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Wie können ungarische Frauen etwas verlieren, das sie niemals hatten?

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Wie können ungarische Frauen etwas verlieren, das sie niemals hatten?

Sozialpolitik im Realsozialismus

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Einführung

Weil es in Ungarn keine Frauenbewegung gab und auch keine feministische Kritik an den Sozialwissenschaften und die Öffentlichkeit darüber hinaus weitgehend männlich dominiert war, wurden Frauenthemen bzw. Ge- schlechterverhältnisse als rein sozialpolitische Fragen

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behandelt. Das Le- ben von Frauen wurde unter staatlichem oder systemintegrativem (nicht un- ter sozialintegrativem) Aspekt betrachtet. D.h., es ging darum, welche Rolle die Frauen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene auszufüllen hatten, niemals aber um den Wandel der Beziehungen zwischen Männern und Frauen im Binnenverhältnis. Dabei hätte eine Auseinandersetzung mit individuellen Problemen in der Privatsphäre für die Sozialwissenschaften doch die Mög- lichkeit geboten, gegen die (ungewollten) Folgen kommunistischer Ideolo- gie zu protestieren. Und es wäre auch deutlich geworden, daß die »Koloni- sierung der Lebenswelt« (Habermas) im 20. Jahrhundert zu einem Charak- teristikum moderner Gesellschaften geworden ist, unabhängig von der jeweiligen Ideologie. - Die Lebensqualität im Privatbereich blieb unberück- sichtigt, und diese Tradition macht uns immer noch zu schaffen. Daß sich in diesem Punkt nichts veränderte, war eine der schwersten Enttäuschungen im Demokratisierungsprozeß seit 1989. Nunmehr scheint erwiesen, daß eine humane Gesellschaft - in deren Versprechen die Lüge des Staatssozialismus bestand - durch die neue politische Freiheit auch nicht zu erreichen ist, und daß die alte Gewohnheit des Lügens politisch nicht außer Kurs geraten ist.

Wie der »sozialistische Weg zur Befreiung der Frau«

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aussehen sollte, zeigte sich in der staatssozialistischen Sozialpolitik, in der Beschäftigungspo- litik und in der pronatalistischen Bevölkerungspolitik. Deren Konsequen- zen für die Privatsphäre sind allerdings kaum jemals wahrgenommen oder artikuliert worden. Da westliche Feministinnen die strittigen Punkte außer acht ließen, glaubten sie jahrzehntelang, der Sozialismus sei ein Paradies für die weibliche Bevölkerung.

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Die beinahe erreichte Vollbeschäftigung (und Vollzeitbeschäftigung), der bezahlte Mutterschaftsurlaub mit Arbeitsplatzsicherung, der nahezu voll- ständige Familienlastenausgleich (Kindergeld), Kinderversorgungseinrich-

Feministische Studien 2/96

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36 Maria Adamik tungen (Krippen und Kindergärten), das Krankengeld bei Krankheiten der Kinder konnten als wesentliche Errungenschaften und als generöse Leistun- gen des Staatssozialismus vermeldet werden. Unter all den sozialen Errun- genschaften haben die Frauenerwerbsarbeit und die Verfügbarkeit von Kin- derbetreuungseinrichtungen retrospektiv gesehen eine nicht mehr umkehr- bare Emanzipation in Gang gesetzt. Der bezahlte Mutterschaftsurlaub scheint sich sowohl zugunsten des ökonomischen Systems als auch zugun- sten derjenigen Männer ausgewirkt zu haben, die nur in der häuslichen Sphäre gegenüber Frauen (Mutter und Ehefrau) eine Domäne für den Aus- druck ihrer Vorherrschaft fanden.

Nach dem Scheitern der einstigen sozialen Ziele und Mittel bleibt doch die Frage, welche Art von Geschlechterbeziehungen sie hinterlassen haben, auf die die neue Demokratie aufbauen kann, um eine humane Sozialpolitik zu schaffen. Ich möchte der Auffassung widersprechen, derzufolge Probleme von Frauen als Fragen der Sozialpolitik erschöpfend abgehandelt werden können. Auch wenn ich versuchen werde, den sozialpolitischen Aspekt auf- zugreifen, soll es doch zugleich um die Frage gehen, ob es nicht von der Ideologie sozialer Systeme abhängt, wie Frauen behandelt und wie ihre Be- dürfnisse gedeckt werden.

Der sozialistische Wohlfahrtsstaat und sein Ende

Häufig wird der Wohlfahrtsstaat ausschließlich unter quantitativen Aspek- ten behandelt, als ob sich an den Ausgaben mehr oder weniger Gleichheit messen ließe. Dabei werden aber leicht »die qualitativen Unterschiede in den Auswirkungen staatlicher Vorsorge über die Zeit und von einer Nation zur anderen vernachlässigt« (Orloff 1993). Es ließe sich hinzufügen, daß wir unter qualitativen Unterschieden auch die bestehenden, kulturell und histo- risch gegebenen Geschlechterverhältnisse zu verstehen haben, als einen Kontext, in dem staatliche Sozialpolitiken operieren. Da sowohl Planwirt- schaft als auch Sozialpolitik der politischen Linie untergeordnet waren, konnte keine von ihnen ihre zur Modernisierung notwendige »originäre«

Aufgabe erfüllen, z.B. die nach dem Zweiten Weltkrieg immer noch vorhan- dene Armut der Massen zu überwinden. In der Nachkriegszeit hätte es dazu einer gemeinsamen Anstrengung der europäischen Gesellschaften bedurft.

