• Keine Ergebnisse gefunden

Außer der Reihe

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Außer der Reihe"

Copied!
14
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Außer der Reihe

Matei Chihaia

Das Geschlecht der Tränen in der klassischen französischen Tragödie (Rodogune, Bérénice)

1. Die Redekunst der Frauen

Die Tragödie des 17. Jahrhunderts zeigt weinende Männer und weinende Frauen, und die Komplexität dieser Tränen ist korreliert mit der Vielzahl der Anlässe des Weinens, die nach Geschlechtern differenziert werden – darunter auch im weitesten Sinne politische Motive und Funktionen. In der Interaktion mit dem Publikum, aber auch schon in der Interaktion der Figuren untereinan- der, manifestieren sich die Unbestimmtheiten, die Leerstellen, die infolge dieser Komplexität entstehen.

Antoine Furetières Dictionnaire universel nennt im Eintrag »Larme« bereits eine Fülle von Gründen des Weinens: die Psychologie von Leid und Schmerz und die religiöse Ergriffenheit auf der Seite der Innerlichkeit, das rituelle System der Trauer und das galante System der Liebe auf der Seite der Äußerung (Furetière 1690, 424). Die zweite Ausgabe des Dictionnaire führt mit ihren Zusätzen eine zusätzliche Trennung und ein neues System ein. Vor allem zwei Stellen sind es, die das Weinen jetzt als zentrales Charakteristikum des weiblichen Geschlechts und als Mittel der Rhetorik – ja, als eine alternative Redekunst – erscheinen lassen:»Les femmes ont le don des larmes, et un merveilleux talent pour pleurer«

(Die Frauen haben die Gabe der Tränen und ein wunderbares Talent zum Wei- nen) und: »Les larmes sont l’éloquence des femmes« (Die Tränen sind die Rede- kunst der Frauen) (Basnage 1701, o. S.). Die »Gabe der Tränen« stammt aus der religiösen Topik, die ursprünglich nicht geschlechtsspezifisch ist, im Kontext der Éducation des filles aber entsprechend interpretiert wird (vgl. Imorde 2008;

Basnage 1687, 84). Beide Gemeinplätze begegnen uns auch in der Literatur, al- lerdings in Kontexten, die den ästhetischen Reiz dieser alternativen Kommuni- kationsform unterstreichen.

Saint-Evremond beispielsweise lässt in einem Rollengedicht eine frisch ver- witwete Dame sagen: »Je ferai disputer mes soupirs et mes larmes: / Je veux, mon cher Damon, confondre tes discours, / avec des Pleurs secrets que je répands tou- jours.« (Ich lasse meine Seufzer und Tränen für mich streiten, ich möchte, lieber Damon, deine Reden mit meinen heimlichen Tränen bezwingen, die ich immer

Feministische Studien (© Lucius & Lucius, Stuttgart) 2 / 14

(2)

noch vergieße.) (Saint-Evremond 1796). Während aus dem Dictionnaire-Eintrag nur der Argwohn gegen ein Geschlecht hervorsticht, das traditionell aus der Sphäre des »Logos« ausgeschlossen wird (vgl. Merlin-Kajman 2007, 213 ff.), zielt die Formulierung Saint-Evremonds auf ein Paradox. Der poetische Effekt der Elegie beruht auf dem Widerspruch zwischen der Rede der Dame als Spreche- rin und ihren Tränen, denen sich diese Rede ausdrücklich unterordnet. Gestei- gert wird dieser Effekt durch die »heimlichen Tränen«, die ebenfalls zwischen rhetorischer Formulierung und psychologischer Innerlichkeit gespannt sind: um

»streiten« zu können, müssen sie wahrnehmbar sein, und doch verweigern sie sich bewusst der repräsentativen Öffentlichkeit, die durch Damons »discours«

besetzt ist. Der rituelle Ausdruck der Trauer wird im Gedicht von einer galanten Formulierung – an die auch der Name »Damons« erinnert – übertroffen, in wel- cher sich die Sprecherin nicht nur als rituell trauernde Ehefrau, sondern auch als Geliebte des Verstorbenen und schließlich als Kennerin einer doppelten – spre- chenden und stummen – Redekunst erweist.

Auch bei anderen klassischen Autoren werden die Tränen zur »stummen Redekunst« zugespitzt, und immer mobilisiert dieser Gemeinplatz die unter- schiedlichen Systeme, in denen das Weinen eine kulturelle Bedeutung erhält, einschließlich der Differenz der Geschlechter. Wie sind die so entstehenden Überlagerungen zu verstehen? Neutralisieren sie die politische Funktion, die das Weinen als Zeichen der ritueller Trauer in der höfischen Öffentlichkeit besitzt?

Oder loten sie die geschlechterspezifischen Grenzen aus, die der politischen Äu- ßerung im Rahmen dieser Öffentlichkeit gesetzt sind? Diese Fragen lassen sich im Zeitalter der Gattungspoetik nicht unabhängig von den literarischen Gat- tungen beantworten – und hier bietet die Tragödie auch deswegen günstigere Bedingungen als die galante Lyrik, weil sie ein Hof kritischer Rezeptions- dokumente umgibt. Das Genre der Tragödie verspricht zudem einen besonde- ren Umgang mit der »stummen Redekunst«, weil zum einen die Aufführung in der Interaktion mit dem Publikum von la cour et la ville ein Modell höfischer Interaktion bildet, zum anderen das Gebot der vraisemblance (der wahrschein- lichen Handlung) es gestattet, politisch relevante Verhaltensweisen vor diesem Publikum tentativ durchzuspielen.

2. Das Laboratorium der Tränen

Tränen erscheinen an verschiedenen Stellen bei der Aufführung der klassischen Tragödie: Sie blitzen in den Augen der Schauspielerinnen und Schauspieler, sie zieren die Repliken der Figuren, die sie verkörpern, und sie entströmen dem Publikum, das ins Theater geht, um seine Emotionen in Form einer beherrschten Trauer äußern zu können. Aus dieser »Kette von Weinenden«, wie Jean de La Fontaine das Phänomen an einer Stelle prägnant nennt (La Fontaine 1669 / 1958,

(3)

180), soll im Folgenden Glied für Glied betrachtet werden. Der Vortritt gebührt dabei den Zuschauerinnen und Zuschauern.

