ORIGINALARBEIT
Tötungs- und Gewaltdelikte junger Menschen
Ergebnisse einer Verlaufsstudie zur Legalbewährung über nahezu 13 Jahre
Helmut Remschmidt, Matthias Martin, Gerhard Niebergall, Monika Heinzel-Gutenbrunner
ZUSAMMENFASSUNG
Hintergrund: Ziel der Studie war, die legale Entwicklung von jungen Menschen zu verfolgen, die wegen eines vollendeten oder versuchten Tötungsdeliktes jugend- psychiatrisch und psychologisch begutachtet und rechtskräftig verurteilt worden waren. Anhand der Auszüge aus dem Bundeszentralregister war dies über einen Zeitraum von durchschnittlich 12,8 Jahren nach der Verurteilung möglich.
Methoden: Es handelte sich um 114 (103 männliche und 11 weibliche) Täter (Alter zum Tatzeitpunkt 17,6 ± 1,9 Jahre), die in einem Zeitraum von nahezu 31 Jahren begutachtet worden waren und die insgesamt 70 Menschen getötet hatten. 30 Probanden (26,3 %) hatten ihre Gewalttat als Gruppendelikt began- gen. Zur Verlaufsbeurteilung standen die Daten aus der Begutachtung, die Ge- richtsurteile und die Auszüge aus dem Bundeszentralregister sowie der Erzie- hungskartei zur Verfügung.
Ergebnisse: 92 (80,7 %) der Täter waren deutsche Staatsangehörige, 12 (10,5 %) mit Migrationshintergrund, 22 (19,3 %) waren Ausländer. In 96 Fällen (84,2 %) wurde zum Zeitpunkt der Begutachtung eine psychiatrische Diagnose gestellt.
Nur bei 18 Probanden (15,8 %) war dies nicht der Fall. 20 Probanden (17,5 %) wurden in ein psychiatrisches Krankenhaus oder in eine Entziehungsklinik eingewiesen. 44 der Probanden (38,6 %) entwickelten sich zu chronischen Straftätern, die auch nach der Indextat weitere Delikte verübten. Als Untergrup- pe der chronischen Straftäter konnten 13 (11,4 % der Gesamtstichprobe) als Mehrfachintensivtäter identifiziert werden, die in jeder Hinsicht am auffälligs- ten waren. Insgesamt 70 (61,4 %) waren nach der Indextat im Beobachtungs- zeitraum nicht mehr strafrechtlich in Erscheinung getreten. Die Ergebnisse des Legalprognosetests sagten den weiteren Verlauf zwar statistisch signifi- kant, jedoch für eine weitgehend sichere Prognoseeinschätzung unzureichend voraus.
Diskussion: Auffällig ist die hohe Rate an psychischen Störungen (84,2 %), was mit den Ergebnissen vergleichbarer Studien übereinstimmt. Dies sollte Anlass sein, der psychiatrisch-psychologischen Diagnostik und Therapie einen höhe- ren Stellenwert einzuräumen. Die in der Literatur mehrfach berichtete Ein- schränkung kognitiver Funktionen bei dieser Klientel konnten wir nicht bestäti- gen. Die Intelligenz entsprach einer Normalverteilung.
►Zitierweise
Remschmidt H, Martin M, Niebergall G, Heinzel-Gutenbrunner M:
Violent crime perpetrated by young people—results of a 13-year longitudinal study of offenders on probation. Dtsch Arztebl Int 2014; 111: 685–91.
DOI: 10.3238/arztebl.2014.0685
N
ach den Daten der polizeilichen Kriminalstatistik, die eine Verdächtigtenstatistik ist, hat die Zahl der Tötungsdelikte junger Menschen (14- bis 20-Jähri- ger) in den letzten beiden Jahrzehnten nicht zuge - nommen und auch Körperverletzungsdelikte unterliegen einem leichten Abwärtstrend (1). Dieser Trend zeigt sich auch in der Verurteiltenstatistik (2).Was die Entstehungsbedingungen betrifft (Grafik 1), ist davon auszugehen, dass drei Faktorenbündel an der Verursachung beziehungsweise Auslösung von Gewalt- handlungen beteiligt sind (3):
●
(neuro)biologische Risikofaktoren (zum Beispiel männliches Geschlecht, Auffälligkeiten der vege- tativen Reagibilität)●
psychologische und soziale Risikofaktoren (zum Beispiel Intelligenzminderung, Schulversagen, ungünstige Familienverhältnisse, neuropsycholo- gische Defizite)●
situative Einflüsse (zum Beispiel Alkohol- und Drogenkonsum, Waffenbesitz, Gruppendynamik).Für alle drei Faktorenbündel ist ihr Einfluss auf die Verursachung und Auslösung gewalttätigen Verhaltens in zahlreichen Studien belegt, ohne dass ihr Beitrag, nicht zuletzt wegen zahlreicher Wechselwirkungen, quantitativ festlegbar ist (ausführliche Darstellung bei [3] und im eSupplement inklusive eGrafik, eKasten).
Manifestation gewalttätigen Verhaltens Die Grafik 1 verdeutlicht, dass der Weg zu einer Ge- walthandlung einerseits über Dissozialität und Strafta- ten ohne Gewaltkomponente verlaufen kann, anderer- seits ist aber auch ein direkter Weg zur Gewalthandlung ohne diese Zwischenstufe möglich. Ein Beispiel für letzteres sind die Affekttaten, die sich in aller Regel als Kulminationspunkt vorangegangener Auseinanderset- zungen ereignen und nicht selten ein Todesopfer zur Folge haben, ohne dass der Täter vor oder nach dieser Tat durch weitere Straftaten in Erscheinung getreten ist (Fall 70: Tötung des Vaters im Rahmen eines Affektde- liktes in Kasten 1).
Jugendliche und Heranwachsende, die in Deutsch- land wegen eines vollendeten oder versuchten Tötungs- deliktes angeklagt werden, durchlaufen in aller Regel eine jugendpsychiatrische und/oder psychologische Begutachtung. Es besteht allerdings ein Mangel an Da- ten zum Langzeitverlauf dieser Tätergruppe.
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Philipps-Universität Marburg: Prof. Dr. med. Dr. phil. Remschmidt, PD Dr. med. Martin, Dr. Dipl.-Psych. Niebergall, Dr. Dipl.-Stat.
