Tagung ziehen sollte.

Die Sektion am Freitagvormittag wurde von Marina Cattaruzza (Bern) geleitet. Zu- nächst stellten CAMILLA WEBER (Regens- burg) und SIMONE STEINMEINER (Pader- born) ihre Dissertationen zum „Risorgimen- toin italienischen Schulbüchern“ vor. Zusam- men decken die Referentinnen den Zeitraum von 1860 bis zur Gegenwart ab, wobei der Fa- schismus ausgeklammert bleibt. In ihren Vor- trägen beschränkten sich beide auf die Dar- stellung Cavours, um eine bessere Vergleich- barkeit zu gewährleisten. Camilla Weber un-

zu dem Ergebnis, dass sich die die Darstel- lung Cavours über den gesamten Zeitraum nur wenig wandelte. Weder wurde dem Ri- sorgimento viel Raum gegeben, noch kam Cavour dabei die entscheidende Rolle zu.

Immerhin wurden ab 1890 die Dissonanzen zwischen ihm, Viktor Emanuel II. und Gari- baldi thematisiert. Simone Steinmeiers Refe- rat reichte von 1945 bis fast in die Gegen- wart. In diesen Zeitraum fallen erhebliche po- litische und didaktische Zäsuren. Unmittel- bar nach dem Krieg nimmt dasRisorgimen- to nun einen großen Teil des Unterrichts ein und Cavour ist die bestimmende Person. Von 1965 bis 1980 erscheinen zunehmend Schul- bücher, die einerseits der Strukturgeschichte verpflichtet sind, andererseits das Tableau der Personen erweitern. Seit 1980 schließlich wen- den sich die Schulbücher verstärkt der didak- tischen Vermittlung zu, Cavours Person weist in der Gegenwart ein größere Bandbreite an Zuschreibungen auf als jemals zuvor.

Eine transnationale Perspektive nahm JENS SPÄTH (München) in seinem weit ausho- lenden Vortrag „Zwischen Europäisierung und Nationalisierung. Die Verfassungsrevo- lutionen von 1820/21“ ein. Ausgehend von der Verfassung von Cádiz aus dem Jah- re 1812 zeichnete er kurz die Verfassungs- modelle des europäischen Frühliberalismus nach, um dann in zehn Thesen die Ein- ordnung und Kontextualisierung der Verfas- sungsrevolten von 1820/21 im Königreich Neapel-Sizilien vorzunehmen. Das König- reich Sardinien-Piemont spielte aus Zeitgrün- den eher eine Rolle am Rande. In seinen The- sen behandelte Späth unter anderem Aspek- te wie Organisationsformen, Trägergruppen, Verhalten der Monarchen und, damit zusam- menhängend, Verfassungskultur und Kom- munikationsstrategien. Die nationale Frage spielte keine Rolle, denn sie wurde in Südita- lien damals nicht gestellt.

MICHAEL STRAUß (Freiburg/Brsg.) stell- te in seinem Beitrag „Bologna nazione! Ce- to dirigente und Revolution im nördlichen Kirchenstaat 1831“ Erkenntnisse aus seiner Magisterarbeit vor. Vor dem Hintergrund ei- ner keinesfalls einfachen Forschungslage, sich widersprechender Zeitzeugenberichten und großer Unterschiede zwischen Modena und

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Nationalstaatsbildung und Nationalisierungsprozesse im 19. und 20. Jahrhundert

Bologna kam er aufgrund eigener Archivre- cherchen zu dem Schluss, dass die Revolu- tion in Bologna von der städtischen Ober- schicht und nicht von dem Geheimbund der Carboneria angeführt wurde. Strauß vertritt die These, dass es sich um eine Verfassungs- revolution gehandelt habe, mit der die Eli- ten ihre Einbindung in die Regierung des Kirchenstaates durchsetzen wollten. Dement- sprechend kompromissbereit seien sie gegen- über der Kirche gewesen, während sie in den Demokraten ihren Hauptgegner erblickten. In Bologna kam es deshalb erstmals zu dem in der weiteren Geschichte desRisorgimentoso bedeutsamen Konflikt zwischen Demokraten undModerati. In Modena konnte von alle- dem keine Rede sein, hier habe das bürger- liche Element überwogen. Gescheitert ist die Revolution bekanntlich auch dort.

Die Sektion am Nachmittag, von Oliver Janz moderiert, schloss zunächst mit dem Vortrag von JAN-PIETER FORSSMANN (Ber- lin) zu „Publizistik in der Toskana wäh- rend der Revolution 1848“ an die Revolu- tionsthematik an. Er stellte sein Thema in den Spannungsbogen von Pressezensur bis 1847 und 1848 dennoch sofort entstehenden (Gesinnungs-) Parteien. Er erklärt das mit der kryptopolitischen Funktion der Arbeit an kul- turellen oder auch unterhaltenden Journalen.

