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Die PISA-Strategie der OECD

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Academic year: 2022

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Die PISA-Str ategie der OECD Bloem

Simone Bloem

Die PISA-Strategie der OECD

Zur Bildungspolitik eines globalen Akteurs

Mit einem Vorwort von Richard Münch

Neue P olitische Ökonomie der Bildung

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Simone Bloem

Die PISA-Strategie der OECD

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Neue Politische Ökonomie der Bildung

Herausgegeben von Thomas Höhne

Im Unterschied zu den Bildungsreformen der 1960er Jahre sind die postdemokratischen Bildungsreformen seit etwa 30 Jahren durch eine ökonomische Logik von Wettbewerb, Vermarktlichung und

Individualisierung gekennzeichnet. Hierbei treten Bildung, Staat/Politik, Ökonomie und Gesellschaft in neues Verhältnis zueinander, aus dem sich zahlreiche Fragen und Probleme ergeben, denen in der vorliegenden Reihe nachgegangen werden soll: Formen der bildungspolitischen De- und Reregulierung von Bildung • Effekte von Bildungsmärkten • Die zunehmende bildungspolitische Bedeutung von Akteuren wie OECD und Stiftungen • Technologisierung und Rationalisierung von Macht und Kontrolle von Bildung • Bildungsreformen und die Reproduktion sozialer Ungleichheit.

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Simone Bloem

Die PISA-Strategie der OECD

Zur Bildungspolitik eines globalen Akteurs

Mit einem Vorwort von Richard Münch

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Die Autorin

Simone Bloem, Jg. 1983, Dr. rer. pol., ist Lehrbeauftragte am Lehrstuhl für Soziologie, insb. Soziologische Theorie der Universität Bamberg. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Bildungs- und Wissenssoziologie, Soziologie der Quantifizierung und Global Governance Forschung.

Diese Arbeit wurde 2014 als Dissertation bei der Universität Paris Descartes/Sorbonne und der Universität Bamberg eingereicht.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2016 Beltz Juventa · Weinheim und Basel Werderstraße 10, 69469 Weinheim www.beltz.de · www.juventa.de Herstellung und Satz: Ulrike Poppel ISBN 978-3-7799-4325-9

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Vorwort

Das Programme for International Student Assessment (PISA), das seit 2000 alle drei Jahre von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) durchgeführt wird, kann als Erfolgsgeschichte der In- ternationalisierung von Governance im Bildungsbereich betrachtet werden.

Das Programm gilt inzwischen als weithin akzeptierter Test der Leistungsfä- higkeit nationaler Bildungssysteme. Es untersucht die Basiskompetenzen 15jähriger Schülerinnen und Schüler im Lesen der Landessprache, in Mathe- matik und Naturwissenschaften. Waren 2000 noch 32 Länder an dem Test beteiligt, so ist deren Zahl inzwischen auf 65 gestiegen, deutlich mehr als die 34 OECD-Mitglieder. Die Studie ist allerdings nicht ohne Kritik geblieben.

Die Kritik bezieht sich vor allem auf die Verengung der Vielfalt der Bildungs- ziele, der Disziplinen und Kompetenzen sowie der Bildungskulturen auf ein- und dieselben Basiskompetenzen. Kritiker befürchten eine weltweite Homo- genisierung der Bildung. Da Bildung die zentrale Ressource für die Repro- duktion und Transformation einer jeden Kultur ist, impliziert ihre weltweite Homogenisierung die Verringerung der kulturellen Vielfalt, die eine grund- legende Quelle der offenen sozio-kulturellen Evolution der Menschheit dar- stellt. Nachdem die ostasiatischen Teilnehmer an der Studie ganz deutlich die PISA-Tabelle anführen, könnte das konfuzianische Modell des disziplinier- ten Lernens – mit wenig Raum für Dialog, Kritik, Kreativität und Reflektion – zum Vorbild für alle anderen Länder werden, wenn die Leistungen der na- tionalen Bildungssysteme ausschließlich am Maßstab der PISA-Studie ge- messen werden.

Solche Befürchtungen haben in jüngster Zeit dazu geführt, dass eine Gruppe von Bildungsforschern aus unterschiedlichen Ländern mit je eigenen Bildungstraditionen und Positionen in der PISA-Rangliste in einem in The Gu- ardian veröffentlichten offenen Brief an das OECD-Bildungsdirektorat ein Moratorium für den PISA-Tests gefordert hat, um Zeit für Reflektion und öf- fentliches Nachdenken über die Fortführung der internationalen Evaluation nationaler Bildungssysteme zu gewinnen. Das OECD-Bildungsdirektorat hat auf den offenen Brief der Gruppe von Bildungsforschern mit einer Beruhigung der Öffentlichkeit und der Versicherung geantwortet, dass die positiven Effekte von PISA seine negativen Auswirkungen bei weitem übertreffen würden. Des- halb gäbe es keinen Grund, den Test nicht weiterhin in der Form wie seit 2000 durchzuführen. Und es sind keine Anzeichen dafür zu erkennen, dass in ab- sehbarer Zukunft tatsächlich ein Teststopp zustande käme.

