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Predigt beim Gottesdienst zur Wallfahrt mit obdachlosen Menschen im Stift Schlägl

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Kostbar ist mir jeder Tropfen Zeit

Predigt beim Gottesdienst zur Wallfahrt mit obdachlosen Menschen

10. September 2021, Stift Schlägl

Am 28. Mai 2019 war ich bei einem Philosophenkreis der besonderen Art. Als Thema hatte ich vorgeschlagen: „Was ist Zeit?“ auf der Grundlage des 11. Buches der Confessiones des Augustinus. Es gibt drei Arten von Zeit: die Gegenwart des Vergangenen, die Gegenwart und die Gegenwart der Zukunft. Ist die Vergangenheit nicht abgeschlossen, perfekt. Oder prägt sie die Gegenwart? Das war dann dem Philosophenkreis klar und deutlich. Die Vergangenheit wirkt massiv in die Gegenwart: Ich wäre nicht hier in der JVA in Garsten, wenn ich nicht dieses Delikt begangen hätte.

Und noch ein Wort des Augustinus führte zu intensiven Auseinandersetzungen: „Kostbar ist mir jeder Tropfen Zeit.“ (Conf. 11,2,2) Meine Zeit hier ist verloren. Ich schlage die Zeit tot. Einer ist auf Entzug, um nicht zu viel von den Sauereien mitzubekommen.

„Das Leben lebt nicht.“ So setzt Theodor Adorno sein Motto an den Beginn seiner Minima moralia. Und: „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen.“1 Adorno sagt das im Zusammenhang mit der Kritik am Wohnen unter der Überschrift „Asyl für Obdachlose“. – Gibt es ein „richtiges“

Leben in bedrückenden Verhältnissen? Kann man gut leben und arbeiten in entfremdenden Systemen und Zwängen von Wirtschaft, Wissenschaft, Medien, Schule, Bürokratie, Verwal- tung? Was heißt es heute, Lebensfreude zu vermitteln angesichts von Depression und Resig- nation? Wie können Lebensräume erschlossen werden für Menschen, die unter psychischer Obdachlosigkeit leiden? Wie kann Süchtigen, AsylwerberInnen, Arbeitslosen gesagt werden:

Du bist etwas wert, du hast einen Platz, ich schreibe dich nicht ab? Wie können Vereinsamung und Vereinzelung, Lebensunfähigkeit, Arbeitsunfähigkeit überwunden werden? Was ist mit der Sprachlosigkeit und den Kontaktängsten? Keinen Platz oder keinen Raum zu haben, das kann im Hinblick auf Arbeit heißen: Du wirst hier nicht mehr gebraucht, du bist überflüssig, du ge- hörst zum alten Eisen, du bist nichts mehr wert. Wenn Beziehungen und Freundschaft kein Raum und keine Zeit gegeben werden, so führt das zum Würgegriff der Vereinsamung. Wer zu wenig Platz hat oder unter Raumnot leidet, der wird in die Enge getrieben, kann nicht mehr frei atmen und wird vielleicht auch von Angst besetzt. Manche sprechen von einer „Sinnhun- gerepidemie“.

Und doch: Einer in der JVA Garsten meditiert und vergisst alles rundherum. „Du bist ein rich- tiger guter Kumpel. Die Intimität mit meiner Frau ersetzt du mir nicht, aber mit so einem Freund ist es besser auszuhalten.“ „Ich freue mich auf den Besuch meiner Tochter.“ Kostbar ist mir jeder Tropfen Zeit. Es gibt ein richtiges Leben im falschen!?

Kostbar ist mir jeder Tropfen Zeit: Einmal hast du eine Blume wahrgenommen und darüber gestaunt, dass es so etwas Schönes einfach gibt. Einmal hast du eine Berührung gespürt, eine Umarmung erfahren, und du hast gewusst: Da ist einer, der mich mag. Einmal hast du dich gewundert, als du bemerktest, dass du vor dich hin pfeifst. Einmal warst du so glücklich, dass es fast wehtat. Einmal hast du lange in die Flamme einer Kerze geschaut. Einmal hast du etwas vom Geheimnis Gottes geahnt. Es gibt Sternstunden des Lebens, die wir nie vergessen.

Da sind Taborstunden, Erfahrungen des Glücks, der Lebensfreude, der intensiven Beziehung,

1 Theodor Wiesengrund Adorno, Minima Moralia, I, 18; Gesammelte Schriften, Bd. 4, 19.

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die zu uns gehören. Solche Erinnerungen sind Anker der Hoffnung; sie geben Zuversicht auch in dunklen Stunden und lassen nicht verzweifeln.

+ Manfred Scheuer Bischof von Linz

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