Jean de La Bruyère kommentiert in den Caractères ausführlich die Asymmet- rie zwischen dem entfesselten Lachen, das die Komödie auslöst, und den unter- drückten, verschämten Gefühlsäußerungen angesichts der Tragödie – als würde das Weinen eine Schwäche offenbaren oder eine anwesende Hoheit beleidigen (La Bruyère 1962, 85). La Bruyères pointierte Gegenüberstellung weist auf die fundamentale ethisch-politische Dimension der Tränen, die angesichts der Tragödie vergossen wurden: Sie durften nicht nur Emotion verraten, sondern mussten auch würdevolle Selbstbeherrschung bezeugen. Jean Racine hat diesen Zusammenhang im Vorwort zu Bérénice (1671) auf die vielzitierte Formel der

»tristesse majestueuse« gebracht, welche das eigentliche Ziel der Tragödie sei:

würdevolle Traurigkeit (Racine 1999a, 450). In dem gleichen Vorwort bezeich- net er die Tränen des Publikums als die wichtigste Ehrung, die seinem Stück zuteil geworden sei (Racine 1999a, 451) – eine Wendung, die sich auch in an- deren Poetologien findet (La Mesnardière 1639, 86; vgl. Roche 2007, 255). Ra- cine verteidigt also offensiv eine Zuschauerhaltung, die nicht an aristotelischen Kriterien, sondern am Genuss dieser Emotionen und ihrer Äußerung orientiert ist: »Qu’ils se réservent le plaisir de pleurer et d’être attendris« (Mögen sie die Lust am Weinen und an der Rührung genießen) (Racine 1999a, 452). Nur am Rande dieser Bemerkungen, in La Bruyères Andeutung möglicher sozialer Sanktionen gegen das Weinen und in Racines Konzept der Würde, scheint eine politische Bedeutung der Tränen durch. Das ist doppelt erstaunlich: zum einen, weil öffentliche Rituale der Trauer seit dem Mittelalter politisch semantisiert werden (vgl. Althoff 1986); zum anderen, weil die Tragödie die Normen der höfischen Gesellschaft im Zeichen der Wahrscheinlichkeit reproduziert, und so- mit diese Bedeutung der Tränen in Erinnerung ruft.

Beides – die soziale Funktion der Tränen als Form der höfischen Kommu- nikation und die Engführung von rituellem Weinen und theatralischer Insze- nierung in der Tragödie – tritt in der frühen Neuzeit noch deutlicher in der Theatermetaphorik hervor, die politische Akteure und Bühnenakteure auf die gleiche Ebene stellt. Dies illustriert z. B. ein italienisches Dokument des 17. Jahr- hunderts: Im Konsistorium des 21. Januar 1647, in dem ein Kardinal seinen Hut ablegte, um heiraten zu können, »gab sich der Papst zerknirscht und vergoss bittere Tränen, was nicht wenige Purpurträger dazu veranlasste, es ihm gleich- zutun. Mit unterschiedlichem Erfolg übrigens: während Kardinal Sforza aner- kennend bescheinigt wurde, er habe hemmungslos geweint, stellte sich Kardi- nal Rocci zur allgemeinen Erheiterung als wenig begabter Tragödiendarsteller heraus.«1

1 Den Hinweis auf dieses Dokument (Archivio Segreto Vaticano, Segreteria di Stato, Avvisi 99, avviso vom 26. Januar 1647, fol. 194r.) und die Übersetzung verdanke ich meinem Kollegen Arne Karsten.

(4)

Eine vergleichbare Bemerkung über die Tränen, die man von der Tragödie an den Hof mitbringt, um sie in der richtigen Situation vorzuführen, findet sich in den Memoiren von Saint-Simon (1985, 71 f.; vgl. Hénin 2007, 226) und bei La Rochefoucauld, der darin ein Zeichen der Ruhmsucht sieht; viele Tränen würden vergossen, um die Schande zu vermeiden, nicht zu weinen (»on pleure pour éviter la honte de ne pleurer pas«) (La Rochefoucauld 1976, Maxime 233;

vgl. Hénin 2007, 226). Dass der eine Moralist (La Rochefoucauld) seine Sentenz über die Tränen gerade umgekehrt wendet wie der andere (La Bruyère), belegt die Unsicherheit, ob man sich für ein feuchtes oder ein trockenes Auge mehr schämen müsse, und die Bedeutung dieser Frage für das öffentliche Verhalten.

Ein »ritual of tears« schien für Trauerf älle angemessen, und das öffentliche Wei- nen angesichts der Tragödie war eine Vorbereitung für diese soziale Praxis des

»communal weeping«, das sich als »deliberate, infectious and extensive« charak- terisieren lässt (Maskell 1991, 197). Die literarischen, religiösen und moralischen Implikationen des Weinens sind eingehend untersucht worden (Bayne 1981).

Aber können und dürfen Tränen – über den sozialen Prestigegewinn hinaus – auch das Regierungshandeln beeinf lussen? Sind sie selbst eine angemessene Form politischen Handelns? Die Vergleiche und Metaphern, die Tragödienpub- likum und höfische Öffentlichkeit verbinden, sprechen dafür.

Auch die kritische Diskussion des 17. Jahrhunderts beruht auf der Vergleich- barkeit tragischer Fiktion und sozial-politischer Praxis. Insofern legen es gerade die unerschöpf lichen Kritiker-Streitigkeiten nahe, die Tragödienaufführung als ein Laboratorium der sozialen Praxis zu verstehen, in dem mit der Ange- messenheit und Wahrscheinlichkeit würdevollen Weinens in unterschiedlichen Situationen (»en certaines occasions« (La Mesnardière 1639; vgl. Hénin 2007, 227) experimentiert wird – und deren Ergebnisse das Publikum kasuistisch be- wertet.2 Ein schönes Beispiel solcher Kasuistik im Kontext der Trauer ist Saint- Evremonds kurzer Brief »An einen Autor, der meine Meinung zu einem Stück wollte, dessen Heldin nichts anderes tat, als sich zu beklagen« (1672).