Simone Bloems Untersuchung über die Produktion und Verbreitung von PISA durch das Bildungsdirektorat der OECD bietet sehr hilfreiche Erkennt- nisse, um die Frage zu beantworten, weshalb PISA so erfolgreich ist, dass Kri- tiker, wie die erwähnte Gruppe angesehener Bildungsforscher, bislang nicht

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erreicht haben, eine umfassende politische Diskussion über Sinn und Zweck der Studie zu entfachen. Dem OECD-Bildungsdirektorat ist es mit der PISA- Studie gelungen, eine neue, nicht mehr weiter hinterfragte Wirklichkeit der Bildung zu konstruieren, aus der auf quasi natürliche Weise die Maßstäbe zur Beurteilung von Bildung, Schule und Unterricht folgen. Diese Wirklich- keitskonstruktion durch PISA ist der zentrale Gegenstand der Untersuchung von Simone Bloem. Sie nimmt den Prozess der Wissensproduktion über die Leistungen der Bildungssysteme durch das OECD-Bildungsdirektorat sehr detailliert und tiefgreifend unter die Lupe. Sehr bedeutend für die Durchfüh- rung der Untersuchung war der direkte Zugang zur Arbeit des Direktorats durch die beobachtende Teilnahme über einen Zeitraum von vier Jahren hin- weg. Dadurch war es möglich, die Wissensproduktion des Direktorats sehr genau nachzuzeichnen. Sinnvoll ergänzt wurde die beobachtende Teilnahme durch Interviews mit 26 Experten, die als Manager, Statistiker oder Analyti- ker innerhalb des Direktorats oder als Berater arbeiten, und durch die Ana- lyse relevanter Dokumente, die von der OECD veröffentlicht wurden.

Die Studie ist in sechs Kapitel unterteilt. Nach der Einführung in Gegenstand und Fragestellung der Untersuchung (Kap. 1) stellt Kapitel 2 die OECD und ihr Bildungsdirektorat als maßgebliche Internationale Organisation vor, die zunehmenden Einfluss auf die Bildungspolitik ihrer Mitgliedsländer und die weiteren Teilnehmerländer an der PISA-Studie ausübt. Das OECD-Bil- dungsdirektorat ist ein Beispiel par excellence für globales Regieren mit Hilfe von „weichen“ Steuerungsinstrumenten. Kapitel 3 expliziert das zentrale Konzept des Regierens mit Zahlen, das durch PISA paradigmatisch exempli- fiziert wird. Kapitel 4 beschreibt und reflektiert die angewandten Methoden und ihre Triangulation: beobachtende Teilnahme, Experteninterviews und Analyse von Dokumenten. Kapitel 5 bietet einen Überblick über die PISA- Studie.

Kapitel 6 bildet das Herzstück der Studie. Es präsentiert die empirische Analyse der Wissensproduktion durch das OECD-Bildungsdirektorat. Wir erkennen, wie das Bildungsdirektorat zu einem sehr einflussreichen Akteur in der globalisierten Bildungspolitik werden konnte. Besonders bedeutsam war die Schaffung einer epistemischen Gemeinschaft rund um PISA, der das Direktorat ebenso angehört wie das Konsortium aus fünf Agenturen, die mit der Durchführung der Studie beauftragt sind, eine größere Anzahl von Sta- tistikern, Analytikern und Beratern der OECD sowie die PISA-Koordina- toren in den einzelnen Teilnehmerländern. Die Fähigkeit des OECD- Bildungsdirektorats, seine eigenen Interessen zu verfolgen, wird am Beispiel der neuen Studie PISA for Schools aufgezeigt. Als besonders wirkungsvoll ha- ben sich Strategien der Objektivierung und Legitimierung von PISA erwie- sen, so z. B. die Arbeit an der methodischen Strenge der Studie, die Trennung

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von Datenproduktion und Datenanwendung, die Abschottung der Studie ge- gen alternative Wege der Wirklichkeitskonstruktion und die Betonung, dass das Direktorat nur ein Agent sei, der die Vorgaben der Prinzipale im PISA Governing Board (PGB), der Vertretung der Teilnehmerländer, ausführt.

Wie sich Global Governance mit PISA darstellt, wird am Beispiel der wachsenden Anzahl von Beschäftigten und Publikationen des Direktorats dargelegt, an der Konzentration von Analysen innerhalb des Direktorats, an PISAs Funktion als Bezugsrahmen für den Leistungsvergleich von Bildungs- systemen und anhand der Verbindung von PISA mit der OECD-Agenda zur Entwicklung von innovationsfördernden Kompetenzen für die wissensba- sierte Wirtschaft.

Eine Schlussbetrachtung fasst die Ergebnisse der Studie zusammen und benennt Aufgaben für die künftige Forschung.

Die Untersuchung füllt eine Forschungslücke und bringt unser Wissen über die Konstruktion einer neuen Wirklichkeit von Bildung, Schule und Unterricht durch PISA erheblich voran. Ihr besonderer Beitrag ist der Blick auf die Wissensproduktion im OECD-Bildungsdirektorat. Die Studie bietet eine überzeugende Analyse, die neue Einblicke in die Funktionsweise von PISA erbringt. Besonders erhellend ist das Verständnis des PISA-Netzwerks als epistemische Gemeinschaft, die als Grundlage für die weithin anerkannte Position des OECD-Bildungsdirektorats und des PISA-Leistungsvergleichs von nationalen Bildungssystemen dient. Diese epistemische Gemeinschaft erleichtert sowohl die Konsensbildung über die Durchführung von PISA als auch die erfolgreiche Zurückweisung der verschiedensten Kritiken. Die Stu- die zeigt, wie es dem OECD-Bildungsdirektorat gelungen ist, eine neue Rea- lität der Bildung zu konstruieren, die eine prägende Wirkung auf die Bil- dungsdiskurse auf internationaler Ebene und in den nationalen Feldern der Bildungspolitik ausübt. Die Wirklichkeitskonstruktion durch PISA bestimmt weitgehend, was unter Bildung verstanden wird, welche Ziele die Bildungs- politik verfolgt und welches die richtigen Methoden der Governance von Bil- dung, Schule und Unterricht sind. So gesehen, verfügt das OECD-Bildungs- direktorat über eine Art Monopol der Definition von Bildung. Bedenken wir, dass Diversität die unabdingbare Ressource für die sozio-kulturelle Evolution der Menschheit ist, dann bedarf es der Mobilisierung oppositioneller Kräfte, die dieses Monopol aufbrechen. Demnach wäre es sehr angebracht, den er- wähnten kritischen Stimmen Gehör zu schenken. Das lehrt uns die hervor- ragende Studie von Simone Bloem.

