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P 93-001 Transformationsprozeß Ostdeutschlands - empirische Wahrnehmungen und theoretische Erklärungen Rolf Reißig

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Academic year: 2022

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P 93-001

Transformationsprozeß Ostdeutschlands - empirische Wahrnehmungen und

theoretische Erklärungen Rolf Reißig

Juni 93

Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung Reichpietschufer 50, D -10785 Berlin

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Inhaltsübersicht

Zusammenfassung

1. Transformation - eine Begriffsbestimmung

2. Systemtransformation in neuer Dimension und das Problem theoretischer Erklärungsansätze

3. Zur Frage des Transformationstyps

4. Ostdeutscher Transformations- und deutscher Integrationsprozeß - Sonderfall und

"Modellcharakter"

5. Transformationsdynamik und Transformationsstrategien 6. Transformationsverlauf - einige Bilanzen

7. Transformationsfolgen und -Szenarien

8. Neufassung der Transformationspolitik - von Modifikationen zu Kurs- und Zielkorrekturen?

Anmerkungen

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Zusammenfassung

Systemtransformation wird als ein spezifischer Typ sozialen Wandels verstan­

den, der insbesondere durch eine Intentionalität von gesellschaftlichen Akteu­

ren, durch einen Prozeß bewußter Änderung wesentlicher Ordnungsstrukturen, -muster gekennzeichnet ist.

Die Umbruch- und Transformationsprozesse realsozialistischer Gesellschaften sind trotz inhaltlicher Parallelen zu früheren Formen des Systemwechsels weitgehend ohne historisches Vorbild und praktisches Beispiel. In den Sozial­

wissenschaften finden sich drei Positionen theoretischer Annäherung an die heutigen T ransformationsprozesse.

Der ostdeutsche Transformations- und deutsche Integrationsprozeß ist ein Son­

derfall, der zugleich jedoch zum Prüffeld allgemeiner Art wird. Der Transformations verlauf wird in der vorliegenden Studie anhand ausgewählter Kriterien partiell analysiert. Mit der Einführung der Marktwirtschaft, der Rechtsstaatlichkeit, der Parteienkonkurrenz ist in Ostdeutschland die Trans­

formation schneller und weiter vorangeschritten als in den mittel-osteuropäi­

schen Staaten - und sie ist irreversibel. Dennoch überlagern heute die Konfliktpotentiale die Aufschwungtendenzen, die Blockierungen die Modernisierungen, die subjektiven Resignationen die allgemeine Le­

benszufriedenheit.

Verschiedene Szenarien des weiteren Transformations- und Integra­

tionsverlaufs sind denkbar. Als realistisches Szenarium wird mittelfristig eine

"partielle" und "fragmentierte" Transformation und Integration beschrieben.

Angesichts der zugespitzten sozio-ökonomischen Problemlagen, einer unreali­

stischen Einheitsprojektion setzte eine Diskussion um Kurs- und Zielkorrektu­

ren der offiziellen Transformationspolitik ein (u. a. Modelle getrennter Entwicklung i n Deutschland; Interaktionskonzepte...). Eine Neufassung der grundlegenden Transformations- und Integrationsgrammatik ist nicht zu er­

warten, wohl aber weitere Diskurse und Aktivitäten verschiedener Akteure um ihre Ausformung und konkrete Veränderung.

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1. Transformation - eine Begriffsbestimmung

Das Wort "Transformation" wird mehrheitlich heute als Sammelbegriff für die Charakterisierung der vielfältigen Umbruch- und Wandlungsprozesse in den ehemals realsozialistischen Ländern Mittel-Osteuropas, einschließlich der DDR, verwendet. Weithin geschieht die Begriffsverwendung unreflektiert (in einschlägigen Wörterbüchern ist der Begriff nicht enthalten). Als Leitbegriff für inhaltliche Analysen der Wandlungsprozesse ist der Begriff Transformation aber nur tauglich, wenn er eine inhaltliche Präzisierung erfährt.1

An systemtheoretische Überlegungen anknüpfend, können Transformationen als ein spezifischer Typ sozialen Wandels interpretiert werden. Trans­

formationen sind vor allem gekennzeichnet durch eine Intentionalität von gesellschaftlichen Akteuren, durch einen Prozeß bewußter Änderung we­

sentlicher Ordnungsstrukturen, -muster und durch einen über verschiedene Medien gesteuerten Umwandlungsprozeß. Transformationen sind m. E. ein eigendynamischer und gesteuerter Prozeß, deren Relationen sich im Trans­

formationsverlauf verändern. Damit sind diese Transformationsprozesse von den anderen Formen des Systemwandels und evolutionären Innovationen (z. B.

innerhalb moderner westlicher Gesellschaften) unterschieden.

Es ist zwischen der Makro-, Meso- und Mikroebene von Transformation zu differenzieren, auch um analytisch die Raum-Zeit-Dimension genauer erfassen zu können.

Mit der Bindung des Begriffs Transformation an intentionales Handeln und an bewußte Änderung der Ordnungsstrukturen kann ein Spektrum von systemati­

schen Fragen gewonnen werden, die für die Analyse dieser Umbruchprozesse wie für vergleichende Untersuchungen hilfreich sein können. Sie gruppieren sich um die für eine Transformationsanalyse entscheidenden Komplexe der Akteure, der Ziele, der Kontexte, der Zeitabläufe, des Endes von Transforma­

tionsprozessen.

2. Systemtransformation in neuer Dimension und das Problem theoretischer Erklärungsansätze

Systemwandel und Transformationen von Gesellschaften, auch sehr unter­

schiedlichen Typs, sind historisch keine neue Erscheinung. In der soziologi­

schen und politikwissenschaftlichen Literatur (sozialer Wandel, Demokratie­

forschung) wurden unter diesem Aspekt bislang vor allem drei "Fallgruppen"

herangezogen: Die Entwicklung in Westdeutschland, Italien, Japan nach 1945;

in Spanien, Portugal und Griechenland während der siebziger Jahre sowie im

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Lateinamerika der achtziger Jahre. Stets handelte es sich hier um Übergangs­

prozesse von Diktaturen verschiedenen Typs zu Demokratien unterschiedlicher Prägung.

Der Ende der achtziger Jahre einsetzende Systemwandel (auf der Makroebene auch als Systemwechsel vollzogen) mit den nachfolgenden Transitions- und Transformationsprozessen in der Sowjetunion, den Ländern Mittel-Osteuropas sowie der DDR wird dazu des öfteren - gleichsam als vierte Fallgruppe - in Bezug gesetzt. So werden die heutigen Transformationsprozesse in Ost­

deutschland z. B. nach Tiefe, Tempo, Richtung mit jenen in Westdeutschland nach 1945 und in manchem auch mit denen in Spanien und Portugal nach 1974/75 verglichen.2 Dafür sprechen wesentliche inhaltliche Parallelen - insbe­

sondere der Übergang von autoritär oder totalitär verfaßten zu bürgerlich-de­

mokratischen Gesellschaften. Eine entsprechende vergleichende Analyse wird in der heutigen Transformations-Forschung deshalb unumgänglich. Anderer­

seits sind m. E. die heutigen Umbruch- und Transformationsprozesse in Ruß­

land, in Mittel-Osteuropa, in Ostdeutschland nach Ort, Zeit, Dimension, Inter­

dependenz und Entwicklungsperspektive in der jüngeren Geschichte ohne Vor­

bild und praktisches Beispiel. Denn hier handelt es sich - auf der Makroebene - um den Versuch des Übergangs spezifischer realsozialistischer Systeme zu Konkurrenzdemokratien3 mit marktwirtschaftlichen Ordnungen. Die bisherigen Formen von Systemwandel (z. B. in Westdeutschland nach 1945 oder in Spa­

nien und Portugal) vollzogen sich - im Unterschied zu den staatssozialistischen Ländern - bei Existenz von privatem Eigentum, Wirtschaftsakteuren, bürgerli­

chem Recht, Integration der nationalen Wirtschaften in die Weltwirtschaft.

Was als Systemwandel analysiert wurde, bezog sich hauptsächlich auf die po­

litisch-institutionelle Ebene. Bei den realsozialistischen Ländern ist es in jeder Hinsicht ein tiefgreifender, umfassender System- und Gesellschaftswandel;

eine Transformation der Eigentumsstrukturen, der Herrschaftsordnung, der Akteure, der Eliten, der sozialen Beziehungen, der politischen Ideologie. Die

"Unübersichtlichkeiten" und spezifischen Entwicklungsvarianten in diesem Transformationsprozeß sind beträchtlich. Doch nicht alle Ausgangsbedingun­

gen sind heute ungünstiger.