Die Körper der Schauspielerinnen und Schauspieler sind gewissermaßen der Rohstoff dieser Experimente, und als solche wird ihre Begabung an der Fähig- keit gemessen, überzeugend zu weinen. Was der italienische Autor bezüglich der Kardinäle maliziös suggeriert, bestätigt eine berühmte französische Schau- spielerin in ihren Lebenserinnerungen. Die Rolle der »Princesse« erfordert von der Schauspielerin laut den Memoiren der Mlle Clairon ein anmutiges Ant-

2 Das Unwahrscheinliche, schreibt Roubine in seinem Essay zu den Tränen der Klassik, bezeich- net einen Außenbereich, in den man sich nicht vorwagen darf, ohne die Wirksamkeit des tra- gischen Texts zu schwächen (Roubine 1973, 60). Eine These zur »experimentellen Serie« und Kasuistik bei Corneille entwickelt bereits Kablitz (2000, 498). Kablitz argumentiert aber eher geistesgeschichtlich, während im Folgenden eine funktionsgeschichtliche Perspektive auf die Pragmatik der Rezeption eingenommen werden soll. Für Racine konstatiert Biet in diesem Sinne ein »Pleasure of Experiment« (Biet 2001, 40 ff.). An Biet schließt meine Formulierung vom »Laboratorium der Tränen« an.

(5)

litz, eine anrührende Stimme und die Fähigkeit, leicht in Tränen auszubrechen (nach Scott 2010, 213).3 Die Poetik La Mesnardières (1639, 88) bestätigt dieses

›Qualifikationsprofil‹ der fürstlichen Rollen und versucht, Situationen zu defi- nieren, in denen das Weinen für die einzelnen Geschlechter angemessen – also würdevoll – sein kann (1639, 86; vgl. Roubine 1973, 66). Die Bedeutung, die dem zeremoniellen Handeln in der höfischen Gesellschaft zukommt, sollte aber nicht vorschnell auf die Klarheit oder Eindeutigkeit der entsprechenden Nor- men schließen lassen; man beachte die widersprüchliche Auskunft von La Bru- yère und La Rochefoucauld zum Thema der Tränen. Gerade die Tragödie als Gefüge funktionaler und dysfunktionaler Handlungen belegt, dass das richtige und wirksame Verhalten fragwürdig war (vgl. Chihaia 2002). Die Figuren und komplexen Situationen der Tragödie bilden insofern das Experimentierfeld, auf dem die Komplexität der Lebenswelt spielerisch bewältigt werden kann.

Niemand hat die politische Dimension des Trauerns im Frankreich des 17. Jahrhunderts, der unmittelbaren Folgezeit der Reformen und Religions- kriege, besser auf den Punkt gebracht als Hélène Merlin-Kajman (2007, 217 f.).

Bei ihr findet sich denn auch der Hinweis auf die Annahme, dass Tränen des Einzelnen das Gewaltmonopol des Staates in Frage stellen können: Diejenigen, welche die Opfer der Belagerung von La Rochelle beweinten, galten durch diese Äußerung als potenzielle Feinde des Staatsinteresses – zum einen, indem sie ihrem Gefühl freien Lauf ließen und damit gegen das zivilisatorische Prinzip der Affektkontrolle verstießen, zum anderen, indem sie sich als Trauergemeinde, und somit als partikuläre Gemeinschaft dem Ganzen des Staates entgegenstellten (Merlin-Kajman 2000, 188; vgl. Roche 2007, 247). Dieser Verdacht, so Roche , musste auch über dem Theater als Trauergemeinschaft schweben (Roche 2007, 247), und er äußert sich in der Differenz der ›legitimen‹ und ›subversiven‹ Trauer, die teilweise mit der Differenz der Geschlechter korreliert ist.

Der Philosoph Charron lobt die altrömische Virilität, die bei Bestattungen keine übertriebenen, »weibischen Trauerbezeugungen« duldete: »Les efeminées lamentations« (Charron 1986, 198; vgl. Roche 2007, 248) stehen in einem Spal- tungsverdacht, der nicht anders artikuliert werden kann als unter Bezug auf die Trennung der Geschlechter. Auch in der kritischen Diskussion der Tragödie wird dieser Topos verwendet, um jede exzessive Äußerung der Emotion ab- zulehnen, mit welchen die Helden »die Frauen nachahmen« (Donneau de Visé 1740, 189). Jean-Jacques Roubines These ist, dass das Theater gegenüber dieser Vorstellung nicht immun sei, sondern die Figurenkonstellationen f lexibel an die

3 Zahlreiche Anekdoten bestätigen die ansteckende, ja sogar gefährliche Wirkung der Schau- spielertränen: Mlle Gaussin spielt so überzeugend die Bérénice, dass einem Wachtposten vor Weinen sein Gewehr entgleitet (Porte 1775, 147); im 18. Jahrhundert kann die Stimme des Autors den Körper der Schauspielerin substituieren; Voltaire berichtet, dass die bloße Lesung von Bérénice Friedrich den Großen zu Tränen rührt, wofür nur Sprache und Rhythmus verant- wortlich gemacht werden könnten (Voltaire 1784, 261). Derartiges ›Theater ohne Bühne‹ spielt bei Corneille und Racine keine Rolle.

(6)

Erwartungen des Publikums anpasse, um ein Maximum an Tränen inszenie- ren zu können. So reagieren die Dichter auf den Vorwurf, dass ihre Helden zu viele Tränen vergießen – sich also wie Frauen verhalten –, indem sie die Damen zunehmend gleich selbst zu den Protagonistinnen der Tragödie machen. Diese fortschreitende Feminisierung der Tragödie (vgl. Roubine 1973, 67) sei also die Konsequenz der Debatte darüber, ob und wieviel die Könige weinen dürfen – denn bei den Königinnen galten die öffentlichen Tränen wenigstens als eine an- gemessene Äußerung. Tatsächlich belegen die o. a. Texte von Saint-Evremond und La Mesnardière diese eingeschränkte ›Lizenz zum Trauern‹. Allerdings beant wortet diese Darstellung, die sich auf den Konf likt zwischen dramatischer Schicklichkeit und theatralischer Effizienz konzentriert, nicht die politische Le- gitimitätsfrage. In Rodogune und Bérénice dient die ›Lizenz zum Trauern‹ meines Erachtens nicht nur dem Genuss des Publikums an den Emotionen, der »Wollust der Tränen« (vgl. Roubine 1973, 73), sondern auch einer Erprobung der Grenze zwischen illegitimer Subversion und politisch legitimer Äußerung: Die höchst unterschiedlichen Versuchsanordnungen in den beiden Stücken mobilisieren dazu Psychologie, Galanterie, Rhetorik und Ritual auf jeweils charakteristische Art und Weise.