Bamberg und Friedrichshafen im Oktober 2015 Richard Münch

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Inhalt

1 Einleitung: Gegenstand und Fragestellung 11

2 Die OECD und das Bildungsdirektorat 16

2.1 Die „Erfolgsgeschichte“ der OECD 16

2.2 Das Globale Regieren der OECD über „weiche“

Steuerungsformen 19 2.3 Die Bearbeitung bildungspolitischer Themen in der OECD 28

3 Regieren mit Zahlen 39

4 Feldzugang und Methode 52

4.1 Methode und Analyse der Studie 52

4.2 Grenzen der Forschung 62

5 Die PISA-Studie im Überblick 65

6 Die PISA-Strategie der OECD 82

6.1 Die OECD als handelnder Akteur in der Entwicklung

und Weiterentwicklung der PISA-Studie 82 6.2 Die Durchsetzung von Eigeninteressen des

OECD-Bildungsdirektorats am Beispiel der

neuen Studie PISA for Schools 87

6.3 Mechanismen und Strategien zur Objektivierung

und Legitimierung von PISA und dem OECD-Sekretariat 92 6.4 Globales Regieren des OECD-Bildungsdirektorats mit PISA 121 6.5 PISA als eine öffentlichkeitswirksame Erkenntnisproduktion 137 6.6 Die best practice-Strategie der OECD 173 6.7 Die kybernetische Stärkung der Humankapitaltheorie

als globales Leitbild von Bildung 182

7 Schlussbetrachtung 192

Literaturverzeichnis 206 Annex

1. Datum der geführten Interviews 214

2. PISA-Publikationen unter Herausgeberschaft der OECD 214

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1 Einleitung: Gegenstand und Fragestellung

Das Programme for International Student Assessment (PISA) erregte wie keine andere internationale Bildungsvergleichsstudie weltweit Aufsehen in der Politik, den Medien und der Wissenschaft. Koordinator und Produzent der Studie ist die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- wicklung (OECD), eine internationale Regierungsorganisation, die dem Grundsatz der evidenzbasierten Politikberatung folgt, um ihre Mitgliedsstaa- ten politisch zu beraten. Mit der PISA-Studie, an der nicht nur ihre 34 Mit- gliedsstaaten, sondern eine fast ebenso große Anzahl an sogenannten Part- nerländern teilnimmt, berät sie in globalem Maßstab Politik und Gesellschaft zu Bildungsfragen. Selbst deklariertes Ziel der OECD ist es dabei, mit PISA zu mehr Qualität, Effektivität und Effizienz von nationalen Bildungssyste- men beizutragen und die Mitgliedsländer im globalen Wettbewerb zu stär- ken (OECD 2010a; OECD 2014).

Eine wichtige Rolle in dem Zusammenhang spielt das OECD-Sekretariat bzw. genauer: das OECD-Bildungsdirektorat, unter dessen Leitung PISA steht, organisiert und durchgeführt wird. Es tritt im Zuge von PISA als eigen- ständig handelnder Akteur in Erscheinung, der die Implementierung und Weiterentwicklung der Studie koordiniert, Daten aufbereitet, analysiert und politische Schlussfolgerungen aus den Daten zieht. Hierzu gehört die seit der Veröffentlichung des ersten Ergebnisberichts im Jahr 2001 wachsende An- zahl an Berichten und Materialen zu PISA, die weitergehende Diskussionen stimulieren und spezifische Fragen und Probleme behandeln. Dazu gehört auch die globale Diffusion der PISA-Ergebnisse und im Zuge dessen die welt- weite Einspeisung politischer Schlussfolgerungen durch OECD Experten und Expertinnen auf Konferenzen und Veranstaltungen mit Akteuren aus Bildungspolitik, Bildungspraxis und Bildungsforschung. Die Analysen, Reviews und Berichte der OECD genießen dabei hohes Ansehen und eine fast unumschränkte Akzeptanz in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft.

OECD-Daten und -Analysen werden nicht nur von der Politik, sondern auch von der Wissenschaft genutzt (Carroll/Kellow 2011; Martens/Jakobi 2010).

Das OECD-Bildungsdirektorat stellt daher nicht zuletzt durch PISA einen bedeutenden Erkenntnis- und Wissensproduzenten, der sich dabei an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik positioniert. Über den Experten- status hinaus bringt sich die OECD-Spitze als einflussreicher Diskursprodu- zent ins Spiel, an der nationale Bildungspolitiken – wollen sie nicht Gefahr

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laufen, international isoliert und delegitimiert zu werden – nicht mehr vorbei können.