Wenn die Modernisierung auch soziale Rechte eingeschlossen und auf die Privatsphäre abgezielt hätte, dann würde der demokratische Übergang heu- te weniger schmerzhaft verlaufen und würde von Frauen stärker unterstützt werden.

Wie war es nun zuvor um die sozialpolitische Situation bestellt?

- Es gab keine persönlichen Einkommenssteuern bis 1988/89. Die Löhne

wurden künstlich niedrig gehalten und bestimmte Produkte und Dienst-

leistungen stark subventioniert. Vor der Einführung des Einkommens-

steuersystems gab es auch kein unabhängiges Sozialbudget. Noch heute

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existiert es lediglich formell, und seine Unabhängigkeit vom Staatshaus- halt ist wegen des großen Defizits sehr gering. Diese nun schon lang an- haltende »vorübergehende« Situation verschafft aber der Regierung ei- nen gewissen Spielraum, die eigenen riesigen Defizite von einem Etat zum anderen zu verschieben.

- Dem Prinzip der Voll- und Vollzeitbeschäftigung und dem Familienmo- dell mit zwei Ernährern entsprach es, daß Sozialhilfe nicht gewährt wur- de (sie wurde erst 1992 in das Sozialgesetz eingeführt). Die Mehrzahl der Leistungen war lohnbezogen und direkt an Erwerbstätigkeit gebunden, d. h. an den wichtigsten Arbeitgeber, den Staat.

- Das sozialistische System wollte die aus der Vollbeschäftigung erwach- senden Probleme nicht zur Kenntnis nehmen, wie etwa die Verbreitung von Einelternfamilien, ungleiche Bildungs- und Erziehungsvorausset- zungen etc. Der Gebrauch des Wortes »Armut« war bis in die 80er Jahre verboten, und die mangelhafte individuelle Existenzsicherung wurde nicht wahrgenommen.

- Das Bildungsniveau der Frauen stieg kontinuierlich, die Erwerbsquote (bei Frauen zwischen 15 und 54 Jahren) lag 1980 bei 80% (Adamik 1991 a). Welche Auswirkungen die »moderne« weibliche Identität - gut ausgebildeter, erwerbstätiger, sozial mobiler Frauen - auf das Geschlech- terverhältnis hatte, wurde nicht zur Kenntnis genommen. Ihren »moder- nen« männlichen Partner beeindruckten die veränderten Erwartungen der Frauen offenbar nicht. So machte die ungarische Gesellschaft mit ih- ren grundsätzlich unveränderten patriarchalen Geschlechterrollen in ei- ner gewissen Phase der Entwicklung mehrere Versuche einer Neuein- schätzung des sozialistischen Weges der Frauenemanzipation, der ja tatsächlich historisch ohne Vorbild war.

Die relativ großzügigen sozialen Leistungen in der Kinderversorgung, von denen schon die Rede war, wurden allesamt als Privilegien von Frauen inter- pretiert oder doch zumindest als Programme zum Nutzen der Mütter ausge- legt (zur Elternpolitik insgesamt vgl. Adamik 1991 a). Die Scheidung galt als abweichendes Verhalten und nicht als die einzige Möglichkeit zumeist weib- licher Individuen, ihre »Menschenrechte« wahrzunehmen oder sich einen Rest menschlicher Würde in der traditionell männlich dominierten Kultur einer antidemokratischen Gesellschaft zu bewahren. Die zurückgehende Geburtenrate, die weit über der ehelichen Fertilität lag, die steigende Schei- dungsquote sowie die hohe Abtreibungsquote wurden weder als Teil einer allgemeinen europäischen Entwicklung gesehen, noch als Anzeichen für Probleme des Geschlechterverhältnisses unter dem Staatssozialismus.

Sozialwissenschaftliche Untersuchungen wiesen darauf hin, daß die Ur-

sache für diese demographischen Phänomene vermutlich in der mangelhaf-

ten Implementierung der weiblichen Doppelrolle liege. Dies ist ein Ansatz-

punkt, von dem aus über den zwar verdeckten, aber doch stark ausgeprägten

Konservatismus des Staatssozialismus nachgedacht werden kann. Je mehr

man sich außerdem in Ungarn dem endgültigen Scheitern des Sozialismus

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38 Mária Adamik näherte, desto deutlicher konnten frauenfeindliche Haltungen ausgemacht werden.

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Nach all den öffentlichen Debatten über Bevölkerungspolitik, die eine Steigerung der Geburtenrate zum Ziel hatten, kam Ungarn durch eine Re- gierungskoalition mit christlichen Mitte-Rechts-Parteien in das Anfangssta- dium des Übergangs. Abgesehen von der sozialistischen Partei gab es im neuen freigewählten Parlament - dessen Mitglieder zu 93 % Männer waren

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- ein starkes Interesse, das »sozialistische Erbe« in allen seinen Teilen zu beseitigen. Dazu gehörte die früher geförderte Frauenerwerbstätigkeit.