3. Rodogune: Tränen der Macht

Pierre Corneilles Rodogune (1647)4 führt eine komplizierte dynastische Konstel- lation vor, in der die Thronfolge nach dem Tod des Monarchen umstritten ist:

Cléopâtre, die verwitwete Regentin, herrscht, Rodogune, die als Geisel gehal- tene fremde Prinzessin, leidet, und die Zwillingsbrüder Antiochus und Séleucus rivalisieren sowohl um die Erstgeburt als auch um die Liebe der Rodogune.

Da Cléopâtre – als einzige Zeugin – den Schlüssel zu ersterem in der Hand hat, und Rodogune den Schlüssel zu letzterem, kann man sagen, dass die weib- lichen Figuren in diesem Stück mit außergewöhnlicher Macht ausgestattet sind.

Die Regentin illustriert machiavellistisches Handeln und entwickelt sich – da sie keineswegs die Absicht hat, die Herrschaft an einen ihrer Söhne abzuge- ben – zur Tyrannin. Die Prinzessin hingegen – die eigentliche Gegenspielerin Cléopâtres – gehört mit ihrer unanfechtbar heroischen Art zum Typus der femme forte, der ungef ähr zur Entstehungszeit von Rodogune die frühere »Querelle des femmes« abzulösen beginnt – etwa durch die im gleichen Jahr veröffentlichte

»Gallerie des femmes fortes« von Le Moyne (1647) (Maclean 1977, 64 ff.). Die starke Frau setzt sich – so ihre Verteidiger – gegen eine Natur durch, die sie zum schwachen Geschlecht bestimmt. Die Titelfigur von Rodogune verkörpert die-

4 Corneille 1984. Auf diese Ausgabe beziehen sich alle folgenden Akt-, Szenen- und Versanga- ben im Text.

(7)

sen Typus (Sweetser 1985, 605), wobei die eigentliche Pointe der Figurenkon- stellation darin liegt, dass die Rivalität der Männer einen schwachen, höfisch- galanten Konf likt bildet, die Todfeindschaft der Frauen hingegen die politisch relevante Krise, in der machiavellistische dissimulatio und heroische Rhetorik aufeinanderprallen (Matzat 1982, 124; Prigent 1986, 220 f.). Diese Besonderheit hat etliche misogyne Kommentare provoziert – bis ins 18. Jahrhundert hinein.

Lessing etwa stellte über Rodogune fest, »dass die Weiber darin ärger als rasende Männer, und die Männer weibischer als die armseligsten Weiber handeln« (Les- sing 1767 – 1769 / 1963, 125).

Die Hauptfiguren zeichnen sich durch ihre Tränen aus, und zwar die Männer ebenso wie die Frauen. Allerdings gehören die Situationen, in denen die Prinzen weinen, eher in ein galantes Register, während die politisch wirksamen Tränen der Regentin und Prinzessin vorbehalten bleiben. Die femmes fortes zeichnen sich nicht nur durch die Fähigkeit aus, Tränen zu unterdrücken, sondern auch durch die, sie kontrolliert f ließen zu lassen (Cron 2007, 101 ff.). Der strategische Ein- satz der Tränen durch Cléopâtre beginnt bereits in ihrer ersten Begegnung mit Antiochus und Séleucus, in der sie ihren Kindern den Kummer erläutert, den sie aus Sorge um sie ertragen musste (I, 3, 526 – 527). Das Publikum, das zu diesem Zeitpunkt aus der Exposition bereits genau weiß, dass der Regentin ausschließ- lich am Erhalt der eigenen Herrschaft gelegen ist, wird das Urteil des Antiochus begrüßen, der die Angemessenheit der Tränen bezweifelt: »Schweigen oder Ver- gessen stehen uns besser an als Tränen« (vgl. I, 3, 598). Die Trauer ist in dieser Situation für die Fürsten nicht schicklich; für die Regentin ist sie nichts als ein Mittel zum Zweck des Herrschaftserhalts. Im Übrigen lassen sich die Zwillinge nicht täuschen: »Ich entdecke, dass ihre vielgerühmten Tränen Schminke sind«, meint Séleucus nach dieser Begegnung (I, 4, 733): Beiden ist bewusst, dass sie als Instrument der Rache an Rodogune missbraucht werden sollen.

Das hindert die Prinzen aber nicht, selbst die Sprache der Tränen einzusetzen, als es darum geht, zwischen der Mutter und der Geliebten zu entscheiden: An- tiochus hofft, die eine oder die andere Dame durch sein Weinen zu erweichen und damit die politische Krise auf galante Weise entschärfen zu können (III, 5, 1093 – 1100). Er täuscht sich. Cléopâtre sagt zwar explizit, dass die Tränen der Rodogune, von denen Antiochus berichtet, ihr Mutterherz besser treffen als jede andere Waffe (IV, 3, 1345 – 1355). Aber kaum haben Antiochus und die eben- falls gerührte Zofe die Bühne verlassen, kann Cléopâtre offen gestehen, was sie wirklich meint: »Wenn ich Tränen vergiesse, so sind es Tränen der Wut« (vgl.

IV, 5, 1388). Die Tränen sind also im System der Psychologie ein Signifikant mit zwei Signifikaten (vgl. Merlin-Kajman 2007, 215).. Die fundamentale Am- biguität der Tränen in der politischen Kommunikation verdeutlicht die lange Replik Cléopâtres in der Schlussszene, in der sie selbst ihre Trauer als Mutter (V, 4, 1705) strategisch einsetzt, um den überlebenden Sohn auf ihre Seite zu bringen, und perfiderweise im gleichen Atemzug die »foi de ses pleurs« (V, 4,

(8)

1718), welche die Unschuld Rodogunes zu belegen suche, anzweifelt. Obwohl die Bezichtigung in der konkreten Situation nicht zutrifft, scheint die Möglich- keit der simulatio und dissimulatio auch für die Männer gegeben.