Als Koordinator und „Sprachrohr“ der PISA-Studie avancierte die OECD zu einem machtvollen Akteur in der internationalen Bildungspolitik und hat mit PISA einen zentralen Platz in der internationalen Bildungspolitikbera- tung eingenommen (vgl. u. a. Beiträge in Meyer/Benavot 2013 und Pereyra/

Kotthoff/Cowen 2011). Für Richard Münch (2009, S. 32) steht die OECD für eine „globale Forschungselite“, die sich das „Monopol(s) der legitimen Defi- nition von Bildung“ einbehält. PISA wirke als ein

„Dispositiv der Macht eines globalen Regimes der Wissenschaft“ und „insbeson- dere in der OECD haben sich ursprünglich spontane, lose und zerbrechliche Kon- takte von Bildungsexperten zu dauerhaften, engmaschigen und stabilen Netzwer- ken entwickelt, die über die deutlich größere Durchschlagskraft und Ausdauer in der Entwicklung, Diffusion und Umsetzung von Leitideen verfügen. Die OECD ist der Kristallisationspunkt dieser Aktivitäten.“ (Münch 2009, S. 32)

Das OECD-Sekretariat sei mit PISA zum „Weltbildungsministerium“ avan- ciert (Meyer 2011, zit. n. Kamens 2012, S. 123, eigene Übersetzung), das als

„Schiedsrichter einer globalen Bildungssteuerung“ auftrete und dabei die Rollen eines „Diagnostikers, Richters und Politikberaters“ einnehme (Meyer/

Benavot 2013, S. 10, eig. Übers.).

In Anbetracht der zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten, die sich seit den 2000'er Jahren mit der Bedeutung, den Konsequenzen und methodolo- gischen Aspekten der PISA-Studie auseinandersetzen, ist es erstaunlich, dass die strategische Nutzung der PISA-Studie und ihren Daten seitens des OECD- Sekretariats bisher kaum im Fokus der Forschung stand. Die vorliegende Forschungsarbeit unternimmt den Versuch, diese Forschungslücke zu schließen. Der Fokus der Arbeit liegt also weder auf den bildungspolitischen oder bildungspraktischen Konsequenzen der PISA-Studie, noch soll die Me- thodologie der Studie untersucht oder beurteilt werden. Vielmehr zielt die vorliegende Studie auf die empirische Untersuchung der Produktion und strategischen Diffusion von Erkenntnissen und Wissen durch das OECD- Bildungsdirektorat im Kontext von PISA ab.

Im Mittelpunkt stehen dabei die folgenden zentralen Aspekte.

Zum einen geht es darum zu beschreiben und zu verstehen, wie das OECD- Bildungsdirektorat PISA als Regierungsinstrument zur Orientierung und Steue- rung der internationalen Bildungspolitik nutzt. Dies wird anhand einer einge- henden Beschreibung und Analyse der Rolle des OECD-Bildungsdirektorats in der (Weiter-)Entwicklung und Nutzung der PISA-Studie aufgezeigt. Die OECD verfolgt mit PISA durchaus eigennützige Ziele und organisationseigene

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Interessen, die oftmals hinter der Fassade objektiven Wissens und des als neut- ral auftretenden Akteurs liegen. Die OECD bzw. das OECD-Bildungsdirek- torat ist vor diesem Hintergrund als ein strategisch und zielgerichtet handeln- der Akteur mit eigenen Wert- und Handlungsmaßstäben zu beschreiben und zu analysieren. Die PISA-Studie ist damit nicht nur ein politisches Instrument der teilnehmenden Länder, die nationale Politik zu informieren, sondern ist zugleich ein globales Regierungsinstrument der OECD, mithilfe dessen der in- ternationale Bildungsdiskurs gesteuert und die Autonomie des Akteurs unter- strichen wird.

Dieses eigenständige Regierungshandeln des OECD-Sekretariats, welches immer mehr ins Zentrum der „epistemischen Gemeinschaft“ (Haas 1992a) um PISA rückte, wird detailliert herausgearbeitet. Darüber hinaus werden die Mechanismen und Strategien aufgezeigt, die zur Objektivierung und Le- gitimierung dieser zentralen Bildungsvergleichsstudie beitragen. Denn die vermeintliche Objektivität und Legitimität des produzierten Wissens sowie des Direktorats sind die Voraussetzungen dafür, dass die PISA-Studie über- haupt die Funktion als Regierungsinstrument bekommen kann. Als zentral für die Art der Wissens- und Diskursproduktion erweist sich die Strategie eines Regierens mit Zahlen, die gleichsam eine unhintergehbare Objektivität und parteilose Neutralität repräsentieren. Damit wird eine epistemische Au- torität mitproduziert, die ihrerseits von den verantwortlichen Akteuren stra- tegisch eingesetzt wird, wie die Interviews gezeigt haben. Insofern wird die Nutzung der PISA-Studie als organisationseigenes Regierungsinstrument an der zunehmenden Bedeutung der PISA-Studie anhand der Aktivitäten des OECD-Bildungsdirektorats illustriert und verdeutlicht. PISA-Daten bilden in diesem Sinne die empirische Grundlage einer Vielzahl von OECD Peer Reviews und Berichten und stellen damit eine empirische Stütze des OECD- Diskurses dar, wie am Beispiel einiger Schlüsselpublikationen des OECD- Bildungsdirektorats nachgezeichnet wird.

Zudem beleuchtet diese Arbeit den Erkenntnisproduktionsprozess des OECD-Bildungsdirektorats auf Grundlage von PISA-Daten und richtet das Augenmerk auf die Prozesse der Datenaufbereitung, -analyse, -interpretation und -kommunikation. Untersucht wird dabei, wie das OECD-Bildungs- direktorat hierbei den Anspruch an die wissenschaftliche Güte der Ergeb- nisse und Schlussfolgerungen sowie das Ziel, möglichst hohe gesellschaftli- che, mediale und politische Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, zu integrie- grieren versucht. Dem folgt eine kritische Auseinandersetzung mit der tischen Beratung des OECD-Bildungsdirektorats auf der Grundlage von PISA, insbesondere hinsichtlich Aussagen zur Wirksamkeit von bildungspo- litischen und bildungspraktischen Maßnahmen und nationalen Besonder- heiten sowie der Identifikation von „best practices“.