Dieser Systemwandel und diese Transformationsprozesse gewinnen aber nicht nur im historischen Vergleich eine neue Dimension, sie vollziehen sich auch unter strategisch neuen Rahmenbedingungen. Das gilt nun nicht nur für die ehemalige Sowjetunion, für die Länder Mittel-Ost- und Südosteuropas, son­

dern auch für die Transformations- und Integrationsprozesse in der gesamt­

deutschen Bundesrepublik (in jeweils spezifischer Form).

Innerstaatliche und -gesellschaftliche Transformation auch in Deutschland ist heute mit einer bisher wahrscheinlich unbekannten Überschneidung von exter­

nen Konfliktlagen, Krisen, Disparitäten konfrontiert: Die Zusammenbruchs­

krise des europäischen Staatssozialismus; die neue Konfliktsituation im Welt­

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maßstab (Regulationsfrage in den westlichen Zentren und Hegemonialfrage in der zu bildenden Weltordnung); die Krise der elementarsten Existenzbedin­

gungen in vielen Ländern des Südens; schließlich die globalen Zivilisations­

konflikte. Die Probleme von "Draußen" werden mehr als jemals zuvor zu Pro­

blemen im Inneren der Bundesrepublik: militärische Konflikte und ihre Folgen, Migration, Umweltbelastung und -Zerstörung, Nationalismus und Fundamenta­

lismus. Die Probleme des Ostens sind, nachdem dieser sich vom Realsozialis­

mus verabschiedet und auf den Weg zu kapitalistischen Marktwirtschaften auf­

gemacht hat, auch zu Problemen des Westens geworden. Das sich seit den 60er Jahren herausgebildete und seitdem erfolgreich entwickelnde "Modell Bundesrepublik" als ein spezifischer Politikzyklus mit seinen bisher funktionie­

renden Regularien, klaren Problemlösungsstrategien, seinen Mechanismen des Ausgleichs und der Konsensbildung geht in der bisherigen Form wahrschein­

lich zu Ende. Das ist keine Voraussetzung für die Reproduktion alter oder die Konstruktion neuer "Anti-Welt-Konzepte". Aber erforderlich wird - wie auch Edzard Reuter anmahnte - ein Umdenken und Umsteuem in der Gesellschaft.4 Die sozialwissenschaftlichen Theorien bleiben davon nicht unbetroffen. Nach den kontroversen Debatten um die westliche Moderne ("fortschreitende Mo­

dernisierung", "reflexive Modernisierung", "Ausstieg")5 haben diese neuarti­

gen Umbrüche bislang aber nur begrenzt Theoriedebatten ausgelöst.

Auf das spezielle Objekt heutiger "Transformation" bezogen, gibt es bezüglich der theoretischen Erklärungsmodelle offensichtlich drei Positionen: empirische Forschung auf der Grundlage bewährter Methoden ohne den Versuch weiter­

reichender theoretischer Erklärungen; Anwendung, Test und Modifikation vorhandener, insbesondere der Modernisierungstheorien, eine spezielle

"Transformationstheorie" erübrige sich; allmähliche Neukonstruktion einer ge­

sonderten Transformationstheorie.

Letztere Auffassung geht u. a. von der Überzeugung aus, daß es eine Theorie, die den Systemwechsel vom "Realsozialismus" zum "Kapitalismus" und seine Folgen zu erklären vermag, noch nicht vorliege6. Ebenso könne das für die neuartigen Umbrüche, Struktur-, Prozeß-, Aktuerswandlungen in den heutigen Transitions- und Transformationsprozessen festgestellt werden. Eine wesentli­

che Voraussetzung dafür sei ein genaues empirisches und theoretisches Bild von der realsozialistischen Gesellschaft7, das auch erst noch (weiter) zu erar­

beiten sei.

Dennoch gibt es verschiedene Theorien mit relevanten Erklärungsansätzen und methodischen Instrumentarien zur analytischen Erfassung und Verarbeitung ablaufender Transformationsprozesse.

Das gelte u. a. (zweite Position) für die Theorie der Wirtschaftsordnung, die ordnungspolitische Sichtweise, die mit den Modellvorstellungen für den Auf­

bau von Wirtschaftssystemen auch theoretische und handlungsanleitende Vor-

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Stellungen für den Umbau der Zentral verwaltungs wirtschaften liefere.8 Die klassische Ordnungstheorie schließt jedoch die Sozialordnung aus, wo ein ver­

gleichbar differenziertes Modell und entsprechende Begriffsinstrumentarien nicht vorliegen9 und sie reflektiert wohl auch nicht ausreichend die heutigen, diffizielen Problemlagen in den osteuropäischen Transformationsgesellschaf­

ten.

Besonders die Modernisierungstheorie hat mit den heutigen Systemumbrüchen neuen Aufschwung erfahren. Doch wird sie zumindest weiter zu präzisieren seinlO, zu konfrontieren und synthetisieren mit handlungstheoretisch fun­

dierten Makrotheorien11. Eine einfache Übertragung würde nicht ausreichen.

Darüber hinaus werden eine Reihe spezifischer Theoriestränge zur Analyse der aktuellen Transformationsprozesse in die Diskussion gebracht (besonders Institutionentheorie im Zusammenhang mit der Theorie individuellen und kol­

lektiven Handelns der Akteure, aber auch Interventionstheorien).

3. Zur Frage des Transformationstyps

Transformationsprozesse in postsozialistischen Gesellschaften sind vor allem Modemisierungsprozesse, in denen die Ziele bekannt sind: die Übernahme, Errichtung, Inkorporation von modernen demokratischen, marktwirtschaftli­

chen, rechtsstaatlichen Institutionen.12 Die Ziele sind allgemein bekannt, meist aber nicht die spezifischen Akteure, Kontexte, Konzepte, Strategien, Wege und Umwege. Transformation als Modernisierung - dennoch ist es kein Über­

gang von der Vormodeme zur Moderne. Die DDR war eine "monopolistische Parteiherrschaft" (Raimond Aron) mit zentralistischer Verwaltungswirtschaft und einer herrschenden Bürokratie, die über Staat, Eigentum, Ideologie, Me­

dien, Recht, Kultur uneingeschränkt verfugte und sich selbst vor Öffentlich­

keit, Kritik, Kontrolle abschirmte. Die DDR war aber auch ein spezifischer Typ von Industriegesellschaft mit ihr eigenen sozialen Strukturen, Akteuren, Mentalitäten, Lebenswelten, eine spezifische Variante von Modernisierung, die zugleich Vor- und Gegenmodeme einschloß. Der Versuch einer zentralisti­

schen Konstitution und Steuerung einer weitgehend auch noch geschlossenen Industriegesellschaft, einschließlich der Individuen und ihrer Lebenswelten ist praktisch und theoretisch unwiderruflich gescheitert.

Zugleich gab es eine Abwahl des Sozialismus-Experiments DDR durch die Mehrheit der Bevölkerung. Diese sprach sich - ähnlich wie in den Ländern Mittel-Osteuropas - nicht, wie es die Bürgerrechtler und SED-Reformer noch anstrebten, für eine grundlegende Erneuerung der DDR und auch nicht für ei­

gene Entwicklungskonzepte aus, sondern - und allen voran die neuen Eliten - für die Übernahme des westdeutschen (westeuropäischen) Modells.

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Und im Systemwettstreit und -vergleich auf deutschem Boden hatte sich entge­

gen früheren Vorstellungen in den DDR-Sozialwissenschaften die Bundesrepu­

blik als modernere, innovationsfähigere Gesellschaft und damit dem realsozia­

listischen System in der DDR als grundlegend überlegen erwiesen. Sie verfügt - idealtypisch formuliert - mit Konkurrenzdemokratie, Markt, sozialstaatlichem Kompromiß, Zivilgesellschaft, Internationalisierung der Wirtschaft über politi­

sche, ökonomische, soziale und kulturelle Basisinstitutionen moderner und evolutionsfähiger Gesellschaften überhaupt. An ihnen "vorbei" ist bis heute Modernisierung, Innovation, Transformation von Industriegesellschaften nicht möglich. Damit war das inhaltliche Grundmuster und der Typ der Transfor­

mation gerade auch in der DDR "vorbestimmt". Dennoch stehen angesichts der neuartigen sozialen und globalen Herausforderungen auch die westlichen Gesellschaften vor einem neuen Wandlungsdruck. Die damit verbundene Frage ist da schon nicht mehr die nach Überlegenheit (gegenüber dem Realsozialis­

mus), sondern die nach Überlebensfähigkeit (der Zivilisation).

Die Transformation Ostdeutschlands wurde seitdem von vielen Sozialwissen­

schaftlern - zumindest als Hintergrundannahme - als "nachholende Modernisie­

rung" interpretiert. Im eben dargelegten Sinne ist diese Interpretation durchaus verständlich.

Auch bildet diese Annahme offensichtlich eine Grundlage praktisch-politischer V ereinigungs-Konzepte.