Gleiches gilt für Rodogune, der eigentlichen Gegenspielerin Cléopâtres. Wie schwer ihr die Selbstbeherrschung fallen muss, wird aus dem Monolog deutlich, der die Begegnung mit den Zwillingen vorbereitet: »S’il t’en coûte un soupir, j’en verserai des larmes« (Wenn es dich [Antiochus] einen Seufzer kostet, so würde ich Tränen vergießen) (III, 3, 892), gesteht sie sich selbst ein. Erst Antio- chus gegenüber entringt sich ihr ein Seufzen (VI, 1), um das sich dann die ge- samte Szene dreht; allerdings bricht sie nie offen in Tränen aus, sondern fordert resolut den Kopf der Regentin. Ob der Grund hierfür heroische Affektkontrolle oder machiavellistische dissimulatio ist, bleibt offen – und diese Ambivalenz gilt auch für Rodogunes »faibles soupirs, et […] impuissantes larmes« (»schwache Seufzer […] ohnmächtige Tränen«) (IV, 3, 1348), von denen Antiochus gerührt berichtet.

An diesen drei weinenden Figuren, an den Tränen von Cléopâtre, Antiochus und Rodogune, zeigt sich also eine Kasuistik des Weinens, bei der jeweils ritu- ell, galant und psychologisch motivierte Äußerungen der Emotion situations- genau benannt – und doch nicht vollständig transparent werden. Die politische Relevanz der Tränen, ihr Beitrag zum Regierungshandeln, wird also innerhalb der Tragödie offen verhandelt – wobei repräsentative Affektäußerung ebenso wie Affektkontrolle sich in der Abfolge von Dialogreplik und Monolog als kon- ventionelle, aber nicht eindeutige Zeichen erweisen. Mit anderen Worten: In Rodogune bilden die Tränen zugleich eine funktionale Form politischer Äuße- rung und eine dysfunktionale Unbestimmtheitsstelle. Auch wenn die Funktio- nen spätestens im Monolog offen thematisiert werden, bleibt es letztlich dem Publikum überlassen, von Fall zu Fall zu ermitteln, ob die Figuren von Herois- mus oder Herrschsucht angetrieben werden.

4. Bérénice: Tränen statt Blut

Racines Bérénice (1671)5 ersetzt programmatisch das Blut durch Tränen: Die Tragödie endet nicht mit Blutvergießen, sondern mit einem Seufzer der drei Liebenden, die sich aus politischen Gründen nicht vereinen können (Titus und Bérénice) bzw. deren Gefühle nicht gegenseitig sind (Bérénice liebt Titus, nicht den gemeinsamen Freund Antiochus, der sie liebt). Dies unterstreicht auch die rhetorische Engführung von Blut und Tränen, die an einigen Stellen verwendet wird (II, 2, 512 und V, 6, 1430 – 1434). Das Weinen der drei Hauptfiguren bildet

5 Racine 1999a. Auf diese Ausgabe beziehen sich alle folgenden Akt-, Szenen- und Versangaben im Text.

(9)

dabei eine komplementäre Kommunikationsform zur dramatischen Rede, wird allerdings durch ›implizite Regieanweisungen‹ in den Repliken der Figuren häufig thematisiert (Maskell 1991, 81 ff.). Diese wortlose ›Redekunst‹ der Trä- nen ist durchweg positiv konnotiert – und zwar für die »traurige Bérénice« (»la triste Bérénice« wird fast in der Art eines homerischen Epithetons gebraucht, II, 2, 472 und IV, 5, 1184) nicht anders als für ihre Verehrer. In diesem ganz unheroischen Klima ist die Differenz der Motive, die Differenz von Simula- tion, Dissimulation und Aufrichtigkeit, weniger relevant als die mögliche Über- lagerung von Funktionen, die dem Willen der Figuren selbst entgleiten. In der Kontamination möglicher Dimensionen des Weinens bei Racine, die Christian Biet differenziert kommentiert hat – Tränen der Galanterie, des Leidens, des Mitleids, der Frömmigkeit (Biet 1996, 115 – 153) – kompliziert sich auch die Frage nach der politischen Relevanz der Tränen.

Schon die vierte Szene des Stücks, in der sich die Königin und ihr in sie ver- liebter Jugendfreund Antiochus begegnen, präsentiert eine politisch relevante Trauer in einer strukturellen Opposition: die Staatstrauer Roms und die pri- vate Trauer der Bérénice um den verloren geglaubten Freund. Diese Opposition wird aber im Folgenden erschüttert. Der »long deuil« (I, 4, 153), die Staatstrauer, die der neue Kaiser Titus seinem Hof auferlegt, trennt ihn von Bérénice. Diese vergießt Tränen, die nicht so sehr dem offiziellen Anlass als der persönlichen Angst (»alarmes«, I, 4, 151) geschuldet sind, Titus könne sich ihr entfremden.

Erst im zweiten Akt erf ährt das Publikum die Sicht von Titus selbst, für den die Staatstrauer nur einen Vorwand darstellt: Hatte er zunächst seine Liebesschwüre mit Tränen besiegelt, so weint er seit dem Anfang seiner Herrschaft, weil er die Aussichtslosigkeit seines Verhältnisses erkannt hat (II, 2). Das Äquivoke, das in Rodogune auf der Seite der Regentin lag – die Tränen der Wut unter Tränen des Mitleids verbirgt –, charakterisiert hier den weinenden Souverän, der seinen Liebeskummer als Staatstrauer drapiert.

Von dieser Szene (II, 2)an zeichnet sich auch die Unterscheidung ab zwischen den ›konventionellen‹ Tränen, die im Rahmen der sogenannten galanten »soins«

(der Ausdruck f ällt in Szene III, 2, 806 und IV, 5, 1118) zur Sprache der Liebe gehören (Luhmann 1994, 88), und unterschiedlichen Exzessen, welche diese Form der Kommunikation usurpieren. Antiochus und Titus als Liebende dür- fen, ja müssen sogar Tränen vergießen, um ihre Liebe zu Bérénice zu bezeugen;

Titus muss um den verstorbenen Kaiser weinen. Aber diese regulären Tränen werden überwuchert von Intentionen, die nicht mehr in einer gesellschaftlich gestützten Semantik verankert sind, sondern die weinenden Individuen isolieren oder einander ausliefern. Dazu gehört auch die Verkörperung von Metaphern, welche die Sprache der Galanterie beim Wort nimmt und das gesellschaftlich ritualisierte Verhalten f ließend in tragische Ausnahmesituationen hinüberführt (Biet 1996, 116 f.).