Zur Explikation der Befunde der empirischen Untersuchung werden ver-

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schiedene Theoriestränge verfolgt und miteinander kombiniert. Es handelt sich insbesondere um die International Governance Forschung, welche inter- nationale Organisationen wie die OECD als eigenständige Akteure betrachtet und der OECD insbesondere über weiche Steuerungsmechanismen wesentli- che Einflusskraft zuschreibt (vgl. Barnett/Finnemore 2004; Jessop 2008ab;

Martens/Jakobi 2010; Porter/Webb 2007; Woodward 2009). Darüber hinaus werden Arbeiten aus dem Bereich der Governmentality Studies sowie der Sozi- ologie der Quantifizierung herangezogen, die theoretische Ansätze zur Erklä- rung und Untersuchung eines Regierens mit Zahlen liefern (vgl. Desrosières 2008; Espeland/Sauder 2007; Espeland/Stevens 2008; Foucault 2008; Rose/

Miller 1991).

Die vorliegende Forschungsarbeit stützt sich auf empirische Befunde, die mittels „beobachtender Teilnahme“ (Soulé 2007) im OECD-Bildungsdirek- torat über einen mehrjährigen Zeitraum, über zahlreiche Experteninterviews mit OECD-Angestellten sowie über eine Dokumentenanalyse von OECD- Publikationen zu PISA generiert wurden.

Die Arbeit gliedert sich wie folgt. Im nachstehenden zweiten Kapitel wird die Struktur und Arbeitsweise der OECD und des OECD Bildungsdirektorats im Speziellen beschrieben. Der Aufstieg der OECD wird in historischer Perspek- tive nachgezeichnet und insbesondere für den Bildungsbereich erörtert. Be- tont wird dabei die Bedeutung weicher Steuerungsmechanismen. Für die OECD sind dies allen voran ihre organisationseigenen Daten und Analysen.

Kapitel drei stellt theoretische Konzepte zu Regieren mit Zahlen vor. Hierbei wird zum einen der konstitutive Charakter von Zahlen herausgestellt – eine Eigenschaft von Zahlen und zahlenbasierten Analysen und Schlussfolgerun- gen, die für den Datennutzer weitgehend im Hintergrund bleibt. Dieser Um- stand verstärkt zum anderen den autoritativen Charakter von Zahlen, dem- nach Statistiken die Realität neu konstituieren und damit Einfluss auf die Wahrnehmung und Handeln nehmen. Im Anschluss wird in Kapitel vier das methodische Vorgehen der Forschungsarbeit erörtert und begründet. Die zum Einsatz gekommenen Methoden der „beobachtenden Teilnahme“, Ex- perteninterviews und Dokumentenanalyse werden dabei im Einzelnen vor- gestellt. Das fünfte Kapitel beschreibt die PISA-Studie als ein politisches Pro- jekt (und nicht nur als eine wissenschaftliche Studie), das sich durch einen starken Anwendungsbezug sowie der Einbindung von Akteuren aus ver- schiedenen Bereichen, wie Politik, Gesellschaft und Wissenschaft kennzeich- net. Wie auch die PISA-Studie selbst, situiert sich das OECD-Bildungs- direktorat an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik. Kapitel sechs widmet sich schließlich den Ergebnissen der vorliegenden Forschungsarbeit.

In sieben Unterkapiteln werden die PISA-Strategie der OECD und die Aus- bildung eines PISA-Regierungskomplexes im OECD-Bildungsdirektorat

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dargelegt. Die Mechanismen und Strategien, die zum Aufbau eines solchen PISA-Komplexes beitragen werden in der Schlussbetrachtung in Kapitel sechs nochmals zusammengefasst und diskutiert.

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2 Die OECD und das Bildungsdirektorat

2.1 Die „Erfolgsgeschichte“ der OECD

Die OECD, Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- lung, wurde im Jahr 1961 gegründet. Sie ging aus der OEEC, der Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit, hervor, die 1948 von 18 eu- ropäischen Staaten mit dem Ziel gegründet wurde, den von den USA finan- zierten Marshall Plan zum wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas praktisch umzusetzen. Ihr ursprüngliches Mandat verlor jedoch nur wenige Jahre nach ihrer Gründung an Bedeutung, da der Wiederaufbau Europas zügig verlief.

Hingegen stellte der Kalte Krieg die internationale Staatengemeinschaft schon bald vor neue Herausforderungen. Um ihre Existenz zu sichern, musste die Organisation ihre Ziele und Handlungsprioritäten neu definieren.

Als Regierungsorganisation der westlichen Regierungsstaaten sollte die OECD schließlich den politischen und wirtschaftlichen Bedrohungen der ehemaligen Sowjetunion entgegentreten und die wirtschaftliche Entwicklung des Westens weiter vorantreiben (Carroll/Kellow 2011, S. 4).

Noch vor offizieller Gründung der OECD im September 1961 traten Ka- nada und die USA der OEEC bei, die damit zu einer internationalen Regie- rungsorganisation wurde. Die Konvention von September 1961 überführte die OEEC in die OECD und hebt seitdem den Bedarf stetiger Erneuerung und Aktualisierung der Ziele und Tätigkeitsfelder der Organisation hervor, um als flexibles Instrument den Interessen ihrer Mitgliedsländer dienen und auf die sich stetig wandelnden wirtschaftlichen Entwicklungen reagieren zu können. Gerade in dieser Flexibilität wird bis heute eine Besonderheit und Stärke der OECD gesehen (ebd., S. 65).