Heinzel-Gutenbrunner
GRAFIK 1 Verschiedene
Wege zur Manifestation gewalttätigen Verhaltens (nach [3]:
Remschmidt H:
Tötungs- und Gewaltdelikte junger Menschen.
Ursachen, Begutachtung und
Prognose.
Heidelberg:
Springer 2012;
(Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Springer-Verlags, Heidelberg).
Einflussfaktoren und ihre Wechselwirkungen
abweichendes, noch nicht delinquentes
Verhalten
Straftaten ohne Gewaltkomponente
Straftaten mit Gewaltkomponente neuro -
biologische Faktoren
psycho- logische und soziale
Faktoren
situative Faktoren
Dissozialität (antisoziales Verhalten) Prädelinquenz
Delinquenz Gewalt delinquenz
KASTEN 1
Drei Beispiele für die Straftaten: Ein Affektdelikt und zwei Delikte von Mehrfachintensivtätern
●
Fall 70: Tötung des Vaters im Rahmen eines AffektdeliktesDer zum Tatzeitpunkt 18,7 Jahre alte Heranwachsende tötete im Rahmen einer eskalierenden Auseinandersetzung seinen Vater. Er war das zweite Kind seiner Eltern, die sich trennten als er 12 Jahre alt war. Zum Tatzeitpunkt wohnte er beim Vater zusammen mit seinem älteren Bru- der, während die Mutter bereits vor Jahren weggezogen war. Er hatte das Gymnasium nach der 9. Klasse verlassen, ohne eine Berufsausbil- dung zu beginnen, war an Drogen geraten, und es kam zu Hause zwischen ihm, seinem älteren Bruder und seinem Vater zu erheblichen, teils auch tätlichen Auseinandersetzungen. Das Tötungsdelikt ereignete sich als Kulminationspunkt einer Auseinandersetzung zwischen dem Täter und seinem Vater, die zunehmend eskalierte, als der Vater ihm drohte, die Polizei zu holen. Er nahm ein Messer aus der Küche und stach da- mit auf den Vater ein, zog das blutbeschmierte Messer sofort wieder heraus, der Vater schrie laut auf, rannte zum Telefon, um die Polizei zu rufen, verstarb aber noch am Tatort an den Folgen des Stiches. Der Täter verließ das Haus Richtung Bahnhof, irrte in der Stadt ziellos umher und verübte am nächsten Tag in der Toilette eines Kaufhauses einen Suizidversuch, indem er sich die Pulsadern zu öffnen versuchte. Dort wurde er massiv blutend vorgefunden.
Die Begutachtung kam zu dem Ergebnis, dass es sich diagnostisch bei dem Täter um eine „schizotype Störung“ (F21 nach ICD-10) han- delte. Das Tötungsdelikt ließ sich als typische Affekttat unter zusätzlichem Einfluss von Alkohol- und Drogenkonsum verstehen. Das Gericht folgte dem Vorschlag des Sachverständigen, der sich für eine Schuldminderung gemäß § 21 StGB ausgesprochen hatte und verurteilte den Täter zu einer Jugendstrafe von 5 Jahren.
Legalprognose: Der Heranwachsende war weder vor noch nach dem Tötungsdelikt strafrechtlich in Erscheinung getreten.
●
Fall 28: Tötungsdelikt eines Jugendlichen an einem HomosexuellenDer zum Tatzeitpunkt 15 Jahre alte Jugendliche war wegen Totschlags, Diebstahls in einem besonders schweren Fall und Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu 5 Jahren Jugendstrafe verurteilt. Er hatte einen 31-jährigen Homosexuellen durch Schläge auf den Kopf mit einer Sektfla- sche getötet, als dieser ihn zum Analverkehr zwingen wollte. ICD-10-Diagnose: Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindun- gen (F91.1). Legalprognose: Auch nach Absolvierung der Strafhaft kam es zu zahlreichen weiteren Delikten, unter anderem Körperverletzung und Freiheitsberaubung.
●
Fall 114: Gemeinschaftlicher Mord an einer RentnerinDer zum Tatzeitpunkt 20,2 Jahre alte Heranwachsende wurde wegen Mordes in Tateinheit mit schwerem Raub, versuchtem Mord in Tateinheit mit versuchtem Raub in 2 Fällen und Diebstahls zu einer Jugendstrafe von 9 Jahren verurteilt. Es wurde die Unterbringung in einer Entzie- hungsklinik nach § 64 StGB angeordnet. Der Täter und sein Mittäter überfielen aus Drogenbeschaffungsgründen eine ältere Dame, die der hier beschriebene Täter im Zivildienst kennengelernt hatte. Sie schlugen mit einer Eisenstange auf die Frau ein, die vor Ort verstarb. Die Tä- ter entwendetem das Portemonnaie der Dame und nahmen auch Uhren mit, um diese später zu verkaufen. Im Anschluss an die Tat kauften sie sich einen Beutel Heroin und wollten sich den „goldenen Schuss“ geben. Dies misslang aber. ICD-10-Diagnose des Haupttäters: Abhän- gigkeitssyndrom durch multiplen Substanzgebrauch (F19.2). Legalprognose: Der Haupttäter war bereits vor der Indextat durch mehrere Ein- träge im Bundeszentralregister (BZR) aufgefallen. Nach der Indextat sind im BZR weitere 17 Einträge verzeichnet, unter anderem wegen Be- drohung, Beleidigung und gefährlicher Körperverletzung.
Fragestellung
Ziel der vorliegenden Studie war, die legale Entwick- lung von jungen Menschen zu verfolgen, die wegen ei- nes vollendeten oder versuchten Tötungsdeliktes ju- gendpsychiatrisch und psychologisch begutachtet und rechtskräftig verurteilt worden waren.
Methodik
Untersuchungsdesign und Stichprobe
Das Untersuchungsdesign der Studie geht aus Grafik 2 hervor. Ausgangpunkt war jeweils die Indextat, die den Anlass für die Begutachtung darstellte. Das schriftlich angefertigte Gutachten wurde jeweils in der Gerichts- verhandlung erläutert beziehungsweise ergänzt und trug in aller Regel maßgeblich zur Urteilsfindung bei.