Sie habe die zügige Umstellung auf politische Zeitschriften erlaubt, die 1848 sogleich in gro- ßer Zahl gegründet wurden. Forßmann glie- dert die Revolution in drei Phasen: An den Reformprozess bis Februar 1848 schloss sich eine Phase zwischen März und August an, in der die Differenzen über die Ziele der Revo- lution zu Tage traten, die mit der Spaltung der Presse nach dem Zusammentritt der Ver- fassunggebenden Versammlung in der drit- ten Phase endete. Dabei führte die Verbin- dung von Presse und Politik zu einem Prozess der Reduzierung auf einen tagespolitischen Schlagabtausch. Auch in diesem Beitrag wur- de deutlich, wie beschränkt das Mittel der po- litischen Publizistik als urbanes Phänomen in der Zeit doch eigentlich war und wie gering folglich die politische Erschließung der Mas- sen bleiben musste.

Die beiden folgenden Beiträge galten poli- tischen Mythen im Nationalisierungsprozess des 19. und 20. Jahrhunderts. FERDINAND

GOEHDE (Berlin) stellte auf der Grundla- ge seiner Magisterarbeit den „Balilla-Mythos (1746-1881)“ vor. Leiten ließ er sich dabei von der Frage, was mit dem Mythos erzählt wer- de, der sich auf den genuesischen Aufstand gegen die österreichisch-piemontesische Be- satzung bezieht. Ab den 1830er Jahren ent- stand eine Literatur, die dem ursprünglich namenlosen Knaben zur gesamtitalienischen Symbolfigur des bewaffneten Kampfes ge- gen dietedeschi verhalf. Dazu steht die Ent- wicklung in Genua in merkwürdigem Kon- trast, denn in der Ursprungsstadt spaltete sich die Erinnerung in eine offiziöse, die Kirche einschließende traditionelle Festpraxis einer- seits und improvisierte Erinnerungsformen im kleinbürgerlichen und von Arbeitern be- wohnten Stadtviertel Portoria andererseits.

Die historische, mit der gegenwärtigen Rol- le Turins heftig kontrastierende Wahrheit war an diesem Konflikt wesentlich beteiligt. Erst das politische Ende derDestra storicaerlaub- te 1881 die Zusammenführung beider Fest- praktiken und die offizielle Einweihung des bereits 1863 errichteten Denkmals.

JESSICA KRAATZ MAGRI (Berlin) präsen- tierte unter dem Titel „Si scopron le tombe, si levano i morti ...Zur Konstruktion und Funk- tion eines politischen Heldenmythos: Giusep- pe Garibaldi 1882-1948“ die Ergebnisse ihrer Dissertation. Ausgehend von dem Phänomen, dass fast alle politischen Lager von Garibaldi Gebrauch machten, ging sie dem Spannungs- verhältnis zwischen dem den Nationalstaat legitimierenden und delegitimierenden My- thos nach. Sie zeichnete verschiedene Kon- strukte des Mythos nach und betonte, dass der Garibaldikult im späten 19. Jahrhundert zur Mobilisierung der urbanen Bevölkerung führte und damit auch zur Nationalisierung und Politisierung dieser „Massen“ beitrug, die sich allerdings auf Garibaldi auch immer als Symbol einer radikalen Alternative be- zogen. Im Faschismus diente der Garibaldi- Mythos u. a. der historischen Legitimation der charismatischen Führerherrschaft und der Selbstinszenierung des Regimes als Vollender des „unvollendeten“Risorgimento. In derRe- sistenza tauchte Garibaldi hingegen wieder als Chiffre der Idee eines „anderen“ Italien auf. An Garibaldi lässt sich also zeigen, dass selbst ein derart auf die Massen orientierter

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sätzlicher Weise narrativ, symbolisch und ri- tuell fungibel gemacht werden konnte.