Die OECD entwickelte sich in den 1960‘er Jahren zunächst zu einer der bedeutendsten internationalen Regierungsorganisationen und Institutionen, die globale wirtschaftliche Beziehungen sowie internationale Handelsab- kommen koordinierte (ebd., S. 63 f.). Sie arbeitete zudem neben der Organi- sation der Vereinten Nationen (UNO) und der Weltbank im Bereich der in- ternationalen Entwicklungspolitik. Die Organisation baute ihre Aktivitäts- bereiche über die Jahre aus, sodass sich diese heute auf Umwelt- und Ener- giepolitik, Landwirtschaft, Korruption, Migration und vor allem Bildung er- strecken. Den wirtschaftlichen Fortschritt zu unterstützen, blieb dabei zent- rales Ziel der Organisation.

Über die Jahre wuchs die Mitgliederzahl der OECD, beginnend mit dem

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Beitritt Japans im Jahr 1964. Aktuell hat die Organisation 34 Mitglieder und unterhält spezielle Partnerschaften mit Brasilien, Indien, China und Russ- land1. Die OECD finanziert sich über Beiträge ihrer Mitgliedsländer, deren Höhe in Abhängigkeit von der wirtschaftlichen Größe des Landes berechnet wird. Die Vereinigten Staaten tragen knapp 22 Prozent des jährlichen Bud- gets bei, gefolgt von Japan und Deutschland. Das Jahresbudget der Organi- sation im Jahr 2014 beläuft sich auf 357 Million Euro2.

Die Mitgliedsländer zeichnen sich dabei durch eine relative hohe Homo- genität hinsichtlich ihrer sozio-ökonomischen Entwicklung aus; stärker als bei anderen internationalen Organisationen, wie beispielsweise der Organi- sation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) oder der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Mit Ausnahme der Türkei und Chile, gehören alle OECD-Mitgliedsländer zu solchen mit sehr hohem Bruttosozialprodukt und einem hohen Stand bezüglich ihrer Entwicklungs- und Sozialindizes. Die OECD wird deshalb von Kritikern nicht selten als „rich man‘s club“ bezeichnet. Während sich ihr Einflussbe- reich und ihre Aktivitäten anfangs, mit Ausnahme der Entwicklungsarbeit, weitgehend auf den OECD-internen Raum beschränkte, kooperiert die OECD heute zunehmend mit Partnerländern und Institutionen (OECD 2011a, S. 22 f.). Auch an der PISA-Studie nehmen knapp 40 Nicht-OECD- Mitgliedsländer, sog. Partnerländer und -wirtschaften, teil.

Die OECD hat ihren Hauptsitz in Paris, wo das OECD-Sekretariat ange- siedelt ist. Darüber hinaus betreibt die OECD Büros in Washington, Mexiko Stadt, Berlin und Tokio. Die unterschiedlichen Themen- und Politikfelder werden von zwölf Direktoraten des OECD-Sekretariats bearbeitet, darunter das OECD-Bildungsdirektorat (Directorate for Education and Skills), das bil- dungspolitische Themen bearbeitet und auf welchem der Fokus dieser Arbeit liegt.

Die OECD unterhält einen eigenen Verlag, der jährlich etwa 250 Publika- tionen herausbringt3. Der Verlag wird vom sogenannten Public Affairs and Communications Department geleitet. Die Publikationen werden in der Regel auf Englisch verfasst und erscheinen zudem in Französisch, den beiden Amtssprachen der OECD4. Die meisten Länder haben einen eigenen Über- setzungsdienst in der OECD, der ausgewählte Publikationen in die jeweilige

1 Die Liste der Mitgliedsländer sowie ihr Beitrittsjahr finden sich unter:

http://www.oecd.org/about/membersandpartners/ (abgerufen am 31.8.2015) 2 http://www.oecd.org/about/budget/ (abgerufen am 31.8.2015)

3 http://www.oecd.org/about/publishing/ (abgerufen am 31.8.2015)

4 Seit einiger Zeit ist ein Rückgang an übersetzten Publikationen zu beobachten, da insbeson- dere für nationale Gutachten, sog. National Reviews kaum Nachfrage nach französischen Übersetzungen besteht. Die Satzung der OECD hält die Gleichstellung von Französisch und

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Landessprache übersetzt, insbesondere nationale Gutachten und Schlüssel- publikationen.

Im OECD-Sekretariat in Paris arbeiten zirka 2500 Personen mit unter- schiedlichem nationalem Hintergrund. Fest angestellte Mitarbeiter („official staff“) müssen dabei die Nationalität einer der Mitgliedsländer besitzen. Die OECD kategorisiert Anstellungen in vier große Kategorien sowie einzelne Unterkategorien. Im Einzelnen handelt es sich (1) um „Professional Staff“, worunter insbesondere Analystinnen sowie Manager der mittleren und hö- heren Führungsebene fallen. Etwa ein Drittel der Angestellten situieren sich auf diesem sogenannten A-Level („Professional Staff“). Einstellungsvoraus- setzung für diese Kategorie ist ein universitäre Ausbildung (ein Doktortitel ist häufig) sowie mehrere Jahre Berufserfahrung, wobei vorherige Anstellun- gen in internationalen Organisationen, Ministerien und nationalen For- schungsinstituten präferiert werden. (2) Darüber hinaus verfügt die OECD über sogenannten „Linguistic Staff“, bestehend aus Übersetzerinnen und Dolmetschern, (3) „Support und Technical Staff“, d.h. Assistenten sowie, auf höhere Ebene, Technikerinnen und Statistikerinnen, sowie (4) eine weitere Kategorie unterschiedlicher anderer Anstellungsformen, worunter sowohl Praktikanten als auch Beraterinnen fallen.