Nach der Verurteilung zu einer Haftstrafe oder nach Einweisung der schuldunfähigen beziehungsweise ein- geschränkt schuldfähigen Täter in ein psychiatrisches Krankenhaus gemäß § 63 StGB oder in eine Entzie- hungsklinik gemäß § 64 StGB, konnte die weitere lega- le Entwicklung der Probanden anhand der Auszüge aus dem Bundeszentralregister über einen Zeitraum von durchschnittlich 154 Monaten (rund 12,8 Jahren) ver- folgt werden. Dies erlaubte, nach Maßgabe der Delikt- belastung vor und nach der Indextat, die Bildung der in Grafik 2 gekennzeichneten Deliktbelastungsgruppen.
Diese konnten allerdings erst retrospektiv, nach Kennt- nis der Auszüge aus dem Bundeszentralregister, gebil- det werden.
Grafik 2 zeigt, dass in der Stichprobe zwischen der Indextat und der Begutachtung im Mittel 8 ± 7,3 Mona- te ins Land zogen und dass die Zeitdauer von der Be- gutachtung bis zur Verhandlung ebenfalls im Mittel über ein halbes Jahr dauerte (6,1 ± 7,5 Monate).
Die vorliegende Studie erstreckt sich auf alle Gutach- ten-Probanden, die wegen Tötungs- und/oder schwer-
GRAFIK 2 Design der
Marburger Tötungs- und Gewalt - delinquenz-Studie Prospektive Sicht
Indextat Begutachtung Verhandlung/
Sanktion
8 ± 7,3 Monate 6,1 ± 7,5 Monate 153,7 ± 90,2 Monate
Retrospektive Sicht
I. Mehrfachintensivtäter (n = 13)
(insgesamt mehr als 30 Taten und/oder mehr als 10 Registrierungen)
A. Einmalregistrierte/Einmaltäter (n = 34)
B. Passagere Täter/Desisters (n = 36) mehrere Registrierungen vor der Indextat, danach keine mehr
Follow-up/
Katamnese
C. Chronische Täter/Persisters (n = 44)
mehrere Registrierungen vor und nach der Indextat
wiegenden Gewaltdelikten im Zeitraum von 1976 bis 2007 der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Philipps-Universität Marburg von den Gerichten zur Begutachtung zugewiesen wurden. Es handelte sich insgesamt um 114 Probanden, 103 männli- che und 11 weibliche im Alter von 17,6 ± 1,9 Jahre, Ran- ge: 14–21 Jahre. Unter den jüngsten Tätern waren neun 14-Jährige. Alle Probandinnen und Probanden wurden von zwei erfahrenen Kinder- und Jugendpsychiatern (H.R. und M.M.) untersucht. Die in die Gutachten je- weils integrierten psychologischen Untersuchungen wurden von einem erfahrenen klinischen Psychologen und Psychotherapeuten (G.N.) durchgeführt.
Die psychiatrischen Diagnosen wurden nach dem Multiaxialen Klassifikationsschema (MAS) (Rem- schmidt et al., 2012 [4] beziehungsweise Vorläuferver- sionen) unter Anwendung der ICD-10-Forschungskri- terien (5) erstellt. Da die ICD-10 erst 1991 publiziert wurde, mussten die vor diesem Zeitpunkt nach ICD-9 gestellten Diagnosen nach ICD-10 umkodiert werden.
Wie Tabelle 1 zeigt, stand unter den vollendeten Tö- tungsdelikten Mord mit 36,8 % an erster Stelle, gefolgt von Totschlag in 11,4 % der Fälle.
Aus dem Kasten 2 gehen die angewandten Untersu- chungsmethoden und die statistischen Testverfahren hervor.
Ergebnisse Gesamtstichprobe
Tabelle 2 gibt eine Übersicht über die soziodemografi- schen Daten der 114 Straftäter und Straftäterinnen. Ta- belle 3 zeigt eine Übersicht über die psychiatrischen Diagnosen für die gesamte Stichprobe. Bemerkenswert ist, dass nur in 18 Fällen (15,8 %) die Kriterien für eine psychiatrische Diagnose nach ICD-10 nicht erfüllt wur- den.
Tat- und täterbezogene Teilstichproben
Aufgrund der Auszüge aus dem Bundeszentralregister be- ziehungsweise der Erziehungskartei war es möglich, De- liktbelastungsgruppen retrospektiv zu bilden und deren le- gale Entwicklung prospektiv zu verfolgen (vergleiche Grafik 2). Auch nur einmal registrierte Täter (Gr. A, n = 34) haben schwerwiegende Straftaten begangen. In 21 Fällen (62 %) kam es zur Tötung des Opfers, meist durch
Mord. Unter den Tätern in dieser Gruppe, die einen Mord begangen hatten, befanden sich auch zwei 14-Jährige.
Trotz derartig schwerer Gewalttaten erwiesen sich die ein- mal registrierten Täter (Gruppe A) im Marburger-Symp- tom-Rating als weniger auffällig als jene, die mehrfach re- gistriert worden waren (Gruppen B und C). Dies bezog sich in der Tendenz auf die Symptome dissoziales Verhal- ten, Aggressivität, mangelnde Leistungshaltung und hy- peraktive Symptome.
Die passageren Gewalttäter (Desisters, Gruppe B) un- terschieden sich im Marburger-Symptom-Rating nicht von den chronischen Gewalttätern (Persisters, Gruppe C), mit Ausnahme der Angstsymptomatik, die bei letzteren signifikant niedriger eingeschätzt wurde. Im Hinblick auf die Intelligenz ergab sich kein signifikanter Unterschied zwischen den drei Gruppen.
Tabelle 4 zeigt den Ergebnisvergleich der 3 Delin- quenzbelastungsgruppen im Marburger-Symptom-Rating.
An dieser Stelle sei daran erinnert, dass die Einschätzun- gen im Marburger-Symptom-Rating im Rahmen der Gut- achtenerstellung, also im Durchschnitt 12,8 Jahre vor der Bildung der Delinquenz-Belastungsgruppen, erfolgte. Als besondere Gruppe unter den chronischen Straftätern wur- de die Gruppe der Mehrfachintensivtäter (n = 13) gebil- det, die – unabhängig vom Zeitpunkt – mehr als 30 Straf- taten und/oder mehr als 10 Einträge im Bundeszentralre- gister aufwiesen. Diese Definition stützt sich auf ähnliche Vorgehensweisen in der Literatur, eine allgemein akzep- tierte Definition dieses Personenkreises existiert bislang nicht (9).