Doch ist sie m. E.zugleich kritisch zu problematisieren: Zum einen kann es allein schon deshalb nicht nur um "nachholende Modernisierung" gehen, weil spezifische Modernisierungspfade auch in der DDR beschriften wurden. Zum anderen genügt - wie die Erfahrungen der Modemisierungspolitik früherer Jahrzehnte zeigen - Nachvollzug, Imitation ohne eigene spezifische Entwick­

lungsvarianten in aller Regel nicht für eine erfolgreiche Modernisierung und Innovation. Schließlich sollte auch nicht alles nachvollzogen werden, was sich heute mit kritischem Abstand an der "westlichen Entwicklung" als fragwürdig, angesichts neuer Herausforderungen auch als Defizit erweist (z. B. Wachs­

tumsmodell und Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen). Nicht zuletzt bietet ein "offener Gestaltungsraum" nicht nur Risiken, sondern auch Chancen, wenn sie von den Akteuren genutzt werden.

Aus modernisierungstheoretischer Sicht - so wird von anderen Autoren argu­

mentiert - sei deshalb ein Konzept selektiver Modernisierung und damit ein­

hergehender (anschließender bzw. gleichzeitiger) "Komplementärmodernisie­

rung" postsozia-listischer Systeme wahrscheinlich kompatibler, ebenso wie zu ihrer Analyse und zu ihrem theoretischen Verständnis.13

In diesem Zusammenhang sei schließlich auf das Konzept "doppelter Moderni­

sierung" verwiesen, das aber weder mit "nachholender" noch mit dem Konzept der "Komplementärmodernisierung" identisch ist.14

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Wie immer Transformationsrichtung und -typ theoretisch reflektiert werden, Variationsbreite, Entwicklungsvarianten der Transformations können m. E.

nicht von vornherein negiert werden. Gerade auch die Realitäten westlicher Gesellschaften verweisen auf ein breites Spektrum von Varianten der Markt­

wirtschaft, der Demokratie, der Ausprägung einer Zivilgesellschaft. Wenn Ostdeutschland hier auch eine bestimmte Ausnahme darstellt, so ergaben sich dennoch mit Beginn der Systemtransformation alternative Gestaltungsfragen:

Transformation ausschließlich durch "big bang" oder in Kombination mit gra- dualistischen Strategien, Transformation allein als Adaption und

"Inkorporation" (Karl Ulrich Mayer) oder unter Berücksichtigung auch der Spezifik der ostdeutschen Sozialordnung und bei gleichberechtigter Integra­

tion?

In Ostdeutschland sind - unabhängig noch von den Wegen und den damit ver­

bundenen Konfliktpotentialen und Risiken - die Chancen auf Modernisierung gegeben. Für die Länder Mittel-Osteuropas, besonders aber für Rußland, Bul­

garien, Rumänien, kann das so nicht formuliert werden. Die Transformation und Modernisierung Osteuropas hängt wesentlich von der Entwicklung der so­

zialen Akteure und ihren neuen gesellschaftlichen Arrangements sowie der Ge­

staltung der Beziehungen zwischen nationaler Ökonomie und Weltmarkt ab (Klaus Müller).

Schon die bisherigen Realitäten der Systemtransformation in diesen osteuropäi­

schen Ländern zeigen, daß es sich - ob der vielfältigen Transformationsdilem­

mata - trotz Zielkenntnis zumindest mittelfristig um ein offenes Projekt han­

delt.

Was im Westen generell über Jahrhunderte (Modernisierung) oder zumindest über Jahrzehnte und in Stufen bewältigt wurde, soll in Osteuropa, auch wenn es nicht an'der Vormoderne anzuknüpfen braucht, nun in kürzesten Fristen und synchron verlaufen.15 Demokratie und Marktwirtschaft gleichzeitig zu schaf­

fen, gelang außerdem bislang in keinem Land.16 Dabei soll hier etwas trans­

formiert, entwickelt, verändert werden, wo die Voraussetzungen dafür (noch) nicht vorhanden sind: demokratische Institutionen, marktwirtschaftliche Wett­

bewerbsstrukturen, ordnungspolitische Rahmenbedingungen, Interessenausdif­

ferenzierung und -repräsentanz und vor allem die Konstituierung der Akteure.

Ein Fehlschlag, schon eine doppelte Desillusionierung bei der Mehrheit der Bevölkerung (nach dem Realsozialismus nun möglicherweise die Marktwirt­

schaft betreffend) hätte weitreichende, nicht vorhersehbare Folgen für Ost und West. Notwendig wären deshalb zugleich gesamteuropäische Rahmenbedin­

gungen und ein Konzept "paralleler Transformation".17 An beidern mangelt es bislang.

Gleichwohl handelt es sich um ein Projekt, zu dem es letztlich keine rückwärts gerichtete Alternative gibt. Andererseits ist heute davon auszugehen, daß im

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politischen System verschiedener osteuropäischer Länder demokratische, auto­

ritär-diktatorische und nationalistisch-populistische Entwicklungsvarianten sehr wohl möglich sind und z. T. schon beschritten werden.

Von einer Irreversibilität der Modernisierung ist hier zumindest allgemein nicht auszugehen. Differenzierung muß nicht immer zu Progression fuhren.

"Unter bestimmten Bedingungen", so Eisenstadt, "kann Differenzierung auch zu 'Regression' und Stagnation, Zusammenbruch und Entdifferenzierungsver­

suchen führen."18 Die Geschichte birgt oft verschiedene Alternativen, überra­

schende Möglichkeiten in sich, wie gerade die 89'er Ereignisse nachdrücklich zeigten. Modernisierungstheoretische Sichtweisen werden sich hier vor Uni­

versalismus und Enthistorisierung zu "schützen" haben. Eine empirische Ana­

lyse dieser komplexen Transformationsprozesse wird sich nicht zuerst am Mo­

dell, am Ziel, sondern am ereignisgeschichtlichen Verlauf orientieren. Und ge­

rade hierfür bietet die Verwendung des Systemmodells auf der Basis einer Theorie des individuellen und kollektiven Handelns (akteurs- und organisati­

onsbezogener Ansatz) möglicherweise einen adäquaten Ansatz zur Analyse der heutigen Transformationsprozesse. Vor allen die komplizierte Konstellation der sich herausbildenden Akteure wird den weiteren Ablauf der Transformati­

onsereignisse bestimmen.

4. Ostdeutscher Transformations- und deutscher Integra­

tionsprozeß - Sonderfall und ’’Modellcharakter”

Für die ehemalige DDR stellen sich im Transformationsprozeß die gleichen Grundprobleme wie für die anderen postsozialistischen Gesellschaften: gleich­

zeitiger und möglichst rascher Übergang von der Einparteienherrrschaft zur Mehrparteiendemokratie, von der zentralistischen Planwirtschaft zur dezen­

tralen Marktwirtschaft. Andererseits nimmt Ostdeutschland im Vergleich zu den anderen postsozialistischen Ländern eine Sonderstellung ein, bzw. es tre­

ten markante Besonderheiten im ostdeutschen Transformationsprozeß auf. Da­

für sind mehrere Faktoren ausschlaggebend, die gesondert zu untersuchen wä­

ren, hier aber nur genannt werden können:

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a) die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen ostdeutscher Transformation, die sich doch deutlich unterscheiden von denen der anderen Transformationsgesell­

schaften20 und dies in "fördernder" wie "hemmender". Hinsicht. Zu den die Transformation mehr befördernden Momenten gehören: höherer Grad der indu­

striegesellschaftlichen Entwicklung, Zentralität der Arbeit, Fortexistenz be­

stimmter bürgerlicher Wertemuster und Wertewandel seit den 70er Jahren (Zunahme der Selbstentfaltungswerte, Helmut Klages), keine Nationalitätenpro­

bleme. "Hemmend" auf die Transformationsprozesse wirken sich - trotz vorhan­

dener, begrenzter Spielräume selbständigen Handelns von Akteuren in der DDR- Gesellschaft wie in den systemischen Strukturen - die geringe Ausprägung einer Zivilgesellschaft, die Defizite an einem Geflecht intermediärer Gruppen und In­

teressenorganisationen und die Besonderheiten der Elitenkonstellation aus;

b) die Art und Weise des Systemumbruchs als Quelle spezifischer Transformations­

probleme (Form des Systemzusammenbruchs als Bedingung friedlicher Trans­

formation; geringes Reform- und Erneuerungspotential in der DDR; intern und extern begründeter Akteurswechsel von Ost nach West Ende 1989/Anfang 1990;

Konflikte zwischen externer Transformationssteuerung und endogenen Poten­

tialen);

c) die Überlappung von Transformation und deutscher Vereinigung/Integration (Auflösung des Staates DDR, Beitritt zur Bundesrepublik; Übernahme des ge­

samten Institutionengefüges, Verzicht auf äußere und innere Souveränitätsrechte, Ostdeutsche als ständige "Minderheit"...).