Geld- und Sachleistungen für die Kinder wurden gekürzt und soziale Dien- ste für die Älteren beschnitten. Es entsprach eigentlich nicht dem ideologi- schen Interesse einer konservativen Regierung - die sich um das Überleben der Nation sorgte - Sozialleistungen für Kinder und Eltern abzuschaffen.

Von Seiten der Sozialversicherungen mit ihrer neu errungenen Autonomie wurde jedoch verlautbart, daß sie ab 1993 als nicht beitragsabhängige Lei- stungen aus deren Fonds nicht mehr bezahlt werden könnten. Gleichzeitig sah sich die Regierung gezwungen, die Staatsschulden abzubauen bzw. nicht über das von der Weltbank vorgegebene Limit hinauszugehen. Der Rück- gang der Frauenerwerbstätigkeit richtete sich gegen die Interessen der Be- völkerung, denn 1992 lebten 22,6% der über 16jährigen unter der Armuts- grenze, dazu auch noch ein Drittel aller Kinder, zusammen also 27 % der Gesamtbevölkerung. Weitere 15% befinden sich an der unteren Grenze des Lebensstandards. So konnten es sich Familien, ungeachtet der politischen Orientierung oder wiederbelebter traditioneller Frauenbilder, einfach nicht leisten, von einem Gehalt zu leben. Und heute können sie es erst recht nicht.

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Wichtige sozialpolitische Weichenstellungen wurden in den Jahren der ersten frei gewählten konservativen Regierung (1990-1994) gesetzlich ver- ankert. Die Sozialversicherungsreform setzte mit einer sogenannten Profil- bereinigung ein. Die Sozialgesetzgebung stellte sich auf das Versi- cherungsprinzip um. Der Versicherungsfonds wurde in Alters- und Gesund- heitsfürsorge aufgeteilt. Die Finanzierung des Kindergeldes - auf das ironischerweise seit 1990 alle Eltern einen Anspruch erhielten - und des Mutterschaftsurlaubs wurde vom zentralen Staatshaushalt übernommen, hier blieben zwei Jahre lang, bis April 1996, die ursprünglichen Leistungsan- sprüche erhalten. Trotz der übrigen Veränderungen blieben die Beitragssät- ze von Arbeitnehmern und Arbeitgebern auf demselben Niveau (zwischen

13 und 10 % der Löhne), durch die Einrichtung eines gesonderten Arbeitslo- senfonds wurden sie schließlich noch um 1-2% erhöht. Die Dauer des Lei- stungsbezugs (Krankengeld, Arbeitslosenunterstützung) wurde gesetzlich gekürzt, der Umfang der Leistungen beschnitten und der Kreis der Berech- tigten eingeschränkt. Gegenwärtig gibt es überhaupt keine klare Informa- tion darüber, wer welche Ansprüche hat.

Aus der Perspektive der konservativen Regierung schien 1992 der einzi-

ge Ausweg darin zu bestehen, Frauen mit drei Kindern die »Vollzeit-Mutter-

schaft« anzubieten, um damit die Arbeitslosenzahl und die Ausgaben des

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Fonds zu senken. Im Gegensatz zu früher, wo Kindererziehungsurlaub zu- mindest theoretisch auch von Vätern in Anspruch genommen werden konn- te, gestattet die neue Regelung dies ausschließlich nur den Müttern. Um sich der tatsächlichen Probleme zu entledigen, wurde als ein weiterer Ausweg ein Pflegeurlaub für diejenigen (faktisch sind es Frauen) eingeführt, die zu Hau- se Familienangehörige versorgen. Mütter mit weniger als drei Kindern, die sich um die häusliche Pflege von Verwandten kümmern, haben keinen An- spruch auf Krippen- oder Kindergartenplätze.

Das Niveau dieser Sozialleistungen bewegt sich zwischen einem Drittel und der Hälfte des unteren Lebensstandards. Von diesen Geldern muß noch der Sozialversicherungsbeitrag gezahlt werden. Das Sozialgesetz ist schein- bar großzügig gegenüber der Vollzeit-Familienpflegerin, da ihr die zu Hause verbrachten Jahre auf die Rentenanwartschaft angerechnet werden sollen, es läßt aber die Härten einer Rückkehr auf den Arbeitsmarkt nach Jahr- zehnten der Abwesenheit völlig außer Betracht.

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Mit Ausnahme einer einzi- gen Leistung, der Beihilfe zur Kinderbetreuung, gibt es keine einklagbaren Rechte, und so bleibt den lokalen Sozialbehörden genug Raum, um nach eigenem Gutdünken zu urteilen.