Zuletzt sprach SIMONETTA SOLDANI (Bologna) über „Le donne e la nazione nel XIX e XX secolo“. Sie nahm dabei sehr ex- plizit Bezug auf das Thema der Tagung und gliederte ihren Vortrag in einen der Natio- nalisierung der Frauen und einen der Fol- gen der Nationalstaatsbildung gewidmeten Teil. In beiden legte sie sich, ohne das di- rekt auszusprechen, mit den für sakrosankt geltenden Grundüberzeugungen namentlich des älteren Feminismus an, jedenfalls soweit es die Geschichte bis in die 1880er Jahre be- trifft. Frauen hatten einen wesentlichen Anteil amRisorgimento, der Zusammenhang zwi- schen weiblicher Emanzipation und Nationa- lisierung war ausgesprochen eng. Wie selbst- verständlich sprach man bis in die 1850er Jah- re von den donne dell’Italia, wenn es um die tragenden Kräfte des Befreiungswerkes ging. Die Kriege haben dann allerdings zu ei- ner Passivierung der Italienerinnen geführt, fortan bezeichnet man sie eher als diemadri degl’eroioderdei martiri. Noch provokanter war Soldanis These, dass Frauen von der Na- tionalstaatsbildung besonders profitiert hät- ten. Namentlich seit dem 1865 verabschiede- ten Zivilgesetzbuch war die Situation der ita- lienischen Frauen im europäischen Vergleich fortschrittlich. Aber auch der Bildungssek- tor öffnete sich ihnen: Frauen dürfen in Ita- lien seit 1876 studieren, in Deutschland erst seit rund hundert Jahren. Mit der Wahlreform von 1883 trat jedoch ein Kurswechsel ein, der sich in der Regierungszeit Giolittis verschärf- te und im Faschismus eine pointierte Fortset- zung fand.

Die abschließende Sektion am Samstagmor- gen wurde von Gabriele Clemens geleitet und führte thematisch vom 19. in das 20. Jahr- hundert. In seinem Vortrag über die Rezep- tion der deutschen Wissenschaft und Univer- sitätsverfassung in Italien zwischen 1860 und 1915 wies FRANCESCO MARIN (Stuttgart) nach, welche große Bedeutung dem „deut- schen Modell“ bei der Konstruktion einer nationalen italienischen Wissenschaft zufiel.

Das als deutsch identifizierte Ideal von Wis- senschaftlichkeit fungierte als omnipräsenter Bezugspunkt in den Debatten um die Krise

war die Zahl der aus dem Deutschen über- setzten Handbücher, ebenso die der Stipen- diaten. Über 20 Prozent der Hochschulleh- rer, die um die Jahrhundertwende an italieni- schen Universitäten unterrichteten, waren da- her über Stipendienprogramme in Deutsch- land ausgebildet worden. Doch ab 1900 wur- de das bis dahin so bewunderte deutsche Mo- dell auch immer stärker zum Feindbild, ge- gen das es eine vermeintlich italienische Wis- senschaft zu behaupten gelte. Bemüht wur- den dabei Stereotype wie „deutsche Diszi- plin“ gegen „italienische Genialität“. Marin machte deutlich, dass ein antideutscher Na- tionalismus schon lange vor dem Krieg die in- nerwissenschaftlichen Selbstverständigungs- debatten bestimmte.

Auch in ULRICH WYRWAs (Berlin) Referat ging es um die Bedeutung von Intellektuel- len bei der Entstehung und Propagierung na- tionalistischer Ideologien. Durch eine detail- lierte Lektüre verschiedener Zeitschriften re- konstruierte Wyrwa die „Entstehung des in- tegralen Nationalismus in Italien und die Fra- ge des Antisemitismus“ von den ersten Zei- chen einer ausformulierten nationalistischen Haltung im florentinischenIl Marzocco um 1896 über die Präzisierung der nationalisti- schen Rhetorik in der ZeitschriftIl Regnobis hin zur Gründung der Associazione Nazio- nalista Italiana 1910. Insbesondere im Ver- gleich zur deutschen Geschichte fällt auf, dass der italienische integrale Nationalismus im Wesentlichen nicht antijüdisch argumentierte.

Erst ab 1911/12 wurden antisemitische Töne unter italienischen Nationalisten zunehmend lauter. Im Annäherungsprozess zwischen Na- tionalisten und Liberalen auf der einen Seite und Katholiken auf der anderen Seite avan- cierte „der Jude“ zum gemeinsamen Feind- bild. Wyrwa schloss daraus, dass der Antise- mitismus schon 1914 in der politischen Kultur Italiens angekommen sei.

In ihrem Beitrag „Nazionalizzazione con- flittuale: il confine orientale italiano 1915- 1954“ stellte MARINA CATTARUZZA (Bern) ihr kürzlich erschienenes Buch vor, das die so ganz anders als im übrigen Italien verlau- fende Nationalisierung an der östlichen Gren- ze Italiens behandelt. Dabei betonte sie, dass das österreichische Erbe besonders wichtig

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Nationalstaatsbildung und Nationalisierungsprozesse im 19. und 20. Jahrhundert

sei, um die Prozesse im östlichen Grenzbe- reich Italiens zu verstehen. Da in Österreich- Ungarn die Nationalisierung nicht vom Staat betrieben worden war, sondern von gesell- schaftlichen Kräften (Presseorganen, Interes- sengruppen, Sprach- und Volkstumsforschern usw.), sind hier Konflikte entstanden, die auch für die Nachfolgestaaten eine Rolle spielten. Die konfliktträchtige Nationalisie- rung vollzog sich als ein Kampf um die Kon- trolle über das Territorium, die Ressourcen und die symbolische Ordnung zwischen den verschiedenen ethnisch-kulturellen Gruppen bzw. deren jeweiligen Eliten. Die vom italie- nischen Staat eingesetzten Ressourcen reich- ten nicht aus, um das Gebiet zu kontrollieren und die slowenischen und kroatischen Eli- ten konnten Einfluss auf ihre Nation ausüben.