KASTEN 2
Angewandte Untersuchungsmethoden und statistische Verfahren
●
Erhebung einer standardisierten Anamnese mit den Probanden und ihren Eltern oder Bezugspersonen: Untersuchungsanlass, Familien- anamnese, Eigenanamnese, aktuelle Situation, Sicherungsfragen zur körperlichen Gesundheit●
jugendpsychiatrische Exploration und Diagnose nach dem multiaxia- len Klassifikationsschema (Remschmidt et al. 2012 [4] und Vorläufer- auflagen) unter Anwendung der ICD-10-Forschungskriterien (5); Um- kodierung der vor 1991 gestellten ICD-9-Diagnosen nach den ICD-10-Kriterien●
Exploration zur Tat, zum Tatumfeld, zur Motivation und zur Täter-Opfer- Beziehung: Vorgeschichte der Tat, detaillierte Erfassung des Tather- gangs und der Tatmotivation, Nachtatverhalten, Stellungnahme zur Tat●
psychologische Untersuchung unter Anwendung verschiedener Test- verfahren: in allen Fällen Intelligenztests (Wechsler-Skalen, CPM, CFT-20), Leistungstests und Persönlichkeitstests (FPI, MMPI, HSPQ) und, wenn indiziert, Spezialverfahren●
standardisierte Basisdokumentation der Marburger Klinik: demografi- sche Daten, Symptomatik, neurologischer Befund, Diagnosen nach dem MAS, vorgeschlagene Maßnahmen●
Anwendung einer Vorversion des Marburger-Symptom-Ratings (gut anwendbares und validiertes Instrument zur Feststellung psychopa- thologischer Auffälligkeiten) (6)●
Familienbelastungsindex nach (7), der aus mehreren soziodemografi- schen und klinischen Daten einen Summenscore zu bilden erlaubt●
Legal-Prognose-Test von (8) zur Abschätzung der Verlaufsprognose●
strukturierte Auswertung der Urteile aller Probanden: zeitliche Per- spektiven (z. B. Zeitdauer zwischen Tat und Verhandlung, Überein- stimmung von Gutachtenergebnis und Urteil, Art und Umfang der verhängten Strafe, etwaige therapeutische Interventionen).●
Analyse der Daten aus dem Bundeszentralregister und der Erzie- hungskartei, die bis zum 02. 02. 2009 von allen Probanden zur Ver- fügung standen●
statistische Verfahren: Neben deskriptiven Darstellungen – Mittelwer- te und Standardabweichungen im Fall von metrischen Variablen, Prozentangaben im Fall von nominalskalierten Variablen – kamen folgende statistische Verfahren zum Einsatz: Zum Vergleich dichoto- mer Merkmale, wie Vorliegen eines Symptomes, zwischen zwei Gruppen wurden Chi-Quadrat-Tests verwendet. Zum Vergleich der Mittelwerte metrischer Variablen, wie IQ und Alter wurden t-Tests verwendet. Zur Untersuchung der prognostischen Qualität des LDJ wurden ROC-Kurven angewandt (eSupplement). Um zusätzlich die zeitliche Dimension einer eventuellen Rückfälligkeit miteinzubezie- hen, wurden Kaplan-Meier-Kurven dargestellt und der Logrank-Test berechnet.TABELLE 1
Straftaten der 114 Täter (n = 103) und Täterinnen (n = 11) Deliktart
Mord versuchter Mord Totschlag versuchter Totschlag Körperverletzung mit Todesfolge gefährliche Körperverletzung Raub mit Todesfolge Körperverletzung
Gesamtstichprobe Häufigkeit n
42 12 13 14 5 20
2 6 114
Prozent 36,8 10,5 11,4 12,3 4,4 17,5
1,8 5,3 100,0
davon weiblich n
2 1 2 1 1 2
– 2 11
Prozent 18,1 9,1 18,2 9,1 9,1 18,2
− 18,2 100,0
Die Gruppe der Mehrfachintensivtäter war in ver- schiedenster Hinsicht die auffälligste Gruppe aller Ge- walttäter: 9 von 13 Personen hatten ein Tötungsdelikt begangen, davon 6 einen Mord. Sie unterschieden sich im Summenscore des Marburger-Symptom-Ratings (Anova) signifikant von einmal registrierten Tätern (Gruppe A, t-Test, p < 0,03) und im Summenscore des Legalprognosetests (LDJ) von einmal registrierten Ge- walttätern (Gruppe A, t-Test, p < 0,001); im Vergleich zu passageren Tätern (Desisters, Gruppe B, t-Test, p = 0,06) ergab sich ein Trend. Der Unterschied be- stand stets im Sinne einer höheren Auffälligkeit der Mehrfachintersivtäter. Zwei Fallbeispiele sind im Kas- ten 1 wiedergegeben (Fall 28: Tötungsdelikt eines Ju- gendlichen an einem Homosexuellen; Fall 114: Ge- meinschaftlicher Mord an einer Rentnerin).
Von den weiteren täterbezogenen Subgruppen wer- den hier nur die Gruppentäter (n = 30) erwähnt, bei de- nen es aufgrund gruppendynamischer Prozesse zu einer höheren Todesrate kam als bei Einzeltätern. Gruppen- dynamische Prozesse sind in der hier betrachteten Al- tersgruppe von hoher kriminogener Bedeutung.
Ein prototypischer Fall hierfür ereignete sich im Jah- re 2002, als drei US-amerikanische Schüler (15, 17 und 18 Jahre alt) in der Dunkelheit von einer Autobahnbrü- cke Steine auf heranfahrende Kraftfahrzeuge warfen, wobei zwei Frauen zu Tode kamen. Die drei psychisch unauffälligen, intelligenten und voll schuldfähigen Tä- ter hatten im Rahmen sich steigernder gruppendynami- scher Prozesse mit „Mutprobencharakter“ die Gefähr- lichkeit ihrer Handlungen weitgehend ausgeblendet und waren am Ende, ebenso wie ihre Eltern und die gesamte Öffentlichkeit (der Fall fand in der Presse ein breites Echo) erschüttert über ihr Tun. Sie wurden wegen Mordes in zwei Fällen zu Jugendstrafen von 7 Jahren, 8 Jahren und 8 ½ Jahren verurteilt und nach Verbüßen von zwei Dritteln der Haftzeit in den USA entlassen. Es ist nicht bekannt, ob sie weitere Straftaten begangen haben.