(10)

Die Tränen werden – wie Roland Barthes schreibt – zu einem verkörperten Zei- chen, einem Mittel der strafenden oder vorbeugenden Gewalt, zu einer Form, Aufmerksamkeit zu erpressen, zu einer Folter des Betrachters (Barthes 1963, 20 f.). Bérénice ist diejenige Figur, die als erstes und wiederholt ihre Tränen in diesem Sinne verwendet (II, 2, 537 – 540). Aber auch Titus findet in der letzten Szene keine andere Erwiderung, als mit den Tränen zu drohen, die sein eigener Selbstmord verursachen kann, ihre Erpressung also mit einer eigenen Erpres- sung zu parieren (V, 6, 1431). Die scheinbare Symmetrie der letzten Szene, in der die Gewalt der Tränen Bérénices durch eine gleich große Gegengewalt auf- gewogen wird, stellt den Souverän in eine ähnliche Position wie die weinende Königin. Auch wenn sie als sterblich Liebende in einem rettenden Gleichge- wicht stehen – das garantiert, dass keiner der beiden sich das Leben nimmt –, wird das Publikum daran erinnert, dass die politische Differenz – noch vor der Geschlechterdifferenz – eine stabile Symmetrie unmöglich macht: »Vous êtes empereur, Seigneur, et vous pleurez!«, sagt Bérénice einige Zeit vorher (IV, 5, 1154) (vgl. Maskell 1991, 142).

Tatsächlich scheint es unmöglich, ein gemeinsames Maß, eine Norm der Trä- nen zu finden, die über Situationen, Funktionen (Kaiser / Königin), Diskurse (Galanterie / Leid / Mitleid / Mystik) und Geschlechter hinweg gültig ist: eine Regel der Repräsentation, die diesen labilen Signifikanten stabilisiert. Diese Frage wird jedoch nicht nur von Bérénice immer wieder aufgeworfen, in einem weitgehend bitterernst, einmal auch ironisch gemeinten Trauerwettbewerb. Dies beginnt mit dem Hinweis darauf, dass sie mehr Grund habe, ihren doppelten Verlust – von Vaterland und Geliebtem – zu beweinen als Titus, der nur seines Vaters wegen Tränen in den Augen hat (II, 4, 608 – 616 vgl. I, 4, 157). Titus macht sich die Form des Wettbewerbs zu eigen, wenn er Roms Gesetze gegen die gemeinsamen Tränen der Liebe in die Waagschale legt (IV, 4, 1011 f.). Sar- kastisch wirft Bérénice Titus sodann vor, er quäle sie, weil sie noch nicht genug weine: »Craignez-vous que mes yeux versent trop peu de larmes?« (Meint ihr, dass meine Augen zu wenige Tränen vergiessen?«) (V, 5, 1360). Dieser Vorwurf passt nicht nur zur generellen Erpressungsstrategie, sondern weist auch erneut auf die Ungewissheit hin, die mit den Tränen als Signifikanten verbunden ist (vgl. Biet 2001, 52 – 54): Die Leerstelle öffnet sich nicht nur bei der Frage nach der Motivierung (wie in Rodogune), sondern betrifft nun auch die Funktion der Tränen.

Den residualen politischen Einsatz stellt Titus am Höhepunkt des Stücks als Versuchsanordnung dar: »Stärkt Ihr selbst mein Herz gegen euch, helft mir, wenn dies möglich ist, seine Schwäche zu überwinden, die Tränen zurückzu- halten, die mir unablässig entströmen; oder möge, wenn wir unser Weinen nicht beherrschen können, wenigstens der Ruhm für unser Leid eine Stütze sein, und alle Welt einfach die Tränen eines Kaisers und die Tränen einer Königin anerkennen.« (IV, 5, 1054 – 1060) Der Kaiser zeichnet in dieser Re-

(11)

plik die beiden politischen Auswege auf, die sich nicht nur ihm, sondern auch Bérénice bieten: entweder heroische Selbstbeherrschung – also das unterdrückte Weinen – oder eine Nobilitierung der überf ließenden galanten Tränen durch die Öffentlichkeit, welche diese als Form politischer Kommunikation anerkennt (etwa in der Art des oben geschilderten päpstlichen Konsistoriums). Ob das Weinen die erwünschte Funktion hat, bleibt für den Kaiser selbst also ungewiss;

er kontrolliert weder sein Verhalten noch dessen Bedeutung in der Weise, wie es die Figuren Corneilles taten. Und ich würde diese Leerstelle auch in Bérénices Handeln vermuten.

Titus’ Replik suggeriert dem Publikum die Möglichkeit, einen tränenreichen, aber unblutigen Ausgang des Stücks als Fortsetzung der Politik mit den Mitteln der Galanterie zu verstehen. Das hat Konsequenzen für die Rolle der Königin.

Die neueren feministischen Lektüren des Stücks unterstreichen, dass der Impuls zu einer unblutigen Lösung von den Tränen der Königin ausgeht: Ihrer genau ausbalancierten Haltung und ihrem abschließenden Einsatz sei es zu verdanken, dass alle drei die Kollision überleben (vgl. Campbell 2005, 55). Das ist, struk- turell betrachtet, korrekt: Die Ersetzung von Blut durch Tränen, die program- matisch im Vorwort gefordert wird (s. o.), verwirklicht sich mit der unblutigen, aber tränenreichen Lösung, deren Urheberin niemand anderes als Bérénice ist.

Die Diskussion über die Rolle der Königin im öffentlichen Raum stößt dabei immer wieder auf eine Frage, die im Horizont des Stücks gestellt, aber nicht entschieden wird: ob die sehr wirksamen galanten Tränen der Figuren auch eine politische Legitimität begründen oder lediglich die rituelle Trauer aushöh- len, die Differenz zwischen galantem Diskurs und königlichem Diskurs dekon- struieren (Biet 2001, 51).

Das Problem der Mehrdeutigkeit hat sich bei Racine gegenüber Corneille also radikalisiert: einerseits sind die Tränen für eine unblutige Lösung des Kon- f likts unverzichtbar, andererseits fehlt diesem Ausdruck eine klare und allge- mein verbindliche Normierung. So stellt sich die Frage, ob die »soupirs« von Titus wirklich mit den »pleurs« der Bérénice auf eine Ebene zu stellen sind, wie es ein Vers von Antiochus suggeriert (V, 2, 1288). So entfaltet sich ein ständiger Wettbewerb, beginnt eine potenziell endlose Reihe von Experimenten, mit de- nen herausgefunden werden muss, ob die Redekunst der Tränen, die zwischen den Figuren aufgeboten wird, auch beim Publikum die gewünschte Wirkung entfalten kann; gemeinsam mit der klassischen Redekunst, die in Racines Poe- tik eine zentrale Funktion erfüllt (Hawcroft 1992).