Der ostdeutsche Sonderfall birgt in seiner Gesamtheit damit in sich mehr gün­

stigere Bedingungen und Chancen gelingender Transformation: Wirtschafts­

faktor Bundesrepublik, Finanztransfer, Sozialleistungen, Übernahme bewähr­

ter ökonomischer und politischer Institutionen statt mühevollem und ungewis­

sem Neuaufbau, mögliche Ost-West-"Akteurskombination"; bestimmte interne industriegesellschaftliche und lebensweltliche Voraussetzungen. Zugleich lagen und liegen im deutschen Sonderfall auch spezielle Problemfelder. Sie ergeben sich allgemein aus der Logik von Auflösung, Beitritt, Modellübernahme, Imi­

tation, primär extern gesteuerter Transformation, sofortiger und direkter Kon­

frontation der desolaten Wirtschaft mit überlegener Konkurrenz auf dem Weltmarkt.

Für den weiteren Verlauf eines schließlich mehr eigendynamischen Transfor­

mationsprozesses gewann damit zunächst die Gestaltung der Rahmenbedingun­

gen und der Steuerung über Gebühr Bedeutung.

Der Sonderstatus deutscher Transformation und Integration wird aber so oder so auch zum Prüffeld allgemeiner Art, zum einzigartigen Testgelände mit

"Modellcharakter": Einmal normativ, unter dem Gesichtspunkt politischer Handlungsmuster der einflußreichen staatlichen und politischen Akteursgrup-

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pen - gleichberechtigter Umgang mit den Ostdeutschen, gleichberechtigte Inte­

gration Ostdeutschlands trotz überragender ökonomischer Dominanz West­

deutschlands und ungleicher Kraft- bzw. Machtressourcen. Und - Fähigkeit zur neuen Konsensbildung und Sinnstiftung im Vereinigungsprozeß? Zum anderen hinsichtlich der Institutionenfrage, unter dem Gesichtspunkt einer bislang in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gekannten Herausforderung an das gesamte Institutionengefuge, an seine Leistungsfähigkeit bezüglich einer bislang noch nicht zu verarbeitenden Systemtransformation sowie seine Anpas- sungs- und Wandlungsfähigkeit angesichts gesamtdeutscher Transformations­

und Integrationserfordemisse. Und schließlich im Hinblick auf die Moderne selbst; als Test der Selbsterneuerungspotentiale moderner Gesellschaften in Anbetracht deutscher, europäischer und globaler Umbrüche.

5. Transformationsdynamik und Transformations­

strategien

Transformation und Integration sind Vorgänge mit eigendynamischem sozia­

lem Wandel und politischen bzw. sozialtechnologischen Eingriffen ungewöhn­

lichen Ausmaßes. Besonders in der deutschen Variante von Transformation spielen Transformationsstrategien eine maßgebliche Rolle. Solche Strategien können Modernisierung anstreben oder auch absolete Strukturen konservie­

ren.21 Transformationsstrategien finden an der Eigendynamik der Transforma­

tion ihre Grenze. Dieses zeigt sich partiell selbst im Transformationsprozeß Ostdeutschlands, was im einzelnen noch näher untersucht werden sollte.

Transformations- und Umbaukonzepte (nicht auf die Zeit bis zur staatlichen Vereinigung bezogen) gab es m. E. im Prinzip keine, nicht in der politischen Klasse der Bundesrepublik, nicht bei der Opposition, nicht bei den Akteuren in der DDR. Auch der sozialwissenschaftliche, intellektuelle Vorlauf war dafür minimal. Zu überraschend kam der plötzliche Zusammenbruch der DDR. Nur einflußreiche Kreise der politischen Klasse sahen in einer Systemtransforma­

tion keinen "qualitativ anderen Vorgang". Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsmuster blieben deshalb vorwiegend in den Strukturen, Mechanis­

men, Regeln, Erfahrungen der eigenen, westlichen Gesellschaft verhaftet. Sy­

stemtransformation wurde als Problem einfachen Ordnungswechsels, als Pro­

blem der schnellen und radikalen Übertragung des westdeutschen Modells, der Marktwirtschaft und des gesamten Institutionengefüges einschließlich der da­

mit verbundenen Normen, Regeln, Regularien ohne spezifische Umbaukon­

zepte, als Problem vorwiegend externer Steuerung verstanden und praktiziert.

Ausgesprochen wurde sich für die "big bang" Strategie, denn eine gradualisti- sche Transformationsstrategie würde angesichts des Problem- und Zeitdrucks die Integration erheblich erschweren. Je schneller und umfassender die Über­

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tragung, die Einführung des Marktes, desto eher die Konsolidierungs- und Aufschwungphase und der Gesellschaftsumbau. Rückwirkungen auf das soziale und politische Gefüge Westdeutschlands kamen bei diesen Annahmen nicht oder kaum vor. Und die Vereinigung wurde nicht als Zusammenführen der beiden Deutschlands oder als gemeinsame Neugestaltung entsprechend den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, sondern nur als Vergrößerung der Bundesrepublik interpretiert. Transformation stellte sich danach als

"Inkorporation". Für all das gab es aus der Sicht der Alt-Bundesrepublik ge­

wiß gute Gründe. Intellektuelle verwiesen u. a. auf die notwendige Sicherung und Fortschreibung dessen, was bis 1989 an Modernität, an politischer Ge­

staltung und Kultur in der Bundesrepublik erreicht worden war. Das sollte nicht durch Kompromisse aufs Spiel gesetzt werden. Die Resultate und Erfah­

rungen nach gut zwei Jahren zeigten nun vieles in einem anderen Licht.22

Frühzeitig geäußerte Hypothesen auch ostdeutscher Sozialwissenschaftler fanden in gewisser Weise Bestätigung:

- Das betrifft zum einen den Verweis auf die Grenzen der Übertragbarkeit des west­

deutschen Modells auf eine eben doch andere Gesellschaft, die trotz enormer Ver­

staatlichung dennoch nicht mit dem realsozialistischen System völlig identisch und nicht mit ihm untergegangen ist, sondern weiterexistiert und noch fortwirkt (soziale Strukturen, Lebensformen, -weiten, Mentalitäten). In einem Staat, so die These, werden vorläufig noch zwei Gesellschaften weiterbestehen.

- Das betrifft zum anderen den Hinweis auf die Herausbildung spezifischer Kon­

fliktstrukturen bei einer längerfristig andauernden, primär externen und etatisti- schen Transformationssteuerung.

- Das betrifft schließlich die Hypothese, daß der Umbruch in der DDR und die nachfolgenden Transformationsprozesse für das soziale und politische Gefüge der Alt-Bundesrepublik nicht folgenlos bleiben kann.23 Wie es diese konkret verar­

beite, wurde als offen angesehen.

6. Transformations verlauf - einige Bilanzen24

Daß das fehlgeschlagene Experiment DDR und seine Folgen (u. a. ökonomi­

sches Desaster) und das "ungeplante Experiment" Vereinigung (M. Rainer Lepsius) nicht ohne tiefe Krisen, nicht ohne Verwerfungen, ohne mentale Brü­

che und nicht ohne politisch-strategische Fehlentscheidungen würde verlaufen können, das war zumindest in den Sozialwissenschaften Konsens, oder wurde es alsbald. Nur wie Transformation und Integration dann wirklich verliefen, das kann wohl doch "überraschend" genannt werden.

Eine synthetisierende Verallgemeinerung des Verlaufs und der Resultate der

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Transformation ist aus wissenschaftlicher Sicht heute noch kaum möglich. Der Wandel seit 1989 ist dafür zu rasant, die Zeit zu kurz, die Tendenzen (darunter Modemisierungs- und Demodemisierungstendenzen) zu konträr, die Unüber­

sichtlichkeiten zu groß, die letztlich bestimmende Transformationsrichtung heute m. E. noch nicht entschieden. Dennoch können auf der Basis vorliegen­

der empirischer Analysen zunächst erste allgemeine Aussagen getroffen wer­

den: Die auflösenden und destruktiven Tendenzen sind bislang ausgeprägter als die konstituierenden und innovativen, die Blockierungen überlagern die Mo­

dernisierungen, die Konfliktpotentiale die Aufschwungtendenzen, die subjek­

tiven Resignationen den Zukunftsoptimismus (bezogen auf die nächsten fünf Jahre). Die Transformationsdilemmata haben sich inzwischen zu einem Trans­

formationszustand verdichtet, der nicht mehr nur als Umstellungs- und Anpas­

sungskrise zu verstehen ist. Die Transformationsentwicklung befindet sich mithin an einem Schnitt- und Wendepunkt, in dem mittelfristig mehrere, dar­

unter konträre Entwicklungsrichtungen und -Varianten möglich sind.