20 (17,5 %) der Gesamtstichprobe der Gewalttäter wurden aufgrund ihrer Störung in ein psychiatrisches Krankenhaus oder in eine Entziehungsklinik (n = 3,5 %) eingewiesen. 37 Täter und Täterinnen (32,5 %) begin- gen ihre Gewalttat unter erheblichem Alkohol- und/oder Drogeneinfluss. In 22 Fällen (19,3 %) war das Opfer ein Familienmitglied, wobei es in 14 dieser Fälle zur Tötung kam, darunter in einem Fall zur Tötung beider Eltern und der Schwester des Täters, in einem weiteren Fall zur Tötung beider Eltern durch Auftragsmörder.
Die mittlere Anzahl der Straftaten betrug 10,5 ± 12,6, das Maximum lag bei 72, die mittlere An- zahl der Registrierungen im Bundeszentralregister be- lief sich auf 4,3 ± 4,2 Einträge, das Maximum lag bei 22 Einträgen.
Die Intelligenz in der Gesamtstichprobe (IQ-Mittel- wert: 101 ± 17) entsprach einer Normalverteilung und erstreckte sich über ein Spektrum von Intelligenzquo- tienten zwischen 50 bis 143; 5 Gewalttäter (4,4 %) wie- sen einen IQ zwischen 50 und 69 auf, 6 (5,3 %) einen IQ von über 130.
Ergebnisse zu Verlauf und Prognose
Wie bereits dargelegt und aus Grafik 2 ersichtlich, wurden 44 (38,6 %) Probanden als chronische Straftäter nach der Indextat im Beobachtungszeitraum von 12,8 Jahren mit weiteren Straftaten rückfällig. Die Hälfte von ihnen be- ging erneut Gewalttaten, die andere Hälfte eine Vielzahl anderer Straftaten, unter denen Eigentumsdelikte, Ver- kehrsdelikte und Verstöße gegen das Betäubungsmittelge- setz eine führende Rolle spielten. Die Rückfallrate bezo- gen auf Gewaltdelikte betrug folglich 19,3 %. Mit einem Tötungsdelikt wurde keiner der chronischen Straftäter rückfällig.
TABELLE 2
Soziodemografische Daten der 114 Straftäter und Straftäterinnen Nationalität
Deutsch
Deutsch mit Migrationshintergrund ausländisch
gesamt
Zugehörigkeit zur sozialen Schicht nach Maßgabe der beruflichen Tätigkeit des Familienernährers
ungelernter Arbeiter Facharbeiter, Meister
höherer Angestellter, leitender Angestellter, kleine Selbstständige, Selbstständige mit kleineren Betrieben
Selbstständige mit großen Betrieben und Akademiker unbekannt
gesamt
Beziehungsstatus der Eltern/Bezugspersonen
leben zusammen
getrennt/geschieden oder durch Tod getrennt haben nie zusammengelebt
unbekannt gesamt
Schulbildung der 114 Straftäter und Straftäterinnen
kein Schulabschluss (nach beendeter Schulpflicht) Hauptschule
Realschule Abitur
noch kein Abschluss (bei noch bestehender Schulpflicht bzw. noch andauerndem Schulbesuch)
unbekannt gesamt
Häufigkeit n 80 12 22 114
Häufigkeit n 25 57 16
5 11 114
Häufigkeit n 55 49 5 5 114
Häufigkeit n 36 39 6 4 25
4 114
% 70,2 10,5 19,3 100
% 21,9 50,0 14,0
4,4 9,7 100,0
% 48,2 43,0 4,4 4,4 100,0
% 31,6 34,2 5,3 3,5 21,9 3,5 100,0
Zur Abschätzung der zeitlichen Dimension der Rück- fälligkeit wurde zum Zeitpunkt der Begutachtung der Legalprognosetest für dissoziale Jugendliche (LDJ) von Hartmann und Eberhard (8) vergewendet, der 11 Items umfasst. Dieser 1972 publizierte Test wurde aus Gründen der Einheitlichkeit der Untersuchungsinstrumente ein - gesetzt, da die vorliegende Studie Begutachtungen über einen Zeitraum von 31 Jahren umfasst und neuere Prognose instrumente erst in den 1990er Jahren zur Verfü- gung standen. Anhand von ROC-Analysen konnte gezeigt werden, dass der LDJ einen Beitrag – wenn auch nur ei- nen schwachen – zur Prognose der Rückfälligkeit mit Ge- walttaten leistet. Einzelheiten finden sich im eSupplement.
Diskussion
Was die soziodemografischen Daten betrifft, zeigen diese ein für jugendliche und heranwachsende Straftäter typi- sches Bild. Allerdings war keineswegs eine starke Überre- präsentation der unteren sozialen Schichten festzustellen.
Nicht bestätigt werden konnte der in der Literatur mehr- fach beschriebene Zusammenhang zwischen leichter In- telligenzminderung und Delinquenz (10, 11), der sogar für die unregistrierte Delinquenz (Dunkelfeld) nachgewiesen wurde (12). Die Verteilung der Intelligenzquotienten in der eigenen Stichprobe entsprach einer Normalverteilung.
Kontinuität delinquenten Verhaltens war bei den 44 (38,6 %) chronischen Straftätern zu konstatieren, von de- nen die Hälfte durch Gewalttaten, die andere Hälfte durch Nicht-Gewalttaten weiterhin in Erscheinung trat. Diese Ergebnisse entsprechen nahezu exakt den Ergebnissen an einer ähnlichen Stichprobe von Günter et al. (13, 14), die nach einem längeren Katamneseintervall Rückfallraten von 38 % für alle Straftaten und von 20 % für Gewalttaten ermittelten. Die übrigen 70 Probandinnen und Probanden verübten laut Auskunft aus dem Bundeszentralregister im Behandlungszeitraum keine weiteren Delikte.
In der Kinderdelinquenzstudie, in der eine repräsentati- ve Stichprobe (n = 210) strafunmündiger Kinder über ei- nen Zeitraum von rund 30 Jahren verfolgt werden konnte, betrug die Anzahl der chronischen Straftäter 68 (32,4 %), die Anzahl der Gewalttäter, bezogen auf die Gesamtstich- probe 33 (15,7 %), bezogen auf die Gruppe der chroni- schen Straftäter 24 (35,3 %) (15, 16).