Der Ausgang dieser Experimente ist gut dokumentiert (»Autour de Bérénice«

1999). Zum einen feiert Racine den Erfolg seines Experiments, das die Reak- tion des Publikums zu bestätigen scheint: Kaum ein anderes Stück, schreibt ein zeitgenössischer Kritiker, hatte die Zuschauer mehr zum Weinen gebracht (Bail- let: »Jugement des Scavans« (1685), vgl. Mélèse 1976, 144). Dabei können – zu- mindest für einen Teil der Kritiker – die mitleidigen Tränen des Publikums die

(12)

schillernden Tränen auf der Bühne re-motivieren. »On fera réf lexion que tout le monde qui y pleure, n’y pleure pas pour rien«, schreibt Saint-Ussans zur Ver- teidigung der Bérénice (»Autour de Bérénice« 1999, 531). Zum anderen jedoch wird Racine zutiefst verletzt von der grotesken Parodie Fatouvilles, Arlequin pro- tée (1683), die sich gerade über die Tränen »pissende« Königin mokiert (Maskell 1991, 239). Mit dem Absinken der Tränen in den Bereich der niederen Kör- perf lüssigkeiten ist ihre politische Bedeutsamkeit natürlich vernichtet; sie wer- den zum Inbegriff lächerlicher, unwirksamer »Redekunst«, die das karnevaleske Umkehrbild klassischer Rede ist. Dies verdeutlicht Racines eigene 1668 aufge- führte Komödie, Les Plaideurs, die sich über die Sitten der Anwälte lustig macht.

In einer Szene dieses Stücks werden vor Aufregung urinierende Hundewelpen dem Gericht vorgeführt: »Monsieur, dies sind ihre Tränen« (Racine 1999b, 361 (III, 3, 850), vgl. Maskell 1991, 84). Der Heroismus der Tragödie kann also in das Hündische der Komödie kippen; wie bei einem Lackmustest erweist sich die politische Relevanz der Tränen erst in der Begegnung mit dem Publikum.

5. Fazit

Die beiden analysierten Tragödien inszenieren also eine »Redekunst der Trä- nen« im positiven Sinn, insofern als Tränen darin als eine Form öffentlicher Kommunikation dienen; zumindest versuchsweise erscheinen sie als ein funk- tionierendes Mittel der Politik. Allerdings steht es als solches immer im Grenz- bereich zwischen Legitimität und Subversion; es bildet eine Unbestimmtheits- stelle, welche bei Corneille nur die Motivierung, bei Racine auch die Funktion der Tränen betrifft. Das Weinen ist in den betrachteten Stücken vorrangig – aber keineswegs spezifisch – weiblich; gerade durch die Kontamination ver- schiedener, galanter, psychologischer, ritueller Motive treffen sich die Tränen der Frauen und der Männer. Die Tragödie dient nicht nur dazu, das Publikum zu Tränen zu rühren, sondern mit den Grenzen dieser Kommunikationsform zu experimentieren, und kühne Dehnungen sozial akzeptablen (›Lizenz zum Trau- ern‹) oder sogar politisch relevanten (›Tränen der Macht‹) Verhaltens vorzufüh- ren. Dieses Experiment ist auf die Begegnung mit dem Publikum angelegt, und die Kritik wie auch einige Repliken unterstreichen diese Versuchsanordnung, in der die Grenzen schicklicher und wahrscheinlicher Kommunikation ausgelotet werden. Ob die Tränen im Einzelfall legitim sind, ob sie für beide Geschlech- ter als »fürstlich« anerkannt werden, wie es in Titus’ Schlüssel-Replik heißt, ob die Traurigkeit der Bérénice als »majestätisch« gelten kann, wie Racines eigenes Vorwort hofft – diese Entscheidung blieb letztlich einem Publikum anheimge- stellt, auf dessen Gnade nicht nur die Schauspielerin, sondern auch der Autor selbst angewiesen war.

(13)

Literatur

Althoff, Gerd (1986): Der König weint. Rituelle Tränen in öffentlicher Kommunikation. In:

Müller, J.-D. (Hrsg.): »Aufführung« und »Schrift« in Mittelalter und früher Neuzeit. Stuttgart, 239 – 252.

VV.AA. (1999): Autour de Bérénice. In: Racine, J.: Œuvres complètes I, hrsg. von G. Forestier.

Paris, 511 – 556.

Barthes, Roland (1963): Sur Racine (1960). Paris.

Basnage de Beauval, Henri (1687): Histoire des ouvrages des sçavans I. Rotterdam.

Basnage de Beauval, Henri (1701): Dictionnaire universel II. La Haye und Rotterdam.

Bayne, Sheila Page (1981): Tears and Weeping: An Aspect of Emotional Climate Ref lected in Seventeenth-century French Literature. Tübingen.

Biet, Christian (1996): Racine ou la passion des larmes. Paris.

Biet, Christian (2001): Women and Power in Britannicus and Bérénice: The Battle of Blood and Tears. In: Caldicott, E. / Conroy, D. (Hrsg.): Racine. The Power and the Pleasure. Dublin, 39 – 54.

Campbell, John (2005): Questioning Racinian Tragedy. Chapel Hill.

Charron, Pierre (1986): De la Sagesse (1604), hrsg. von B. de Negroni. Paris.

Chihaia, Matei (2002): Institution und Transgression. Inszenierte Opfer in Tragödien Corneilles und Racines. Tübingen.

Corneille, Pierre (1984): Rodogune (1647). In: Ders.: Œuvres complètes II, hrsg. von G. Couton.

Paris, 191 – 266.

Cron, Adélaïde (2007): Larmes et identité féminine dans l’écriture mémorialiste : une corrélation problématique. In: Littératures classiques 2007/1 Nr. 62, 93 – 105.

Donneau de Visé (1740): Défense de la Sophonisbe de Monsieur de Corneille (1663). In: Granet, F. (Hrsg.): Recueil de dissertations sur plusieurs tragédies de Corneille et de Racine I, Paris, 154 – 194.