Generalsekretär der Organisation ist Angel Gurría, ein mexikanischer Staatsbürger mit wirtschaftswissenschaftlichem Hintergrund, der seit 2005 die Organisation leitet.

Höchste Entscheidungsinstanz der OECD ist das sogenannte OECD Coun- cil, das sich aus je einem Repräsentanten der Mitgliedsländer und einem Re- präsentanten der Europäischen Kommission zusammensetzt. Es steht unter dem Vorsitz des OECD-Generalsekretärs. Das Council entscheidet über Kern- fragen, Prioritäten und Aktivitäten des OECD-Sekretariats. Entscheidungen bezüglich der Aktivitäten der einzelnen Direktorate und besonderen Organen werden von spezialisierten Komitees getroffen, die sich ebenfalls aus Repräsen- tantinnen ihrer Mitgliedsstaaten unter Vorsitz des OECD-Sekretariats zusam- mensetzen. Die Komitees fungieren damit innerhalb der OECD als Raum für Verhandlungen und Übereinkünfte zwischen Mitgliedern der Regierungen der einzelnen Mitgliedsstaaten (Caroll/Kellow 2011, S. 9 f.). Wie die OECD in ihrer Selbstbeschreibung herausstellt, treffen jährlich etwa 40 000 hochrangige Be- amte nationaler Regierungen auf solchen Komitee Meetings zusammen. Dar- über hinaus existieren eine Vielzahl an weiteren Arbeits- und Expertengrup- pen. Die Aktivitäten des OECD-Sekretariats werden in zirka 250 Komitees,

Englisch in der OECD fest, sodass lange grundsätzlich alle Publikationen auch auf Franzö- sisch erschienen.

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Arbeits- und Expertengruppen mit je spezifischen Leitungs- und Entschei- dungsstrukturen verhandelt und entschieden5.

Grundsätzlich ist die Organisation mit keinerlei legalen oder finanziell ver- bindlichen Steuerungs- und Entscheidungskompetenzen ausgestattet und kann damit keine politisch verbindlichen Gesetze verabschieden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Regierungsmodus der OECD weniger effektiv wäre.

Vielmehr lenkte die sichtbare Wirksamkeit der OECD-Politik den Fokus der sozial- und politikwissenschaftlichen OECD-Forschung auf sogenannte „wei- chen“ Formen des Regierens (Martens/Jakobi 2010, S. 2), etwa durch ihre Po- litikanalysen und statistischen Indikatoren (Barnett/Finnemore 2004; Mar- cussen 2004ab; Martens 2007; Martens/Jakobi 2010; Porter/Webb 2007;

Woodward 2009). Auf diese hocheffizienten, wenngleich „weichen“ Steue- rungsformen der OECD wird im folgenden Kapitel näher eingegangen.

2.2 Das Globale Regieren der OECD über

„weiche“ Steuerungsformen

Die OECD beschreibt sich als eine politische Beratungsorganisation, die, ei- nem „evidenzbasierten“ Ansatz6 folgend, Gesellschaft und Politik berät („evi- dence-based policy advice“). Sie berät damit auf der Grundlage empirischer Befunde oder anderer Arten von Wissen oder Erkenntnissen. OECD-Gene- ralsekretär Angel Gurría erklärt in seiner Ansprache im Rahmen der Esto- nian Academy of Sciences in Tallinn am 2. Juni. 2010 wie folgt:

„Indeed, the main value-added of the OECD is to provide evidence-based policy ad- vice, based on comparative analysis, a multidisciplinary approach and peer learn- ing. Providing policy advice and helping countries agreeing on rules of the game and standards is what the OECD is here for. The OECD has no carrot, nor stick. It does not provide credit or grants, nor does it inflict sanctions. OECD’s only strength lies in persuasion. It is a soft but very effective power. “ (Gurría 20107)

5 http://www.oecd.org/about/whodoeswhat/. (abgerufen am 31.8.2015)

6 Es sei darauf hingewiesen, dass das Substantiv „Evidenz“ nicht nur die Übersetzung des engli- schen Worts „evidence“ im Sinne von Beweis oder Beleg, oder im juristischem Sprachgebrauch als Zeugenaussage, bezeichnet, sondern auch den philosophischen Begriff von „Evidenz“ be- zeichnen kann, im Sinne von Offensichtlichkeit oder Selbstverständlichkeit. Damit ist die deut- sche Übersetzung von „evidence-based policy“ als „evidenzbasierte Politik“ eigentlich nicht korrekt wiedergegeben, wird aber in Anbetracht fehlender Alternativen dennoch verwendet.

7 http://www.oecd.org/about/secretary-general/theroleoftheoecdinprovidingindependentana- lysis.htm (abgerufen am 31.8.2015)

(21)

Aus Perspektive des Soziologischen Neoinstitutionalismus traten internatio- nale Organisationen, wie die OECD, als Akteure in Erscheinung, die globale Probleme definieren und Lösungsvorschläge offerieren. Die zunehmend be- deutende Stellung internationaler Organisationen ging einher mit dem Ver- lust an Kontrolle und Legitimität des Nationalstaats in der Weltgesellschaft, sodass neue Managementformen und Organisationsstrukturen notwendig wurden. Um moderne Gesellschaften zu verstehen und ihre Zukunft entspre- chend zu planen wurde die Reduktion von Informationen zunehmend be- deutender um auf diese Weise ein „Mehr an Wissen“ zu erzielen, das zur Be- obachtung und Steuerung des globalen Systems herangezogen werden kann (Jessop 2008a, S. 13). Einem solchem Ansatz liegt die Prämisse zugrunde, dass die Hyperkomplexität der Welt nicht „in Echtzeit“ beobachtet und er- klärt werden kann. Eine stetige Komplexitätsreduktion durch Selektion und Fokussierung auf bestimmte Aspekte der Welt und ihren Verbindungen ist deshalb notwendig.