Der hohe Anteil an psychiatrischen Diagnosen bei unseren Probanden stimmt mit vergleichbaren Studien überein, die für die Inhaftierten in Jugendstrafanstalten in 90 % der Fälle zu einer psychiatrischen Diagnose kamen (17, 18).
TABELLE 3
Psychiatrische ICD-10-Diagnosen der 114 Straftäter (n = 103) und Straftäterinnen (n = 11)
keine
Störung durch Einnahme psychotroper Substanzen (F1) Schizophrenie und wahnhafte Störungen (F2) affektive Störungen (F3)
neurotische Störungen (F4)
Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (F6) hyperkinetisches Syndrom (F90)
Störung des Sozialverhaltens (F91) gesamt
Häufigkeit n 18 6 8 1 1 47 2 31 114
% 15,8 5,3 7,0 0,9 0,9 41,2 1,8 27,2 100,0
TABELLE 4
Vergleich psychischer Auffälligkeiten (im Marburger-Symptom-Rating) der drei Delinquenzbelastungsgruppen
*für einen Probanden lag das Marburger-Symptom-Rating nicht vor
Exakter Test nach Fisher, df = 2, (2-seitig), gesamte Stichprobe (N = 112)
dissoziales Verhalten Aggressivität Angst
mangelnde Leistungshaltung Hyperaktivität
Post-hoc-Vergleiche dissoziales Verhalten
Aggressivität Angst
mangelnde Leistungshaltung Hyperaktivität
Gruppe A Eine Registrierung
n = 33* (29,5 %) 20 (60,6 %) 25 (75,8 %) 14 (42,4 %) 11 (33,3 %) 1 (3,0 %)
Gruppe B Passagere Täter/
Desisters n = 35* (31,3 %)
32 (91,4 %) 33 (94,3 %) 17 (48,6 %) 30 (85,7 %) 6 (17,1 %)
Gruppe C Chronische Täter/
Persisters n = 44 (39,3 %)
39 (88,6 %) 43 (97,7 %) 10 (22,7 %) 36 (81,8 %) 14 (31,8 %)
A–B: p = 0,004 A–B: p = 0,042 A–B: p = 0,635 A–B: p = 0,0005 A–B: p = 0,107
gesamt
91 (81,3 %) 101 (90,2 %) 41 (36,6 %) 77 (68,8 %) 21 (18,8 %)
A–C: p = 0,006 A–C: p = 0,004 A–C: p = 0,084 A–C: p = 0,0005 A–C: p = 0,001
Chi-Quadrat
P = 0,002 P = 0,005 P = 0,042 P = 0,000 P = 0,004
B–C: p = 1 B–C: p = 0,581 B–C: p = 0,019 B–C: p = 0,764 B–C: p = 0,194
Limitationen
Auch wenn die Probandengruppe der vorliegenden Studie nicht als repräsentativ angesehen werden kann (eine derartige Stichprobe existiert allerdings nirgends) wird man bei einer Stichprobe dieser Größenordnung davon ausgehen können, dass die häufigsten Tat- konstellationen der Altersgruppe, um die es hier geht, enthalten sind.
Daraus kann man eine gewisse Verallgemeinbarkeit der Ergebnisse ableiten. Kritisch angemerkt werden kann, dass in dem langen Zeit- raum (auf den sich die Untersuchung bezieht) auch manche Testver- fahren (zum Beispiel Intelligenztests) weiterentwickelt worden sind.
Auch im Hinblick auf die psychiatrische Diagnostik hat sich inso- fern eine Veränderung ergeben, als der Übergang der ICD-9 zur ICD-10 im Jahr 1991 erfolgte. Daraus resultierte die notwendige Umkodierung der ICD-9- in die ICD-10-Diagnosen. Hinzu kommt, dass Registerdaten naturgemäß keine Auskunft über unentdeckte Straftaten geben können. Diese Limitationen mussten in Kauf ge- nommen werden. Die Autoren sind allerdings der Meinung, dass die grundlegenden Aussagen der Studie dadurch nicht gelitten haben.
Den methodenkritischen Gesichtspunkten stehen allerdings eine Reihe von Vorteilen gegenüber: persönliche Kenntnis aller Proban- den und meist auch deren Eltern oder Bezugspersonen und Anwen- dung einer über den gesamten Zeitraum nicht veränderten Untersu- chungsmethodik.
4. Remschmidt H, Schmidt M, Poustka F (eds.): Multiaxiales Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 der WHO, 6th edition. Bern: Huber 2012.
5. Dilling H, Mumbour W, Schmidt MH, Schulte-Markwort E (eds.): Internationale Klassi- fikation psychischer Störungen nach ICD-10, Forschungskriterien. Bern: Huber 1994.
6. Mattejat F, Remschmidt H: Marburger Symptom Rating (MSR). Standardisiertes Elterninterview zur Erfassung psychopathologischer Auffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen. Bern: Huber 2010.
7. Rutter M, Quinton D: Psychiatric disorder: ecological factors and concepts of causation. In: McGurk M (ed.): Ecological factors in Human Development.
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12. Moffitt TE, Caspi A, Silva PA, Stouthamer-Loeber M: Individual differences in personality and intelligence are linked to crime. Cross-context evidence from nations, neighborhood, genders, races, and age-cohorts. In: Smith Blau Z (eds.): Current perspectives on aging and the life cycle. Delinquency and disrepute in the life course. Greenwich: JAI Press Inc. 1995; 4: 1–34.
13. Günter M, Eistetter S, Kern D: Jugendliche und heranwachsende Tötungsdelinquen- te. Charakteristika aus der psychiatrischen Begutachtung und späteres Rezidivrisiko.
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14. Günter M, Eistetter S, Kern D: Jugendliche und heranwachsende Tötungsdelin- quente. Charakteristika aus der psychiatrischen Begutachtung und späteres Rezidivrisiko. Forens Psychiatrie Psychother 2009; 2: 52–69.
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Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Dr. phil. Helmut Remschmidt
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Psychosomatik und Psychotherapie der Philipps-Universität, Schützenstraße 49, 35039 Marburg
remschm@med.uni-marburg.de
Zitierweise
Remschmidt H, Martin M, Niebergall G, Heinzel-Gutenbrunner M:
Violent crime perpetrated by young people—results of a 13-year longitudinal study of offenders on probation Dtsch Arztebl Int 2014; 111: 685–91.