Furetière, Antoine (1690): Dictionnaire universel II. Den Haag / Rotterdam.

Hawcroft. Michael (1992): Word as Action. Racine, Rhetoric, and Theatrical Language. Ox- ford.

Hénin, Emmanuelle (2007): Le plaisir des larmes, ou l’invention d’une catharsis galante. In: Lit- tératures classiques 2007/1 Nr. 62, 223 – 244.

Imorde, Joseph (2008): Die Gabe der Tränen in der religiösen Kultur der frühen Neuzeit. In:

Söntgen, B. / Spiekermann, G. (Hrsg.): Tränen. München, 41 – 55.

Kablitz, Andreas (2000): Corneilles theatrum gloriae. Paradoxien der Ehre und tragische Kasuis- tik (Le Cid – Horace – Cinna). In: Küpper, J. / Wolfzettel, F. (Hrsg.): Diskurse des Barock.

Dezentrierte oder rezentrierte Welt?. München, 491 – 552.

La Bruyère (1962): Les Caractères ou les mœurs de ce siècle, hrsg. von R. Garapon. Paris.

La Fontaine (1958): Œuvres complètes I, hrsg. von P. Clarac. Paris.

La Mesnardière (1639): La Poétique. Paris.

La Rochefoucauld (1976): Réf lexions et Maximes diverses, hrsg. von J. Lafond. Paris.

Lessing, Gotthold Ephraim (1963): Hamburgische Dramaturgie, hrsg. von Otto Mann. Stuttgart.

Luhmann, Niklas (1994): Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a. M.

Maclean, Ian (1977): Woman Triumphant. Feminism in French Literature 1610 – 1652. Oxford.

Maskell, David (1991): Racine. A Theatrical Reading. Oxford.

Matzat, Wolfgang (1982): Dramenstruktur und Zuschauerrolle. Theater in der französischen Klassik. München.

Mélèse, Pierre (1976): Répertoire analytique des documents contemporains d’information et de critique concernant le théâtre à Paris sous Louis XIV (1659 – 1715) (1934). Genf.

(14)

Merlin-Kajman, Hélène (2007): Les Larmes au XVIIe siècle: entre pathos et logos, féminin et masculin, public et privé. In: Littératures classiques 2007/1 Nr. 62, 203 – 221.

Merlin-Kajman, Hélène (2000): L’Absolutisme dans les Lettres ou la théorie des deux corps. Pas- sions et politique. Paris.

Porte, Joseph de la (1775): Anecdotes dramatiques. Paris.

Prigent, Michel (1986): Le Héros et l’État dans la tragédie de Pierre Corneille. Paris.

Racine, Jean (1999a): Bérénice (1671). In: Ders.: Œuvres complètes I, hrsg. von G. Forestier.

Paris, 447 – 509.

Racine, Jean (1999b): Les Plaideurs (1679). In: Ders.: Œuvres complètes I, hrsg. von G. Forestier.

Paris, 299 – 365

Roche, Denis (2007): Le partage des larmes: spectateur et tragédie au XVIIe siècle. In: Littéra- tures classiques 2007/1 Nr. 62, 245 – 257.

Roubine, Jean-Jacques (1973): La stratégie des larmes au XVIIe siècle. In: Littérature 1973 Nr. 9, 56 – 73

Saint-Evremond, Charles de (1796): Elegie sur la mort du Duc de Candale. In: Ders.: Œuvres mêlées I. Amsterdam, 164 – 165.

Saint-Evremond (1865): À un auteur qui me demandait mon sentiment d’une pièce où l’héroïne ne faisait que se lamenter. In: Ders.: Œuvres melées II, hrsg. von C. Giraud. Paris, 346 – 349.

Saint-Simon (1985): Mémoires IV, hrsg. von Y. Coirault. Paris.

Santos, Ana Clara Santos (2006): La mère dans sa condition de souveraine: de la régence à la tragédie cornélienne et racinienne. In: Civil, P. / Boillet, D. (Hrsg.): L’actualité et sa mise en écriture aux XVè – XVIè et XVIIè siècles, Espagne, Italie, France et Portugal. Paris, 27 – 40.

Scott, Virginia (2010): Women on the Stage in Early Modern France: 1540 – 1750. Cambridge.

Sweetser, Marie-Odile (1985): Les femmes et le pouvoir dans le théâtre cornélien. In: Niderst, A. (Hrsg.): Pierre Corneille. Actes du Colloque tenu à Rouen du 2 au 6 octobre 1984. Paris, 605 – 614.

Voltaire (1784): Lettres à l’Académie française (1778). In: Ders.: Œuvres complètes VI. Basel, 253 – 269.

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Butanal, 2-methyl Dietyl fumarate Butnoic acid, 3-methyl-, ethyl ester..

Wenige Jahre später stellt Emmerich Kálmán im wichtigsten Operettenhaus der damaligen Zeit, dem Theater an der Wien, die deutsche Umarbeitung seiner ersten Operette Tatárjárás

Für mich ist es unerlässlich, dass beim Er- lass jeder neuen gesetzlichen Regelung – ins- besondere auch auf Verordnungsstufe – eine umfassende Regulierungsfolgenabschätzung (RFA)

Sie sollen Ihren Triumph haben. Sie sollen denken, -was Sie wollen,- Gutes oder Schlech- tes. Ihnen erlaubt Nur dürfen Sie es nicht sagen und schon gar nicht Kapital daraus

Die für die drei Rebsorten ermittelten Durch- schnitts-Oechslegrade stimmen recht gut mit den kürzlich von Müller (2001) für die Jahre 1981 bis 1990 publizierten Werte für den

Nur zwei- mal interveniert ihre Schwester: Direkt von Chrysothemis um ihre Reaktion gefragt, bemerkt sie beiläufig »Armes Ge- schöpf.« (2(4)91) Sie spricht nicht mit ihr, sondern

dafür gewesen sei, dass mit Deutsch- lands Vereinigung „auch eine umfas- sendere außenpolitische Verantwor- tung verbunden sein würde“ (S. 146), so gilt das sicherlich

Allmählich werden sich auch dort die Menschen der Tatsache bewusst, dass eine bessere Hygiene, Medizin und Er- nährungsversorgung einen höheren Anteil der Kinder überleben lässt,