Einschätzung und weitere Perspektiven

Die früher bestehenden sozialen Versorgungseinrichtungen waren keine so- zialen Rechte im Sinne von T. G. Marshall. Man könnte sie eher als soziale Garantien zur Aufrechterhaltung der Legitimation des sozialistischen Sy- stems betrachten. Mit dem Verlust dieser Legitimität zerbrachen die Garan- tien unter der ersten frei gewählten konservativen Regierung zwischen 1990 und 1994: Zwar tauchte jetzt mit der »Vollzeit-Mutterschaft« ein neuer Typ der sozialen Versorgung auf, aber Krippen wurden nicht mehr aus der Staatskasse finanziert. Die nächste Regierung, diesmal eine sozialliberale Koalition, schaffte seit 1994 stufenweise die »großzügigen« Sozialleistungen ab, die unter dem Staatssozialismus existiert hatten oder änderte sie von Grund auf. Davon unberührt blieb die Institution der »Vollzeit-Mutter- schaft«. Sehr umstritten ist die Heraufsetzung des Rentenalters von Frauen.

Schon 1993 war geplant, den Beginn von 55 auf 60 Jahre heraufzusetzen;

1994 ging man dann von 62 Jahren aus, nachdem die Anwartschaftszeiten für Renten bereits von zehn auf zwanzig Jahre ausgedehnt worden waren.

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Heute sind 28-32 Jahre in der Diskussion. Tausende von Frauen verloren plötzlich ihre Rentenansprüche und noch ist nicht absehbar, wie viele Frau- en sie noch verlieren werden.

Der 15. April 1996 wurde zum Stichtag für den Wegfall lohnbezogener Kindererziehungsbeihilfen. Familienbeihilfen werden nur noch bei Bedürf- tigkeit gezahlt.

Die Quote der Langzeitarbeitslosen ist unter Frauen sehr viel höher als

unter Männern. Die Rigidität des Schulsystems und die steigende Zahl der-

jenigen, die auf den Arbeitsmarkt drängen, wird jüngere Frauen noch ver-

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40 Maria Adamik wundbarer machen als es ihre Mütter waren. Gesellschaftliche Desintegra- tion zeichnet sich ab. Die Lebensstrategie der Müttergeneration ist für die Töchtergeneration überhaupt nicht mehr ausschlaggebend, und die jetzt schon bestehende Kluft zwischen Frauen verschiedener sozialer Schichten wird sich noch erweitern. Die psychologischen wie soziologischen Umstände machen es den Frauen schwer, ihre gemeinsamen Interessen wahrzunehmen und Solidarität zu entwickeln. Während sozialstaatliche Errungenschaften, auch wenn sie einmal selbstverständlich waren, wieder zurückgenommen werden können, sind die angedeuteten psychologischen und soziologischen Konsequenzen aber möglicherweise irreversibel.

Zwar ist es eine Tatsache, daß Frauen in Ungarn mit dem Ende des Sozia- lismus die mit ihrer Mutterschaft verbundenen Sozialleistungen verloren haben, ich möchte aber behaupten, daß sie ihre wirklichen Verluste als Frau- en schon in den Dekaden zuvor erlitten haben, in denen ihre männlichen Partner die Privatsphäre als den ihnen noch verbleibenden Herrschafts- bereich (miß)brauchten, auch in Opposition zu der öffentlich propagierten Gleichstellung. Die ungarischen Frauen haben nach und nach ihr Selbst- wertgefühl, ihre Selbstachtung und ihre Würde verloren und fanden sich am Anfang der Übergangsphase als Bürgerinnen zweiter Klasse wieder, die über keine legitime Macht verfügten, ihren Protest gegen weitere Verluste geltend zu machen.

Eine andere Erklärung

Man könnte zu dem Schluß kommen, daß alle Modernisierungsversuche in Ungarn, einer historisch sehr hierarchischen und traditionell männlich do- minierten Gesellschaft,

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eine habituelle Instabilität hervorgerufen haben.

Als »Marxist« ins Bett zu gehen und als »Liberaler oder Christdemokrat«

wieder aufzuwachen (oder umgekehrt) setzt voraus, daß Zeit als eine we- sentliche Dimension sozialen Wandels und menschlichen Lebens mißachtet wird. Das kann zu einer besonderen Belastung und Verwirrung der Wertesy- steme führen und mag insgesamt Identitätsunsicherheit bewirken (Hankiss et al. 1982). Daraus resultiert umgekehrt sowohl auf individueller wie auf der Gruppenebene ein Bedürfnis nach (ideologisch-politischer) Gewißheit und Vertrauen (hinsichtlich Einstellung und Verhalten). Die Dringlichkeit und Unaufschiebbarkeit dieses psychologischen Bedürfnisses kann auf indi- vidueller Ebene anscheinend am kostengünstigsten durch die Ausbeutung und Demütigung von Frauen in heterosexuellen Partnerschaften befriedigt werden.

Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene führt die Verleugnung der Gegensei-

tigkeit zu einer Verstärkung der traditionellen Geschlechterrollen, die der

rationalen Funktionsweise des jeweiligen - sozialistischen oder kapitalisti-

schen - Systems dient. Das bedeutet auch, daß die gegenwärtigen Unter-

schiede in der Geschlechterperspektive zwischen west- und mittelosteuro-

päischen Gesellschaften nicht ideologisch-politisch begründet sind, sondern

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vielmehr darauf zurückgehen, in welchen historisch-politisch konstituierten Bereichen männliche Herrschaft weiterhin ausgeübt werden konnte. Wenn es keine Möglichkeit gibt, strukturelle Herrschaft durch eine Position in der Ökonomie auszuüben, so bleibt doch immer noch die kulturell-symbolische Herrschaft gegenüber Frauen. Wenn diese in der kommunistischen Diktatur auch keine Chance hatte, sich erfolgreich in die Politik einzumischen, so konnte doch eine ganze Generation von Männern in der Privatsphäre sexu- elle Herrschaft gegenüber Frauen praktizieren. Das hat sich in der Phase der

»Antipolitik« (vgl. Györgi Konrád 1989) abgespielt.