Als konkretes Beispiel, wie dies in den Aktivitäten der OECD zu beobach- ten ist, kann das GPS-Projekt des OECD-Bildungsdirektorats angeführt wer- den. Die Namensgebung erfolgte in Anlehnung an GPS-Navigationssysteme, welches dem Nutzer nach Eingabe bestimmter Suchanfragen, dazu passende, ausgewählte Informationen in „Echtzeit“ anzeigt. Die Plattform richtet sich vor allem an Entscheidungsfinder der nationalen Politik und soll ihre Ent- scheidungsfindungen zu bestimmten Bereichen der Bildungspolitik orientie- ren und leiten. Jene Erkenntnisse, die in das System eingegeben werden, stammen aus bisherigen Forschungsarbeiten und erstellten Gutachten der OECD sowie Indikatoren der quantitativen Datensets der OECD.8

Die Komplexitätsreduktion durch Selektion und Fokussierung auf be- stimmte Aspekte führt zu einem spezifischen Blick auf die Welt, der die Wahrnehmung der Welt sowie die Generierung von Erkenntnissen lenkt und damit Realität konstituiert.

„Informing this approach is recognition of the hypercomplexity of the natural and social worlds and the impossibility of observing and explaining these worlds (and their interaction) in real time. This requires continuing processes of complexity re- duction as a condition of ‘going on in the world’ – with each process entailing a focus on selected aspects of the world, leading to different kinds of lived experience, and entailing different chances of ignoring other aspects of reality that are crucial to the success of specific strategies, projects, or policies.“ (Jessop 2008b, S. 16, Hervorh. Orig.)

8 http://gpseducation.oecd.org. (abgerufen am 31.8.2015)

(22)

Nach dem Prinzipal-Agenten Modell agieren internationale Organisationen als Agenten, die vom Prinzipal, also ihren Mitgliedsstaaten, damit beauftragt werden, ein solches neu benötigtes Wissen zu liefern, welches die Staaten an- derweitig nicht beziehen können. Internationalen Organisationen muss da- bei ein gewisser Grad an Autonomie zugestanden werden, um die Aufgaben, für welche sie beauftragt werden, entsprechend erfüllen zu können (Bar- nett/Finnemore 2004, S. 4). Damit können sie aber auch zu „eigenen Autori- täten“ werden, die gegenüber Nationalstaaten autonom handeln (ebd., S. 156).

Sie bilden eigene „Bürokratien“ (ebd., S. 156) und „institutionelle Dynamiken“

mit „eigene Agenden“ aus (Nagel et al. 2010, S. 6). Internationale Organisatio- nen wie die OECD treten folglich als „aktive Agenten globalen Wandels“ her- vor, die „neue politische Ideen und Programme entwickeln, Krisen managen und Prioritäten für gemeinsame Aktivitäten setzen, die ansonsten nicht exis- tieren würden“ (Barnett/Finnemore 2004, S. 156, eig. Übers.).

Haas (1992a) versucht mit seinem Konzept der „epistemischen Gemein- schaften“ („epistemic communities“), neue Formen der politischen Steue- rung im internationalen System über die wachsende globale Autorität be- stimmter Expertengruppen zu erklären, die sich in besonderem Maße in der Belegschaft internationaler Organisationen wiederfinden. Solche epistemi- schen Expertengemeinschaften dienen quasi als Ersatzsicherheiten in der po- litischen Entscheidungsfindung, die zunehmend mit Unsicherheit und Kom- plexität konfrontiert ist. Staaten wenden sich demnach an epistemische Gemeinschaften, um Unsicherheiten zu reduzieren, indem sie der nationalen Politik Optionen und spezifische Politiken offerieren, einen Rahmen für Austausch und Kollaboration bieten und nicht zuletzt helfen, staatliche Inte- ressen zu definieren9 (ebd., S. 2). Sie erfüllen damit eine Problemlösefunk- tion. Eine epistemische Gemeinschaft ist ein professionelles Netzwerk, dem

9 Wie Haas anmerkt, ist insbesondere das Potential epistemischer Gemeinschaften, national- staatliche Interessen zu definieren, stark davon abhängig, aus welchen Gründen sich die Po- litik an epistemische Gemeinschaften wendet. In einigen Fällen geht es vor allem darum, be- stimmte Politiken zu legitimieren bzw. die politische Gegenseite zu beschuldigen, sodass sich der Beitrag epistemischer Gemeinschaften wesentlich auf die Bereitstellung von Informatio- nen beschränke auf die Entscheidungsträger zurückgreifen können. Wie Haas jedoch eben- falls betont, können epistemische Gemeinschaften Ziele und Visionen durchsetzen, die von Entscheidungsträgern ursprünglich nicht angestrebt wurden (Haas 1992a, S. 15 f.). Haas (1992b) zeigte am Beispiel der Regulierungen zum Schutz der Ozonschicht, wie internationale Expertennetzwerke Einfluss auf politisches Handeln nehmen, ohne dass die von ihnen ver- tretenen Sichtweisen und Erklärungen allgemein geteilt und anerkannt sein müssen oder durch Wahlen legitimiert sind. Am Beispiel der Ozonschicht-Problematik erläutert Haas, wie Expertengruppen das Problem definierten und Lösungen offerierten, die in internationales Recht umgesetzt wurden.

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