Dabei steht der Systemumbruch und die deutsche Vereinigung nicht zur Dispo­

sition. Auch die wesentlichen Transformationsziele sind nicht offen. Mit der Einführung von Marktwirtschaft, Rechtsstaatlichkeit, Parteienkonkurrenz ist in dieser Hinsicht die Transformation allgemein "abgeschlossen" und es geht mehr schon um ihre Folgen.

Nach drei Jahren ist auch klar geworden, daß der Umbau in Ostdeutschland und seine Integration eine lange Zeitdauer in Anspruch nehmen und hohe fi­

nanzielle Kosten verursachen wird.

Der Transformationsprozeß in Ostdeutschland ist im Vergleich zu den anderen Transformationsstaaten Mittel-Osteuropas damit schneller und weiter vorangeschritten.

Welches Analysemodell, welche Analyse-Kriterien könnten als Instrument systematischer Untersuchung und Verallgemeinerung der Transformati­

onsprozesse in Ostdeutschland dienen? Auf der Grundlage der Bindung des Begriffs "Transformation" an Inten-tionalität des Handelns, an bewußte Änderung der Ord-nungsstrukturen z. B. die folgenden: 1. Formierung und Hand-lungen spezifischer sozialer und politischer Akteure der Transformation;

2. Ziele der Transformation, ihre Verwirk-lichung und Stand der Her­

ausbildung spezifischer Basis-institutionen; 3. Maß der Individualisierung, der subjektiven Freiheit und der Lebenszufriedenheit. 4. Zeitabläufe; 5. Ende des spezifischen Transformationszustandes. Hier sollen ledig-lich zwei Komplexe herausgegriffen werden; Transformationsziele und ihre Verwirklichung;

Formierung und Handlung der Akteure.

Zum Realisierungsgrad der Transformationsziele:

Die zu realisierenden allgemeinen Transformationsziele wurden in kürzester

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Frist in geltendes Recht in den neuen Bundesländern umgesetzt, aber als neue Ordnung bislang nicht wirklich etabliert. Sie sind als (allgemeine) Ziele mehr­

heitlich akzeptiert, aber noch nicht internalisiert. Für die neue Ordnung spra­

chen und sprechen sich die ostdeutschen Bürger in ihrer großen Mehrheit aus.Sie erscheint vielen - nach vorliegenden Ergebnissen der Meinungsfor­

schung - dennoch von außen eingeführt, von oben realisiert, unübersichtlich und noch immer in vielem fremd.

So wird das neue politische System angenommen, doch etwa die Hälfte ist mit der Demokratie westdeutschen Zuschnitts (vorerst) nicht zufrieden.25 Bei Um­

fragen bekunden regelmäßig über 80 Prozent der Ostdeutschen, daß sie sich in Deutschland als Bürger zweiter Klasse fühlen.26 Und 82 Prozent der Bürger in den neuen Bundesländern meinen, daß sie keinen Einfluß darauf hätten, was die Regierung in Bonn entscheide und tue.27 Mehr als ein Drittel der erwach­

senen Bevölkerung hat das Gefühl, "in dieser Gesellschaft nicht mehr ge­

braucht zu werden".28

Rückschlüsse auf die Systemidentifikation lassen auch die Umfrageergebnisse über die "Exposthaltung" der Ostdeutschen zur untergegangenen DDR zu.

Rückblickend meinen lediglich 13 Prozent, die DDR habe "überwiegend gute Seiten" gehabt. "Überwiegend schlechte Seiten" sehen allerdings noch weniger Ostdeutsche, nämlich nur 7 Prozent. Weitaus die meisten sagen der DDR

"gute und schlechte Seiten" nach, ohne zu gewichten, ob mehr "gut" oder

"schlecht" war.29

Die hier letztlich entscheidende Frage ist, ob sich die Ostdeutschen mittel- bzw. längerfristig mehrheitlich in kritischer Distanz, gar ablehnend zur neuen Ordnung verhalten werden oder ein konflikthafter, produktiver Anpassungs­

prozeß dominieren wird. Modernisierungen, allmähliche Verbesserung der Einkommenssituation und die sich schon in der DDR herausgebildeten Grund­

dispositionen der Ostdeutschen sprechen dafür, daß sich hauptsächlich ein weiteres Hineinwachsen der Mehrheit der Ostdeutschen in die neue Gesell­

schaft vollziehen wird.

Dies wird jedoch zwischen den Generationen, aber auch zwischen Gewinnern und Verlierern der Vereinigung sehr unterschiedlich verlaufen.

Das Institutionengefüge ist - zumeist ohne Umbaustrategien - inzwischen am weitestgehenden übertragen. Seine Steuerungs-, Regulierungs- und Integrati­

onskapazitäten bleiben - wie auch erste Studien am BISS belegen - insgesamt noch gering, aber der von den Bürgern ausgehende Erwartungsdruck ist hier beachtlich groß. Dies ist aber nur ein Aspekt eines komplexen Spannungsver- hältnisses, das nach vorliegenden ersten Untersuchungen nicht in den Grund­

strukturen der Institutionen, sondern in der Kontextdiskrepanz der Umweltbe­

dingungen, den ambivalenten Handlungsstrukturen und den Problemen der po­

litischen Kultur begründet liegt. Ein überraschendes Ergebnis von Untersu­

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chungen besteht auch darin, daß bislang in den neuen - im Vergleich zu den alten - Bundesländern keine (völlig) identisch funktionierenden Institutionen entstanden sind.30 Ein Beweis sicher auch für eine Transformationsdynamik, die sich gegen Steuerungsprozesse "durchsetzt". Intermediäre Netzwerke und Koordinierungsmechanismen - für erfolgreiche Gesellschaftstransformation be­

sonders bedeutsam - sind vorerst nur rudimentär herausgebildet.

Moderne wirtschaftliche Wettbewerbsstrukturen und ihre institutioneilen Vor­

aussetzungen sind im Unterschied zu den politischen und staatlichen Institutio­

nen in den neuen Bundesländern bislang noch nicht wirklich etabliert. Dabei wurde gerade hier die Grundannahme dieser Strategie - rascheste Privatisie­

rung als Bedingung eines schnellen Wirtschaftsäufschwungs - praktisch am konsequentesten umgesetzt. Bis Ende des Jahres sind ca. 80 Prozent der ost­

deutschen Industrie privatisiert. Ein Rekord, der seinesgleichen in der Welt sucht. Aber statt des erwarteten Aufschwungs Ost kam es zum Zusammen­

bruch nahezu aller wirtschaftlichen Kreisläufe. Die schlagartige "Einführung"

der Marktwirtschaft - ohne ein den ostdeutschen Bedingungen angemessenes ordnungspolitisches Konzept, ohne einen in solchen Umbrüchen erforderlichen Staatsinterventionismus, ohne ausgewogene Relation zwischen Privatisierung und Sanierung, ohne Struktur- und industriepolitisches Konzept und mit einer investitionshemmenden Eigentumsregelung - war offensichtlich nicht in der Lage, die Angebotskräfte - auf die mit dieser Strategie vor allem orientiert wurde - freizusetzen. Paradoxerweise wurden diese durch den eingeschlagenen Weg in ihrem Kern sogar zersetzt.31 Und zugleich entstand 1990/91 das Para­

doxon einer Marktwirtschaft nahezu ohne Märkte, die schlagartig wegbrachen (Zusammenbruch Binnenmarkt, fast vollständiger Wegfall des osteuropäischen Marktes, geringe Wettbewerbschancen auf den westlichen Märkten).

Das verkraftet - so Klaus von Dohnanyi - keine Volkswirtschaft der Welt32, schön gar nicht eine abgeschottete, bürokratisch regulierte und desolate wie die der früheren DDR.

Der "verheerende Irrtum der Bonner Politik lag darin", schlußfolgert er,

"darauf zu vertrauen, daß mit der Einführung von Markt und D-Mark die not­

wendigen Schritte zu einer wirtschaftlichen und sozialen Einheit der beiden deutschen Staaten getan seien."33

Im Vergleich zum ersten Halbjahr 1989 (wirtschaftliche Krise) ging die wirt­

schaftliche Gesamtleistung (Bruttoinlandprodukt) bereits bis Ende 1991 um rd.

49 auf 51 Prozent zurück. Das Wirtschaftspotential in der Landwirtschaft ist weitgehend zerstört. Mit 20 Prozent der Bevölkerung liegt der Anteil Ost­

deutschlands am gesamtdeutschen BIP bei 7,7 Prozent, während er 1989 noch bei 10 Prozent lag. Wenn das gesamte Wachstum jährlich 8 bis 10 Prozent be­

tragen würde, wäre 1994/95 der Stand von 1989 erreicht (Bruttoinlandprodukt). Tiefe Einbrüche vollzogen sich auf dem Arbeitsmarkt.