Die Frage ließe sich auch folgendermaßen formulieren: Wie wurde ei- gentlich die »Rationalität« des kapitalistischen oder sozialistischen Systems mit den Interessen des »großen weißen Mannes« in Einklang gebracht, wenn letzterer auf der privaten Ebene als symbolischer Repräsentant des Systems galt? Wo liegt der Ursprung, wie ist die Genesis dieses offenbar ontologischen Zusammenspiels? Das sind grundlegende Fragen für den Fe- minismus im allgemeinen. Für Ungarn spezifisch ist, daß Männer jenseits der Privatsphäre historisch selten erfolgreich in der Herrschaftsausübung wa- ren, weil ihnen die Herrschaftsbereiche - Politik und Ökonomie - kaum of- fenstanden. In der gegenwärtigen Entwicklung setzt sich diese Tendenz fort.

Wie hätte sonst die Komplizenschaft zwischen dem System und den Interes- sen der Männer aufrechterhalten bleiben können? Denn die Anstrengun- gen, den neuen Anforderungen einer nunmehr globalen Systemrationalität zu entsprechen, haben dem Land nicht viel Gewinn gebracht und gleichzei- tig mehren sich Anzeichen von Anomie bei Männern, deren Sterblichkeits- und Suizidraten steigen (Watson 1993; 1994). Tatsächlich scheint die Ge- schichte des Übergangs zu Demokratie und Marktwirtschaft nur für eine sehr dünne Gesellschaftsschicht eine Erfolgsstory zu sein.

Wenn sich am Ende dieses Jahrhunderts trotz Modernisierung und De- mokratisierung die Kluft zwischen den Geschlechtern im Osten wie im We- sten vergrößert, wie einige Wissenschaftlerinnen vermuten und wie es auch die ungarische Entwicklung anzeigt, so muß das sowohl innerhalb individu- eller Kontexte wie auch auf der Ebene globaler sozioökonomischer Tenden- zen festgemacht werden (Boserup 1990;Corrin 1992).

Hartnäckige Kontinuität von Mentalitäten

Der gesellschaftliche Wandel nach 1948 und die damit verbundenen Moder- nisierungsaufgaben wurden lange Zeit ausschließlich als eine Frage der Rol- le von Frauen in der gesellschaftlichen Praxis diskutiert, d.h. unter dem Aspekt der Leistungsanforderungen an Frauen. In der Alltagssprache war viel von der Doppelbelastung die Rede. Westliche Beobachter haben die Frauen, die mit dieser doppelten Last fertig wurden, »Superfrauen« genannt.

In den Sozialwissenschaften bemühte man sich jahrzehntelang darum, Rol-

lenkonflikte zu verstehen. Aber trotz aller Anstrengungen gelang das nicht,

weil es nur ein mangelhaftes Verständnis der Privatsphäre gab.

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42 M ària Adamik Die Teilnahme der Frauen am Arbeitsmarkt hat weibliche Identität ver- ändert. Frauen machen zunehmend ihre Ansprüche auf menschliche Würde geltend. Rollentheorien können diese einzigartige Dynamik weiblicher Identität nicht nachvollziehen, da sie die Veränderungen nicht in zeitlichen Dimensionen erklären.

Auch westliche Länder hatten keine Erfahrungen mit dem Phänomen einer zweideutigen inneren Befreiung, die ihren lokalen »Charakter« da- durch bekam, daß die neue Erfahrung von Selbstbestimmung mit individu- eller Unterdrückung in der Privatsphäre »ausbalanciert« wurde. Frauen ak- zeptierten die häusliche Unterdrückung als einen besonderen »Handel«, auf den sie sich zugunsten der Möglichkeit ihres Eindringens in den öffentlichen Arbeitsbereich einlassen mußten. Dieser »Deal« hätte auch als Warnsignal dafür verstanden werden können, daß es in der Privatsphäre keinen Ge- schlechtervertrag gab, der den Zielen der Frauenemanzipation auf der ma- kropolitischen Ebene entsprochen hätte. Was die Männer betrifft, so hatten sie zweierlei zu berücksichtigen: Einerseits wollten sie loyale Bürger einer sozialistischen Gesellschaft sein, als Voraussetzung formeller politischer Macht. Andererseits wollten sie ihren inneren Widerstand gegen diese Ge- sellschaft ausdrücken, nicht gegen deren abstrakt allgemeines ideologisches Niveau, sondern gegen die wirkliche, »alltägliche« Gleichheit - einschließ- lich der von Männer und Frauen. Beides in Einklang zu bringen, hätte neuer Mentalitäten bedurft (Corrigan 1990).