DOI: 10.3238/arztebl.2014.0685
@
Mit „e“ gekennzeichnete Literatur:www.aerzteblatt.de/lit4114 oder über QR-Code eSupplement, eGrafiken, eKästen:
www.aerzteblatt.de/14m0685 oder über QR-Code The English version of this article is available online:
www.aerzteblatt-international.de KERNAUSSAGEN
●
Tötungsdelikte junger Menschen (Jugendlicher und Heranwachsen- der) haben in den letzten beiden Jahrzehnten nicht zugenommen.Bei Körperverletzungsdelikten zeigt sich ein leichter Abwärtstrend.
●
An der Verursachung von Tötungs- und Gewaltdelikten sind biolo- gische Faktoren, psychologische Faktoren und auch situative Ein- flüsse beteiligt.●
Die Verlaufsuntersuchungen zur Legalentwicklung konnte zeigen, dass der überwiegende Teil der Tötungs- und Gewaltdelinquenten nach der Indextat keine weiteren Straftaten begeht, dass sich aber 38,6 % zu chronischen Straftätern entwickeln, unter denen der harte Kern der Mehrfachintensivtäter (in dieser Studie 11,4 %) auch weiterhin ein nicht geringes Gefahrenpotenzial darstellt.Danksagung
Die Autoren danken der Leitung des Bundesamtes für Justiz für die Erlaubnis, die Daten aus dem Bundeszentralregister und der Erziehungskartei in ihre Auswertungen einzubeziehen.
Interessenkonflikt
Prof. Remschmidt erhielt Honorare für Gerichtsgutachten zu Probanden der Studie.
PD Dr. Martin wurde honoriert für forensische Gutachtertätigkeit für Gerichte.
Dr. Niebergall bekam Honorare für forensische Gutachten für Gerichte.
Dr. Heinzel-Gutenbrunner erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Manuskriptdaten
eingereicht: 28. 8. 2012, revidierte Fassung angenommen: 24. 7. 2014
LITERATUR
1. Bundeskriminalamt (eds.): Bundeskriminalstatistik. Wiesbaden: undeskriminalamt 2013.
2. Statistisches Bundesamt (eds.): Verurteiltenstatistik. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt 2013.
3. Remschmidt H: Tötungs- und Gewaltdelikte junger Menschen. Ursachen, Begutach- tung und Prognose. Heidelberg: Springer 2012.
eSUPPLEMENT
Tötungs- und Gewaltdelikte junger Menschen
Ergebnisse einer Verlaufsstudie zur Legalbewährung über nahezu 13 Jahre
Helmut Remschmidt, Matthias Martin, Gerhard Niebergall, Monika Heinzel-Gutenbrunner
D
er Legalprognosetest von Eberhard und Hart- mann (LDJ, 1972) umfasst 11 Items, die in Kenntnis der jeweiligen Probanden leicht einzuschät- zen sind. Es handelt sich um folgende operationalisierte Items:●
Hilfsschulabschluss (Sonderschulabschluss)●
Weglaufen●
Arbeitsunbeständigkeit●
Alkoholmissbrauch●
Tätowierungen●
schlechter Umgang●
Aggressionen gegen Personen oder Sachen●
verhandelte Verkehrsdelikte●
verhandelte andere Delikte●
nicht verhandelte aber aktenkundige Delikte●
mehr als drei Delikte.Aus heutiger Sicht würde man das Merkmal „Täto- wierungen“ nicht mehr als prognostisches Item be- trachten. In den 1970er Jahren hatte es aber offensicht- lich diesbezüglich eine gewisse Wertigkeit.
Mit Hilfe von ROC-Analysen konnte gezeigt wer- den, dass der LDJ einen Beitrag zur Prognose einer Rückfälligkeit mit leichter Gewalttat liefert. Es ergab sich eine „Area Under Curve“ (AUC) von 0,755 (p = 0,002), und somit eine akzeptable Diskriminati- on.
Anhand von Kaplan-Meier-Kurven und des Log- rank-Tests konnte ferner gezeigt werden, dass im LDJ niedrig belastete Probanden später rückfällig wurden als hoch belastete Probanden. Dies gilt hauptsächlich für Rückfälligkeit mit irgendeiner Straftat: (p = 0,016), Rückfälligkeit mit leichter Gewalttat (p = 0,045) und Rückfalligkeit Gewaltat (p = 0,004).
Um das Potenzial des LDJ, einen Rückfall vorherzu- sagen, zu untersuchen, wurden zunächst ROC-Analy- sen durchgeführt, wobei bezüglich der Rückfälligkeit vier Kategorien unterschieden wurden:
●
Rückfälligkeit mit irgendeiner Straftat (irgendeine nächste Tat)●
Rückfälligkeit ohne Gewalttat●
Rückfälligkeit mit der nächsten leichten Gewalt- tat (Körperverletzung, vorsätzliche Körperverlet- zung, fahrlässige Körperverletzung)●
Rückfälligkeit mit der nächsten schweren Gewalt- tat (gefährliche Körperverletzung, schwere Kör- perverletzung, Raub, Freiheitsberaubung, Tot- schlag und Mord sowie entsprechende Versuche).Eine ROC-Kurve ergibt sich dadurch, dass man für jeden möglichen Cutoff-Punkt auf der X-Achse eines Koordinatensystems 100 minus Spezifität und auf der Y-Achse die Sensitivität in Prozent abträgt und diese Punkte verbindet.
Je größer die Fläche unter dieser Kurve ist, die „Area Under Curve“ (AUC), desto mehr deutet es darauf hin, dass mit Hilfe des LDJ eine Rückfälligkeit vorausge- sagt werden kann. Im besten Fall kann der Wert 1 er- reicht werden. Dagegen bedeutet eine AUC von 0,5, dass der LDJ keinen Beitrag für die Voraussage von Rückfälligkeit leistet.