Die Zahl der Erwerbstätigen ist von 9,75 Millionen 1989 (90 Prozent und da­

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mit weit über dem Durchschnitt entwickelter Länder) bis 1992 um 3,4 Millio­

nen auf 6,3 Millionen zurückgegangen. Darunter in der Land- und Forstwirt­

schaft von 900.000 Beschäftigte auf rd. 170.000 Beschäftigte (mithin auf ein Fünftel). Nahezu 4 Millionen Menschen haben seitdem ihren Job verloren, auch wenn die offizielle Statistik "nur" 1,1 Millionen Erwerbslose ausweist.

Im Osten Deutschlands bildet sich eine "Vefsorgungsklasse" (M. Rainer Lep- sius) heraus, die ausschließlich von den Transferleistungen aus dem westlichen Teil Deutschlands abhängt.

Besonders problematisch ist der fortgeschrittene Deindustrialisierungsprozeß und die Extemalisierung des größten Teils des industriellen Forschungspoten­

tials. Die meisten industriellen Kerne (z. B. Maschinenbau, Elektrotechnik, Textilindustrie) sind bereits "weggebrochen". Die Industrieproduktion ist auf rd. 33 Prozent zurückgegangen, die Industriearbeitsplätze von 3,2 Millionen auf nur noch 800.000 Ende 1992. Besonders die technologieintensiven Bran­

chen (wie z. B. Elektronik, Datenverarbeitung, Feinmechanik/Optik) schrumpften, während energie- und rohstoffintensive Zweige an Gewicht ge­

wannen. Ohne Industriepolitik - die bekanntlich bis zum Herbst 1992 abgelehnt wurde - ist keine Wende der Wirtschaftsentwicklung in Sicht. Das For­

schungspotential in der Industrie verringerte sich von 74.000 auf 18.000, mit­

tels "Freisetzung" also um 76 Prozent der in der Forschung und Entwicklung Beschäftigten. Gemssen an der Zahl der Beschäftigten in der Industrie beträgt das Forschungspotential in Ostdeutschland damit nur noch ein Zehntel im Ver­

gleich zu Westdeutschland. Insgesamt hat die deutsch-deutsche Vereinigung weit mehr als der Hälfte des gesamten Wissenschaftspersonals in der früheren DDR (rd. 210.000) das berufliche Ende gebracht (z. Z. 91.000, dabei sind viele nur noch auf Zeit beschäftigt). Die industriellen und wirtschaftlichen In­

novationspotentiale wurden nicht neu formiert, sondern "verunsichert, lahm­

gelegt, abgewickelt."34 In dieser Entwicklung liegen heute bereits wirksame und zukünftige Konfliktquellen: Arbeitslosigkeit, insbesondere Frauenarbeits­

losigkeit (Anteil bei rd. 65 Prozent), Kurzarbeit, Dequalifikation. Soziale Pro­

blemgruppen sind bereits im Entstehen begriffen: alleinerwerbende Frauen, längerfristig Arbeitslose, Behinderte, ein Teil der Rentner.35 Nachhaltige Wir­

kung auf das -soziale und kulturelle Potential in Ostdeutschland hat die Ost- West-Migration. Dies ist nicht einmal in erster Linie unter quantitativen (Abwanderung von einer Million Bürgern) als vielmehr unter qualitativen Aspekten zu sehen. Die Mehrzahl der Migranten sind junge, qualifizierte, kreative und hochmotivierte Facharbeiter, Angestellte, Techniker, Wissen­

schaftler.36

Diese wirtschaftliche Gesamtentwicklung ist schon nicht mehr mit einer wäh­

rend der Umstellungszeit der Planwirtschaft unumgänglichen Abschwungphase und Anpassungskrise zu erklären. Stillegung und wirtschaftliche Abwärtsent­

wicklung dominierten auch dann noch, als der Neuaufbau wettbewerbsfähiger

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Unternehmen diese hätte kompensieren und die Investitionstätigkeit Wachstum hätte verursachen müssen. Die Wirtschaftsumstellung und -entwicklung konnte in dieser Phase der Transformation den Marktkräften allein nicht überlassen bleiben. Deregulierung ist kein tragfähiges Konzept einer beginnenden Sy­

stemtransformation. Ein Um- und Aufschwung wurde so vorerst nicht mög­

lich.

Weitere konkrete Transformationsstudien sollten vor allem auf der Meso- und Mikroebene durchgeführt werden, wo sich sektoral, regional und auf den ver­

schiedenen Policy-Feldem offenbar recht unterschiedliche Transformations­

verläufe und -ergebnisse zeigen (z. B. zwischen Industrie, Landwirtschaft oder Dienstleistung; zwischen Wirtschafts- bzw. Sozial- und Gesundheitspolitik;

zwischen der Region Berlin, dem Raum um Dresden, begünstigenden Gebieten Thüringens einerseits und dem Cottbuser Gebiet sowie Vorpommern anderer­

seits).

Wie steht es um die Realisierung des zentral gesetzten Zieles der Herstellung vergleichbarer Lebens Verhältnisse zwischen Ost- und Westdeutschen? Etwa 75

% der ostdeutschen Haushalte geben an, daß sich ihre Einkommensverhältnisse seit dem Umbruch verbessert haben. Gestiegen ist die Zufriedenheit 1991 und 1992 aber nur mit dem Waren- und Diestleistungsangebot und der Umwelt, konstant geblieben ist sie beim Faktor Gesundheit, gesunken bei Arbeit, so­

ziale Sicherung, Wohnung, z. T. Einkommen.37 Wichtige individuelle Rechte und Freiheiten wurden errungen. Eine größere Individualisierung sozialkul­

tureller Milieus zeichnet sich ab. Die Mobilitätsprozesse, darunter Auf- und Abstiege (je ein Drittel), sind umfangreicher geworden. Die Ungleichheiten nehmen zu.

Die Umfragen konstatieren übereinstimmend nach kurzzeitigem beachtlichem Anstieg der Lebenszufriedenheit 1990 (gegenüber starker Unzufriedenheit im Jahre 1989 in der DDR) eine Verschlechterung der allgemeinen Lebenszufrie­

denheit (1991 zu 199038). Das ergibt sich aus einem Anwachsen der Verunsi­

cherungen, der Ängste und Sorgen in konkreten Lebensbereichen (Arbeitsplatz, Existenzsicherung, Zukunftsgestaltung) und Verschlechterungen der entsprechenden Erwartungen. Trotz Verbesserungen in den Lebensverhält- nissen kam es 1991 zu einem "dramatischen Stimmungseinbruch"39. 1992 ist dieser nicht kompensiert, aber offensichtlich haben sich die Stimmungslagen bezüglich der Lebenszufriedenheit weiter differenziert. Bei den 16- bis 36jährigen ist diese weiterhin konstant hoch, bei den 46- bis 65jährigen dage­

gen niedrig.40 Der einst zu konstatierende "doppelte Zukunftshorizont"

(Helmut Klages) ist aufgehoben, die Lebenszufriedenheit wird nun eindeutig auch im Osten vom realen Lebensstandard und der Existenzsicherung be­

stimmt.

Auch die Zukunftserwartungen (bezogen auf die nächsten 5 Jahre) sanken ständig ab. 1992 scheint sich ein leichter Anstieg vollzogen zu haben.

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Hinsichtlich der langfristigen Zukunftserwartungen bleibt etwas mehr als die Hälfte der Ostdeutschen aber optimistisch. Angst vor der längerfristigen Zu­

kunft hatten 1991 27 Prozent, Ende 1992/Anfang 1993 nach einer Emnid-Um- frage aber über 40 Prozent.41

Überwölbt wird dies noch immer durch die Ungleichheit der Lebens Verhält­

nisse zwischen Ost- und Westdeutschland. Dies trifft auch dann zu, wenn jetzt in Westdeutschland erstmals seit mehr als einem Jahrzehnt die Lebenszufrie­

denheit und Zukunftserwartung gesunken ist. Das durchschnittliche Einkom­

men der Ostdeutschen im Vergleich zu den Westdeutschen liegt bei ca. 60 %, bei Rentnern bei 57 %. Dabei ist das Einkommen nur ein Indikator von

"LebensVerhältnissen". Die Realisierung dieser Einheitsprojektion bleibt in weitere Ferne gerückt. Glaubten 1991 die Ostdeutschen noch, daß vergleich­

bare Lebensverhältnisse in etwa 7 Jahren zu erreichen wären, meinen sie heute, daß hierfür ca. 12 Jahre benötigt würden.42