Cattaruzza kritisierte zu Recht, dass bis heu- te die Geschichte dieser Grenzgebiete meist nur als Regionalgeschichte betrieben wird, obwohl diese Territorien für die Geschichte des italienischen Nationalstaates und vor al- lem des Nationalismus von enormer Bedeu- tung waren. Dabei bietet dieVenezia Giulia ein interessantescase study für die Analyse der strukturellen Schwächen des italienischen Nationalstaates.

Dem eigentümlichen Umgang mit der Lei- che Benito Mussolinis wendete sich VERE- NA KÜMMEL (Darmstadt/Münster) in ih- rem Vortrag „Die 7 Körper des Duce“ zu. Von Sergio Luzzattos Studie ausgehend rekonstru- ierte sie die Etappen eines Bestattungszere- moniells, das am 29. April 1945 in Mailand auf dem Piazzale Loreto begann und erst im August 1957 zu seinem Ende kam. Da- zwischen war der Leichnam schon mehre- re Mal fernab von der Öffentlichkeit beige- setzt worden. Erst 1957 sah sich die Regie- rung bereit, den Toten der Familie auszuhän- digen, der in der Familiengruft in Predap- pio beigesetzt wurde. Die „Freigabe“ des un- bequemen Toten 1957 liest Kümmel als eine

„Entspannung“ des politischen Konflikts im Umgang mit der Vergangenheit und im Ge- gensatz von Anti-Faschisten und Faschisten.

Freigabe und Entspannung sind aber auch im Kontext der politischen Geschichte zu se- hen: 1957 begann die Krise der christdemo- kratischen Alleinherrschaft, die die Christde- mokraten (zunächst) mit einer Öffnung nach

rechts zu lösen versuchten.

Die nächste Tagung der Arbeitsgemein- schaft für die Neueste Geschichte Italiens wird in zwei Jahren stattfinden. Die Koordi- nation wird von Christof Dipper auf Gabrie- le Clemens übergehen. Weitere Informationen zur AG finden sich unter: http://www.ifs.tu- darmstadt.de/index.php?id=ag-italien.

Kurzübersicht:

Donnerstag, 26. Juni 2008 Begrüßung und Einführung:

Christof Dipper Arnd Bauerkämper Freie Sektion

Antje Dechert (Köln): „É nata una stella“. Star- kult in Cinecittà

Fiammetta Balestracci (Trient): Enzo Collotti lo storico del Nazismo e le due Germanie Malte König (Saarbrücken): Franco Basaglia und das Gesetz 180. Die Auflösung der psych- iatrischen Anstalten in Italien, 1978.

Abendvortrag

Marco Meriggi (Neapel/Berlin): Cittadinan- za, masse e nazione nell’Ottocento italiano Freitag, 27. Juni 2008

Simone Steinmeiner (Paderborn) und Camil- la Weber (Regensburg): Das Risorgimento in italienischen Schulbüchern

Jens Späth (München): Zwischen Europäisie- rung und Nationalisierung. Die Verfassungs- revolutionen von 1820/21

Michael Strauß (Freiburg): 1830/31 in Italien Jessica Kraatz-Magri (Berlin): Si scopron le tombe, si levano i morti ...”. Zur Konstrukti- on und Funktion eines politischen Heldenmy- thos: Giuseppe Garibaldi 1882-1948.

Jan-Pieter Forßmann (Berlin): Publizistik in der Toskana während der Revolution 1848 Ferdinand Goehde (Berlin): Der Balilla- Mythos (1746-1881)

Simonetta Soldani (Bologna): Le donne e la nazione nel XIX e XX secolo

Samstag, 28. Juni 2008

Francesco Marin (Berlin): Die „deutsche Mi-

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Ulrich Wyrwa (Berlin): Die Entstehung des in- tegralen Nationalismus in Italien und die Fra- ge des Antisemitismus

Marina Cattaruzza (Bern): Nazionalizzazione conflittuale: il confine orientale italiano 1915- 1954

Verena Kümmel (Darmstadt/Münster): Die 7 Körper des Duce

TagungsberichtNationalstaatsbildung und Na- tionalisierungsprozesse im 19. und 20. Jahrhun- dert. 26.06.2008–28.06.2008, Berlin, in: H-Soz- Kult 23.09.2008.

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