In eGrafik 1 ist die ROC-Kurve für eine Rückfällig- keit mit leichter Gewalttat dargestellt.
eGRAFIK 1
ROC-Kurve: LDJ als Prädiktor für Rückfälligkeit mit leichter Gewalttat. LDJ, Legalprognosetest LDJ
Sensitivität
100 minus Spezifität 100
80
60
40
20
0
0 20 40 60 80 100
Insgesamt ergaben sich folgend Ergebnisse:
●
Rückfälligkeit mit irgendeiner Straftat – AUC = 0,656 (p = 0,005)●
Rückfälligkeit mit leichter Gewalttat – AUC = 0,755 (p = 0,002 )●
Rückfälligkeit mit schwerer Gewalttat – AUC = 0,642 (p = 0,057)●
Rückfälligkeit ohne Gewalttat – AUC = 0,666 (p = 0,005).Hosmer und Lemeshow (2000) (e1) geben eine Faustregel für die Interpretation von AUC-Werten an:
AUC = 0,5: keine Diskrimination; 0,7 ≤ AUC < 0,8 akzeptable Diskrimination; 0,8 ≤ AUC < 0,9 exzellente Diskrimination; AUC ≥ 0,9 außerordentliche Diskrimi- nation.
Demnach wird nur im Fall der Rückfälligkeit mit leichter Gewalttat eine akzeptable Diskrimination er- reicht.
Als nächstes wurde mit Hilfe von Ereignisdatenana- lyse untersucht, ob Probanden mit hohem Punktwert eher rückfällig werden als Probenden mit niedrigem Punktwert, siehe (e2).
Dafür wurde eine dichotome Einteilung nach Maß- gabe der Punktwerte im LDJ vorgenommen. Es wurden zwei Gruppen gebildet: im LDJ niedrig belastete Pro- banden (Punktwerte 1–4; n = 78) und im LDJ hoch be- lastete Probanden (Punktwerte 5–11; n = 36). Da die Autoren der vorliegenden Studie über Angaben zur De- linquenzbelastung der eigenen Probanden bis zum 02. 02. 2009 verfügten, war es möglich, im Hinblick auf die Rückfallprognose Kaplan-Meier-Kurven zu be- rechnen, wobei bezüglich der Rückfälligkeit wieder die oben genannten vier Kategorien unterschieden wurden.
Die Kaplan-Meier-Kurven dienen einem deskripti- ven Vergleich der rückfallfreien Zeit in den beiden Pro- bandengruppen. Für die Rückfällig mit irgendeiner Straftat sind die beiden Kaplan-Meier-Kurven in der folgenden eGrafik 2 dargestellt. Es ist zu erkennen, dass in der Gruppe der Probanden mit hohem Punkt- wert eine Rückfälligkeit eher auftritt bei als Probenden mit niedrigem Punktwert, der Anteil der Nicht-Rückfäl- ligen nimmt schneller ab (eGrafik 2). Während die Ka- plan-Meier-Kurven nur einen optischen Eindruck lie- fern, kann mit Hilfe eines geeigneten Signifikanztests,
des Log-rank-Tests, geprüft werden, ob die Unterschie- de zwischen den Gruppen signifikant werden. Dabei wird nicht die Wahrscheinlichkeit einer Rückfälligkeit generell verglichen, sondern die Kurven im gesamten Beobachtungszeitraum.
Der Log-rank-Test ergab folgende p-Werte:
●
Rückfälligkeit mit irgendeiner Straftat: p = 0,016●
Rückfälligkeit mit leichter Gewalttat: p = 0,045●
Rückfälligkeit mit schwerer Gewalttat: p = 0,226●
Rückfälligkeit ohne Gewalttat: p = 0,004.eGRAFIK 2
Zeitlicher Verlauf der Rückfälligkeit bezüglich der nächsten Straftat der im LDJ hoch und niedrig belasteten Straftäter. LDJ, Legalprognosetest
Straffreiheit kumulativ
1,0
0,8
0,6
0,4
0,2
0,0
0 100 200 300 400
Niedrig (n = 78)
Hoch (n = 36)
Monate
ORIGINALARBEIT
Tötungs- und Gewaltdelikte junger Menschen
Ergebnisse einer Verlaufsstudie zur Legalbewährung über nahezu 13 Jahre
Helmut Remschmidt, Matthias Martin, Gerhard Niebergall, Monika Heinzel-Gutenbrunner
eLITERATUR
e1. Hosmer DW, Lemeshow S: Applied Logistic Regression (2nd edition). New York: Wiley 2000.
e2. Zwiener I, Blettner M, Hommel G: Survival analysis—
part 15 of a series on evaluation of scientific publications.
Dtsch Arztebl Int 2011; 108: 163–9.
eKASTEN
Einflussfaktoren auf die Genese von Gewalthandlungen
1. Neurobiologische Risikofaktoren und Erklärungsansätze für gewalttätiges Verhalten – männliches Geschlecht und Lebensalter
– angeborene Auffälligkeiten der vegetativen Reaktionen – prä- und perinatale Risikofaktoren
– geringfügige körperliche Anomalien – neuroendokrinologische Auffälligkeiten – reifungsbedingte Risikofaktoren
– strukturelle und funktionelle Beeinträchtigungen der Hirnfunktion – psychische Störungen und Entwicklungsstörungen
– genetische Einflüsse
2. Psychosoziale und soziale Einflussfaktoren und Erklärungsansätze für gewalttätiges Verhalten – Intelligenzminderung
– Schulversagen und Schulabbruch – umschriebene Entwicklungsstörungen – Defizite der moralisch-ethischen Entwicklung – neuropsychologische Auffälligkeiten – psychische Störungen
– Persönlichkeitsmerkmale – ungünstige familiäre Einflüsse – ungünstige Umfeldbedingungen – Einfluss der Medien
3. Situative Einflüsse auf die Manifestation gewalttätigen Verhaltens – affektiv aufgeladene und provokative Situationen
– Alkohol- und Drogenkonsum
– Waffenzugang und Waffenbesitz (Messer, Schlagstock, Schusswaffen) – Gruppendruck und Gruppendynamik
– Tatgelegenheit
– ideologische und politische Einstellungen gewaltbereiter Täter
Für alle in diesem Kasten angeführten Einflussfaktoren ist in der Literatur belegt, dass sie an der Verursachung oder Auslösung gewalttätigen Verhaltens be- teiligt sind, ohne dass der Beitrag der einzelnen Faktoren wegen sehr unterschiedlicher Wechselwirkungen quantitativ festlegbar ist. Eine ausführliche Dar- stellung findet sich bei (2).