Die Systemintegration ist formal vollzogen, die Sozialintegration, aber vor al­

lem auch die politisch-kulturelle Integration noch nicht. Die kulturelle und mentale Integration wird eine noch bedeutend längere Zeitdauer als die soziale Integration in Anspruch nehmen. Das dürfte eine Frage von Generationen werden. Gegenwärtig hat die mentale Entfremdung zwischen den Deutschen in West und Ost zugenommen.43 Auf beide Zielsetzungen der Integration kann aber im Interesse einer stabilen gesellschaftlichen Vereinigung nicht verzichtet werden. Aber Integration kann nicht vordergründig nur am Maß der Annähe­

rung der Ost- an die Westdeutschen identifiziert werden. Integration in einer pluralistischen Gesellschaft bedeutet immer auch wechselseitiger Lernprozeß und Akzeptanz der Differenz, der Eigenheiten und deren "produktive" Entfal­

tung. Annäherung kann nicht verordnet werden. Schon weil "Aufholjagd"

nicht das Integrationsziel sein kann, ist die bisherige Einheitsprojektion wohl fragwürdig geworden. Aus verschiedenen Gründen scheint eine stark modifi­

zierte, eine soziale und kulturelle Einheitsprojektion erforderlich. Wie histori­

sche Erfahrungen belegen, erhält für das Gelingen eines national-staatlichen Integrations- und Fusionsprozesses das Problem einer gemeinsamen normati­

ven Ordnung einen zentralen Stellenwert.

Entwicklung von Akteuren

Die Herausbildung und Ausdifferenzierung der sozialen Akteure des Um- strukturierungs- und Modernisierungsprozesses - v. a. modernes Management, Eliten, professionelle Bürokratien, neue Selbständige - steht insgesamt noch in den Anfängen. Dabei gibt es sektoral und regional Unterschiede. Unzurei­

chend haben sich bislang vor allem die politischen Akteure des Transformati­

onsprozesses formiert. Der intermediäre Bereich hat noch keine festen Wur­

zeln geschlagen.44

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Dies ist eine Folge politischer Zentralisierung und Entdifferenzierung des staatssozialistischen Systems. Doch daß die Ostdeutschen mental "deformiert"

seien, unselbständig, unterwürfig, weder für eine demokratische Gesellschaft noch für eine Marktwirtschaft subjektive Voraussetzungen besäßen, geht m. E.

ebenso an den Tatsachen vorbei wie die These, daß sie dafür über alle menta­

len Voraussetzungen verfügten. Beide Standpunkte finden sich in der Literatur.

Die Defizite im ostdeutschen Akteurspotential infolge spezifischer Sozialisati­

onsmechanismen im Realsozialismus sind in der Systemtransformation offen­

sichtlich geworden. Die Gemeinschaftsformen standen nicht unter dem heute sich abzeichnenden Kontext tiefgreifender Individualisierung. Andererseits hat sich - wie neuere Forschungsergebnisse zeigen - offensichtlich auch in der DDR in den 70er Jahren ein Wertewandel von den Pflicht- und Akzeptanz­

werten zur stärkeren Betonung von Selbstentfaltungswerten vollzogen.45 In den Denk- und Verhaltensweisen unter Ostdeutschen sind offenbar mehr kreative Potentiale und Anknüpfungspunkte vorhanden als bislang angenommen. Eine Politik des "mentalen Brückenschlags" scheint deshalb eher Erfolg zu erhei­

schen als die des Überstülpens und des "Bruchs" mit spezifisch ostdeutschen Mentalitäten.

Auf jeden Fall wird immer offensichtlicher, daß die Transformation Ost­

deutschlands nicht ausschließlich durch Dritte, durch westdeutsche Politiker, Wirtschaftsmanager, Wissenschaftler, Juristen übernommen werden kann. De­

ren Mitwirkung ist - gerade unter den spezifischen deutschen Bedingungen - notwendig und sogar sehr sinnvoll, aber eben ohne Ausprägung der endogenen Potentiale, der ostdeutschen Interessenpräsenz wenig erfolgversprechend. Eine primär "extern gesteuerte Transformation"46 führt eher zur Überlagerungs­

mentalität, zur Entwertung des kulturellen Kapitals und Verdrängung des Um­

bau- und Gestaltungswillens.

Neuere Untersuchungen zu den ostdeutschen Akteuren fördern erste, interes­

sante und wohl auch überraschende Ergebnisse über eine gewisse Herausbil­

dung sozialer Träger ostdeutscher Transformationsinteressen zutage. Diese kommen nicht aus dem Kreis der "sozialen Verlierer", sondern u. a. aus Tei­

len der Selbständigen, der Intelligenz, des öffentlichen Dienstes und auch der Leihbeamten-47 Noch sind es Ansätze, die keineswegs schon stabil sind. Auch wenn sich die Ostdeutschen weiter differenzieren (soziale Lagen, Interessen, Akteure usw.), so bleiben doch auch spezifische "ostdeutsche Transformati­

onsinteressen" (z. B. Erhaltung bzw. Rekonstruktion des ostdeutschen Indu­

strie- und Wirtschaftsstandorts, soziale Anerkennung, gleichberechtigte Inte­

gration) für längere Zeit relevant, die freilich nur eine Chance auf Realisierung haben, wenn sie in Westdeutschland Akzeptanz oder besser noch Unterstüt­

zung finden.

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7. Transformationsfolgen und -Szenarien

Die spezifischen Entwicklungsrichtungen des Transformationsverlaufs sind heute nur schwer abzuschätzen. Allgemeine Prognosen sind oft nur eine Ver­

längerung politisch-ideologischer Sichtweisen. Eine ganz Reihe weiterer Fol­

gen sind dagegen schon jetzt abzusehen. Dennoch seien hier zunächst einige Überlegungen zu möglichen Szenarien eines mittelfristigen Transformations­

verlaufs (also bezogen ca. auf die nächsten fünf Jahre) skizziert. Wir betonen mittelfristig, denn längerfristig scheint die allgemeine Transformationsrichtung in Ostdeutschland auch durch ihren Sonderstatus "vorgezeichnet". Theoretisch denkbare Szenarien wären - gemessen am Transformationsziel - mittelfristig m. E. folgende:

1. Abbrechende Transformation, im Sinne von Modernisierung und Entwick­

lung (Wandel). Die Transformationskrise, seit längerem eng verknüpft mit Modemisierungsblockaden in den alten Bundesländern, vertieft sich, verläßt noch stärker den Rahmen einer Anpassungskrise und weitet sich immer mehr zu einer Krise des gesamten Einigungsprozesses aus (ökonomisch, finanziell, kulturell-mental). Die angestrebten Regularien und Problembewältigungsstra­

tegien für den ostdeutschen Transformationsprozeß greifen immer weniger . Es kommt auch mittelfristig zu keiner zeitlichen Synchronität zwischen Stille­

gung, "schöpferischer Zerstörung" einerseits und Schaffung neuer Wirtschafts­

strukturen andererseits. Die Anreize für Investitionen gehen weiter zurück.

Der "Aufschwung Ost" bleibt mittelfristig aus. Das Desinteresse des Aus­

landskapitals am Wirtschaftsstandort Ostdeutschland nimmt zu. Die bereitge­

stellten Finanzmittel werden zum größten Teil für soziale Absicherungen und die neue "Versorgungsklasse" benötigt und können weniger für produktive In­

vestitionen genutzt werden. Eine Folge dessen wäre mithin eine (vorerst) ab­

brechende Modernisierung und Entwicklung, auf jeden Fall eine mittelfristig verfestigte Ost-West-Spaltung und sich weiter zuspitzende Konfliktlagen und eine noch größere Abhängigkeit Ost- von Westdeutschland mit nachhaltigen Rückwirkungen auf die alten Bundesländer.

2. "Erfolgreiche Transformation". Der "Aufschwung Ost" beginnt sich allseits durchzusetzen und es gelingt die Integration der beiden Gesellschaften (System - Sozial - kulturelle Integration). Übergang in einen transformierten gesell­

schaftlichen Selbstlauf, in einen Zustand gesellschaftlicher Selbsterneuerung, Auseinandersetzung um Entwicklungsrichtung und -logik der Moderne auch in Ostdeutschland. Oder in der Sprache der Politik: Ostdeutschland gehört in 5/6 Jahren zu den besten Wirtschaftsstandorten und zu den "blühenden Land­

schaften" Europas. Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland be­

schreiben nur noch das Anderssein der Lebensbedingungen und -Verhältnisse.