Die Komplexität heterosexueller Beziehungen, wie sie sich in Filmen und Romanen darstellt, fand keinen Eingang in die Normierung von Geschlech- terrollen, welche Wissenschaft und Sozialpolitik entwarfen. Wissenschaft und Sozialpolitik bewiesen andererseits ihr Interesse an Harmonie, indem sie auf rein funktionalistische Geschlechtsrollenmodelle zurückgriffen und komplexe Realitäten ausblendeten. Deshalb wurde die Familien- und die Sozialpolitik für Frauen auch so wenig problematisiert und blieb innerhalb des funktionalistischen Rahmens.

Die politische Kampagne gegen die Abtreibung in den frühen fünfziger Jahren ist ein Beispiel dafür, wie eine konservative Einstellung jenseits sy- stemspezifischer Veränderungen sich durchsetzte. Dieser Einstellung zufol- ge läßt sich die sexuelle Aktivität in heterosexuellen Beziehungen durch Einschüchterungstaktiken und Drohungen gegenüber Frauen regulieren.

Mit anderen Worten, man widerruft ihre Autonomie und verletzt ihre Selbst- achtung. Das sehr strenge Gesetz gegen Abtreibung stellte damals die neue Identität der Frauen hart auf die Probe. Angesichts der offenkundig fort- schreitenden Gleichheit zwischen Männern und Frauen aufgrund der sexu- ellen Liberalisierung waren der Mangel an Verhütungsmitteln und die strik- ten Abtreibungsverbote nicht bloß Übergriffe einer äußeren Macht. Für Frauen symbolisierte sich darin der Verrat, den Männer im Interesse der Macht an ihnen begingen. Und dies war ein Eingriff in ihre Lebenswelt.

Nachdem Frauen sich eine Zeit lang Illusionen hinsichtlich der Symmetrie

und Partnerschaftlichkeit der Beziehungen zwischen Männern und Frauen

gemacht hatten, zeigte sich den Frauen das Zusammenspiel von Männlich-

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keit und Macht aufs neue. Seit dieser Zeit wurden im Nachkriegsungarn die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern problematischer.

Als es noch nicht die Spur einer institutionalisierten Soziologie, ge- schweige denn Familiensoziologie gab, erschien 1957 ein Buch über Schei- dungen. Damals setzte so etwas wie ein Kampf um Freiheit in der Privat- sphäre zwischen den Geschlechtern ein.

Die »Antipolitik« nach der Revolution von 1956 sollte zwar die »Frei- heit« der Privatsphäre repräsentieren, sie zu einem Refugium vor der politi- schen Unterdrückung machen, berührte aber nicht das Geschlechterverhält- nis (Goven 1993).

Die mentalen Folgen des Kompromisses, der nötig war, um das politische System nicht anzutasten, die Verlangsamung der sozialen Mobilität, die öko- nomischen Schwierigkeiten, das plötzliche Abbrechen von Karrieren ma- chen es sehr wahrscheinlich, daß das Vakuum eines öffentlichen Lebens neue Bestrebungen und Formen der Selbstentäußerung im privaten Bereich hervorbrachte, die die Gestalt von Herrschaftsansprüchen annahmen, wäh- rend dieser Bereich doch als einziger sozialer Raum angesehen wurde, der ein Refugium darstellte. Es ist sicher kein Zufall, daß sich ein 1970 geschrie- bener, sehr einflußreicher philosophischer Essay von Agnes Heller mit dem Dilemma befaßte, wie die freie Wahl des Sexualpartners im Lebenszyklus mit der Kindererziehung und Pflege von Häuslichkeit zu verbinden sei (Hel- ler 1976). Nun hatten also die Philosophen (Heller und Vajda 1976) ein Di- lemma in der Privat- Sphäre entdeckt. Die alte Vorstellung der sexuellen Revolution wurde zu dieser Zeit in einer inhärent sexistischen Kultur aufs neue propagiert, ohne dieses Erbe im mindesten zu berücksichtigen. Die Literatur dieser Zeit legte Rechenschaft ab über die Nebenwirkungen die- ser Ignoranz und die Philosophen beschränkten sich darauf, das oben ge- nannte Dilemma zu artikulieren. Der Versuch, einander widersprechende Werte zu harmonisieren, wurde innerhalb eines historischen Kontextes an- gestellt, in dem die herrschenden Geschlechterverhältnisse offen ausgebeu- tet wurden. So spiegelt das Werk der Philosophen eine Unsicherheit hin- sichtlich von Normen und Werten in der Privatsphäre wider. Gleichzeitig brachte der neue Entdeckungskontext ein stark geschlechtsspezifisch ko- diertes Wertesystem hervor.

Aus der Perspektive von Frauen war das tatsächliche Problem möglicher- weise, ob sie bei diesem Durcheinander von Werten und angesichts unsiche- rer menschlicher Beziehungen Kinder bekommen sollten oder nicht. Die Qualität der Beziehungen mag ein wichtigeres Problem gewesen sein als über einen bezahlten Mutterschaftsurlaub verfügen zu können. Wenn das tatsächlich zutrifft, so waren Probleme, wie widersprüchliche Werte zu har- monisieren und wie die Praxis der Kindererziehung billiger zu machen seien, Fragen, mit denen sich eher die Männer und das Sozialversicherungssystem konfrontiert sahen als Frauen. Die anschließend vorgeschlagenen Lösungen stellten jedoch eine Fehlinterpretation der Bedürfnisse von Frauen dar.

Die Philosophen hatten ein Problem berührt, das aus dem Privatleben

kam. Dieses Problem hätte Aufschluß geben können über die tatsächliche

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44 M ària Adamik Verfaßtheit der Geschlechterverhältnisse, wenn die Sozialpolitik nicht aus- schließlich auf der Makroebene und zugunsten systemischer Interessen an- gesetzt hätte. Die Relevanz des sexuellen Dilemmas wurde dabei geleugnet.

Wenn Frauen Monate oder Jahre lang vom Arbeitsmarkt entfernt werden, um zu Hause Kinder groß zu ziehen, während das Dilemma der sexuellen Freiheit weiter besteht, so zeigt sich dann, daß Sozialpolitik keineswegs ge- schlechtsneutrale Antworten gibt. Wessen Bedürfnisse wurden mit sozialpo- litischen Maßnahmen befriedigt? Die Interessen des Systems an rationalen Handlungsabläufen konnten damit abgedeckt werden, ebenso wie die der männlichen Partner, für die es größere sexuelle Freiheit und eine Verstär- kung ihrer Doppelmoral bedeutete, wenn sie von elterlicher Verantwortung entbunden wurden. Die Bedürfnisse der Frauen wurden dagegen völlig falsch ausgelegt.

Nachträglich läßt sich kaum sagen, ob die hohen Scheidungsraten, die rückläufigen Geburtenzahlen, die immer größere Anzahl unehelicher Kin- der, der Anstieg von Neurosen, Alkoholismus und Selbstmorden

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durch un- gelöste Probleme in der Privatsphäre verursacht waren, oder ob sie, wie die männlich dominierte öffentliche Meinung und die Sozialwissenschaftler be- haupten, der hohen weiblichen Erwerbstätigkeit zuzuschreiben sind (d.h.

auf Rollenkonflikte innerhalb des weiblichen Rollenspektrums zurückge- hen)

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. Die Kommune oder sozialistische Gemeinschaft, in der sowohl sexu- elle Freiheit als auch Kindererziehung ohne psychischen Schaden gesichert worden wäre, kam entweder nicht zustande oder erwies sich nicht als funk- tional. Wenn wir der Auffassung eines Sexualpsychologen folgen, so scheint es, daß die Illusion der Kommune ebenso in sich zusammenfiel wie die Illu- sion des Kommunismus, an die die Philosophen (trotz des sowjetischen Ein- marsches in die Tschechoslowakei 1968) immer noch geglaubt hatten. In ih- ren Trümmern finden sich die sexuelle Freiheit ebenso wie die garantierte Kinderversorgung. Budapest ist 1996 zum Bangkok Europas geworden, der vollbezahlte Mutterschaftsurlaub wurde abgeschafft.

Die Bevölkerung, die unter dem Staatssozialismus von freier erwachse- ner Verantwortlichkeit abgehalten wurde, schaut nun sehr defensiv auf eine neue Welt, die als Trostpflaster für all die früheren Enttäuschungen ein le- benslanges marktökonomisches Entwicklungsprogramm in Aussicht stellt.

Einen Typus sozialer Leistungen zu verlieren, ist nur ein geringer Teil der Gesamtkosten, die ungarische Frauen zu zahlen haben werden, um ihren Männern neue Herrschaftsbereiche zu sichern.

Aus dem Englischen übersetzt von Regine Othmer.

Anmerkungen

1 Dieser Text geht auf meine Dissertation zurück, die sich mit den Schwierigkeiten eines Dialogs zwischen Feministinnen im Osten und im Westen auseinandersetzt. Ein Grund dafür, daß dieser Dialog nur mangelhaft vorangeht, mag darin liegen, daß wir mitteleuro- päischen Feministinnen den Einfluß des Staatssozialismus auf die Geschlechtervcrhält-

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nisse aus unserer Perspektive noch nicht genau beurteilt haben. Eine solche Einschätzung versuche ich hier vorzunehmen, in der Annahme, daß die ideologischen Differenzen zwi- schen Ost und West, wie sie vor 1989 bestanden, sich dadurch abschwächen. Die Institu- tionalisierung der feministischen Bewegung im Westen und die ökonomische Tendenz zur Globalisierung sollten eigentlich dazu führen, daß wir uns um gemeinsame, nicht regional beschränkte Deutungsmuster von Geschlechterproblemen in Europa bemühen. Aber ich habe dazu bisher noch keine Initiative auf westlicher Seite bemerkt.