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3. "Partielle" und "gespaltene"48 bzw. "fragmentierte" Transformation". Ge­

genüber Stillegung und "schöpferischer Zerstörung" gewänne allmählich die Neukonstitution wirtschaftlicher Wettbewerbsstrukturen Dominanz. Ein Wirt­

schaftsaufschwung setzt ein, vollzieht sich aber zwischen den Bereichen, Sek­

toren und Regionen höchst differenziert (Wachstumsindustrien und -regionen stehen andere mit Stagnation und Niedergang gegenüber). Gespalten entwickelt sich der Arbeitsmarkt. Ein erheblicher Teil der Erwerbstätigen findet kein Be­

schäftigungsverhältnis. Es kommt in den nächsten Jahren zu einer allmählichen und partiellen Angleichung der Einkommens-, nicht aber der gesamten Le­

bensverhältnisse zwischen Ost- und Westdeutschland. Diese bleiben gespalten.

Gewinner und Verlierer des Einigungsprozesses stehen sich noch deutlicher gegenüber. Es gelingt nur eine fragmentierte Integration der verschiedenen Generationen Ostdeutschlands. Die politische Akzeptanz der neuen Ordnung bleibt deshalb ebenfalls differenziert und gespalten.

Insgesamt scheint dies die realistische Entwicklungsvariante zu sein.

Auf der Grundlage empirischer Analysen sollten jedoch vor allem absehbare soziale, kulturelle, politische Folgen von Transformation beschrieben, damit entsprechende Problembewältigungsstrategien erarbeitet werden können. Ne­

ben den bereits oben benannten Tendenzen von Deindustrialisierung, Externa- lisierung humanen Kapitals, Migration und mentalen Entfremdungen gehören dazu die folgenden:- Das. ostdeutsche Wirtschaftspotential wird auf Jahrzehnte nicht das westdeutsche Niveau erreichen können.49 Die Umbau- und Einheitskosten können weder durch einen selbsttragenden Aufschwung Ost noch durch Wirtschaftswachstum West allein beglichen werden. Die Spiel- und Handlungsräume werden enger. Drei Ebenen alter und neuer Verteilungskonflikte zeichnen sich heute ab: Ein Konflikt zwischen unter­

schiedlichen sozialen Bereichen und Akteuren der Gesellschaft um die Frage der Verteilung der Einheitskosten, ein Konflikt zwischen unternehmerischer Standortkonkurrenz zwischen Ost- und Westdeutschland und ein Konflikt zwischen Arbeits- und Gewinneinkommen. Diese Konflikte werden sowohl innerhalb als auch zwischen Ost und West ausgetragen. Die bisherigen Regulierungsmechanismen und Politikformen können unter den neuen Rahmenbedingungen nicht mehr so wie früher greifen. Eine wie bislang regional und z. T. auch sozial relativ homogene westdeutsche Gesellschaft wird es in den nächsten Jahren in Gesamtdeutschland nicht mehr geben. Die Neuverteilung von Optionen, Lebenschancen und -risiken wird eine zentrale politische Fragestellung und mit ihr die bisherigen Besitzstände.

- Damit wird eine spezifische Säule westdeutscher Demokratiestabilität (Wirtschaftswachstum und soziale Wohlfahrtssteigerung) tangiert. Auch eine neue Transformationsphase des gesamtdeutschen Parteiensystems ist nicht mehr auszu­

schließen.

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- Wenngleich die Probleme im Osten Deutschlands viel drängender sind, der

"Schlüssel" für eine Veränderung liegt dennoch zunächst primär in Westdeutsch­

land, in der Überwindung dortiger Modernisierungsblockaden (Regulierung, Inno­

vation, Mentalitäten, Gestaltungskonzepte).

- Die staatliche Einheit ist nicht gefährdet, sie wird durch die Systemintegration und durch eine übergroße Mehrheit der Ost- und Westdeutschen auch künftig getragen werden. Die Kritik an der stark parteizentriertern, bürokratisch-administrativen Vereinigungspolitik und der geringen demokratischen Konstitution des Einigungs­

prozesses von unten wird - wie Umfragenergebnisse belegen - vorerst aber weiter zunehmen.

Zugleich vollzieht sich innerhalb der Ostdeutschen eine gewisse Ten­

denzwende hin zur Forderung nach mehr "Anerkennung" (gegen "kollektive Herabsetzung", Reinhard Kreckel), "gleichberechtigter Teilnahme" und Teil­

habe an den sie betreffenden Entscheidungen. Im Zusammenhang mit Kon­

flikten wird es immer wieder zu sozialen Protesten und auch politischen Aktio­

nen kommen. Eine breite, übergreifende ostdeutsche Massen- oder Reformbe­

wegung ist nicht zu erwarten. Dagegen spricht eine wachsende Differenzierung der sozialen Lebenslagen und ihrer subjektiven Verarbeitung.

8. Neufassung der Transformationspolitik - von Modifi­

kationen zu Kurs- und Zielkorrekturen?

Analysiert man die zum ostdeutschen Transformations- und deutschen Vereini- gungsprozeß mehr oder minder stattfindenden Diskussionen, so zeichnen sich m. E. gegenwärtig folgende drei konzeptionelle Vorstellungen ab:

Erstens: Bestimmend bleibt in der politischen Klasse - trotz der Konfliktlagen und Disparitäten im Transformations- und Integrationsprozeß - die Auffassung, daß Grundmuster, Zielprojektion, Gestaltungsweise, strategische Wege beizu­

behalten sind.

Die entstandenen Transformations-, Integrationsrisiken werden nun doch stär­

ker thematisiert. Die Ahnung der Einigungskrise und ihrer internationalen Re­

levanz hat die dominierenden politischen Akteure erfaßt. Diese haben sich ge­

rade in Krisensituationen noch meist als fähig erwiesen, ihre weiterführenden Handlungsoptionen zu entwickeln, zumal wenn ernsthafte Entscheidungsalter­

nativen nicht in Sicht sind. Die Thesen vom Chaos in der politischen Klasse scheinen mir da zu verkürzt. Ein ostdeutsches Mezzogiorno soll verhindert werden, weshalb die Transferleistungen fortzuführen sind. Deutschland soll ökonomisch konkurrenzfähig bleiben und somit politisch handlungsfähig, ge­

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rade angesichts der enormen Unsicherheiten in Ost-, aber auch angesichts der neuen Problemsituation in Westeuropa (Vollzug der Europäischen Union). In­

stabilitäten im Inneren sollen möglichst auf ein Minimum reduziert werden.

Weitere Modifikationen und partielle Kurskorrekturen am Transformations­

und Integrationskonzept wurden mit sehr unterschiedlichen Akzenten gerade in jüngster Zeit vorgenommen:

a) in der Regulierungsfrage (stärkere Hinwendung zu politischen Regulierungen bei Festhalten am Primat der Marktregulierung; nun auch Übergang zu einer be­

stimmten Industriepolitik für Ostdeutschland);

b) in der Finanzierungsfrage (Ankündigung von Steuererhöhungen und Einschnitten im Sozialstaat);

c) in der Zeitfrage (Abgehen vom Versprechen "blühender Landschaften" und ver­

gleichbarer Lebensverhältnisse in 3 bis maximal 4 Jahren);

d) im Aushandlungsmechanismus (u. a. Sachkoalition mit der sozialdemokratischen Opposition wie beim "Solidarpakt") und

e) im Versuch zur Herstellung eines gesellschaftlichen Integrationskonsens um die Regierungskoalition. Ob damit Lösungswege für die anstehenden Problemlagen gefunden wurden oder werden oder erneut nur "Verlagerungen" stattfinden, wird sich wohl bald zeigen,

Zweitens: In letzter Zeit wurden von Kurt Biedenkopf bis Jens Reich - aller­

dings mit recht unterschiedlichen Intentionen - konzeptionelle Vorstellungen entwickelt, die auf Modelle einer relativ getrennten Entwicklung der beiden Gesellschaften in Deutschland hinausliefen. Den Hintergrund dafür bildet die tiefe Spaltung der deutschen Gesellschaft, die mit der staatlichen Einheit nicht geringer, in manchem gar tiefer geworden ist. Am meisten Aufsehen erregte diesbezüglich der konzeptionelle Vorstoß von Kurt Biedenkopf.50 Die auch in Bonn favorisierte "Aufholjagd" des Ostens und die damit verbundene An­

nahme einer schnellen Angleichung der Lebensverhältnisse hält er für unreali­

stisch und überdies nicht für sinnvoll und wünschenswert. Die Ostdeutschen würden darin allein wohl auch nicht mehr die Zielvorstellung sehen. Notwen­

dig seien:

(a) eine Relativierung dieses Vereinigungsziels,

(b) eine stärkere Beachtung der inneren Ressourcen und Probleme Ostdeutschlands, incl. ostdeutscher Identitäten, Lebensqualitäten, regionaler Besonderheiten sowie spezifischer ostdeutscher Entwicklungskonzepte und

(c) tiefgreifende Reformen auch in Westdeutschland.

An eine abgetrennte Entwicklung Ost- von Westdeutschland hat Biedenkopf aber wohl kaum gedacht.

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