2 Sozialpolitik selbst war ausgesprochen traditionell und wurde in ihren Grundannahmen durch einen ökonomischen Essentialismus bestimmt. Als ob Geschlechterverhältnisse ausschließlich etwa von einem bezahlten Mutterschaftsurlaub abhängig wären. Grundle- gende theoretische Konzepte wie ζ. B. ein geschlechtsdifferenter Staatsbürgerstatus bei Marshall oder die Klassifizierung verschiedener Wohlfahrtsstaaten durch Esping-Ander- sen wurden in Ungarn noch nicht einmal in den Hochschulen erwähnt. Es kam auch nicht vor, daß Praxis und Einstellung von Sozialarbeitern und ihrer Institutionen aus weiblicher Perspektive problematisiert worden wären.

3 Diesen Weg der Frauenemanzipation nenne ich »drittes Szenario« im Unterschied zum skandinavischen (als erstem) und zum »westlichen« (dem zweiten), die beide Eingang fanden in verschiedene soziale Bewegungen, aber auch in die europäische Gesetzgebung.

Allerdings ist die Wahrnehmung des zweiten Szenarios sehr stark verallgemeinernd und unhistorisch.

4 Wir konnten - nachträglich - eine allgemeine Debatte zwischen sozialistischen Femini- stinnen zu diesen Fragen nachlesen. Vgl. etwa: Heidi Hartmann, The Unhappy Marriage of Feminism and Marxism.

5 Eine der heftigsten Attacken gegen Frauen war der 1982 in der sehr angesehenen Fachzeitschrift Valosag (Nr. 9) erschienene Aufsatz des Soziologen David Biró A teremtés komái es a gyengébb nem (Das Meisterwerk der Schöpfung und das schwache Ge- schlecht).

6 Genaueres zu Frauen und den Wahlen in Ungarn von 1990 vgl. bei Adamik (1991 b) und Fodor (1994).

7 Wie wichtig Erwerbstätigkeit ist, zeigt sich daran, daß 45 % der nicht Erwerbstätigen, 3 9 % der Frauen im Elternurlaub und 17% der Rentner unter der Armutsgrenze leben.

Auch der sehr begrenzte Einfluß des Sozialeinkommens auf die Einkommenssicherheit kann mit Zahlen belegt werden: 20% der aktiv Erwerbstätigen fallen unter die Armuts- grenze. Familien mit einem Kind (von denen 36 % unter der Armutsgrenze leben) und mit zwei Kindern (33% unter der Armutsgrenze) waren Ende 1992 in einer wesentlich schwierigeren finanziellen Situation als noch ein Jahr zuvor. 30% der Einelternfamilien leben unter der Armutsgrenze und 41 % aller Zigeunerhaushalte fallen in die niedrigste Einkommensklasse (Haushaltsüberblick TÄRKI1992,18f.).

8 Die Auswahlkriterien für die neuen Sozialbeihilfen sind sehr strikt: Bei der Überprüfung des Familieneinkommens - die übrigens im Widerspruch zum persönlichen Einkommens- steuersystem steht - wird eine artifizielle Definition von Familienmitgliedern und ihren wechselseitigen finanziellen Verantwortlichkeiten zugrunde gelegt. Das Familieneinkom- men pro Kopf muß beträchtlich unter der offiziell anerkannten Armutsgrenze liegen. Das Niveau der Sozialhilfe wird an der geringsten Altersrente gemessen, die etwa die Hälfte des niedrigsten Lebensstandards beträgt.

9 Im Vergleich zu anderen Ländern ist mit 55 Jahren das Rentenalter von Frauen sehr nied- rig, und es ist ja auch niedriger als das der Männer (60). Argumente für einen derart frühen Renteneintritt lassen sich allerdings finden, wenn berücksichtigt wird, daß die Le- benserwartung bei beiden Geschlechtern in Ungarn - mit etwa sechs bis acht Jahren - weit unter dem europäischen Durchschnitt liegt.

10 Das feudalistisch-agrarische Erbe, das die politischen Macher in Ungarn übernommen haben, hätten sie schon nach dem Zweiten Weltkrieg überwinden sollen, um die Ziele des Sozialismus zu vollenden. Jetzt gäbe es einen neuen Grund dafür, um Demokratisierung wenigstens in gewissen Maßen zu erreichen. Die Debatte über das neue Abtreibungsge- setz von 1990, die Einführung von Vollzeit-Mutterschaft, die Abschaffung der Kinderver-

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46 Mária Adamik

sorgungseinrichtungen, die Duldung von Sexismus in den verschiedensten öffentlichen Bereichen inklusive der Medien, Frauenhandel und Prostitution sind lauter Anzeichen dafür, daß die traditionelle männliche Mentalität sich kaum verändert hat. Darüber hin- aus haben die neuen liberalen Politiker, die in der Periode der Antipolitik aufgewachsen sind, ihren Habitus mühelos dem ihrer konservativen politischen Partner angeglichen.

11 All das hätte auch als Warnzeichen aus dem Privatbereich verstanden werden können, wenn sich nur außer Künstlern irgend jemand dafür interessiert hätte.

12 O b es sich um die niedrige Geburtenrate handelte, um Scheidung oder die hohe Sterblich- keit unter Männern mittleren Alters, immer wurde der schwarze Peter den Frauen zuge- schoben. Ausländische Beobachter sahen dieses Phänomen Ende der achtziger Jahre als antifeministische Bewegung in einem Ungarn ohne Feminismus.

Literatur

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Referenzen

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