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Depression – eine moderne Zeitkrankheit? : zu einer neuen Reihe des Sigmund-Freud-Instituts

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Academic year: 2022

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G u t e B ü c h e r

96 F o r s c h u n g F r a n k f u r t 1 / 2 0 0 6

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erdeckt hinter vielfältigen Kör- persymptomen oder Schlafstö- rungen erkennen Ärzte Depressio- nen nur etwa bei der Hälfte der daran leidenden Menschen. Etwa sechs Prozent oder 3,1 Millionen

tiziert, aus denen die Betroffenen keinen Ausweg sehen: Arbeitslosig- keit, Orientierungsverlust, Umwer- tung der Werte, ungesicherte Zu- kunft, Terrorbedrohung. Daher ist es äußerst verdienstvoll, dass sich Wissenschaftler des Frankfurter Sig- mund-Freud-Instituts, 1960 von Alexander Mitscherlich mit tatkräf- tiger Unterstützung des Landes Hes- sen gegründet, des vernachlässigten Themas konstruktiv annehmen.

Band 1 gewährt Einblick in die aufwändige Arbeit in einzelnen Analysen, die in einer umfassenden Studie ausgewertet wurden: Bei 80 Prozent der über 400 Patienten bes- serte sich ihr Befinden deutlich in dem Maße, in dem ihre seelischen Nöte verstanden wurden. Die Psy- choanalyse beansprucht nicht mehr das Deutungsmonopol; auch Medi- kamente und Verhaltenstherapie haben Erfolge, vor allem aber Me- thodenkombinationen. Unerlässli- che sozialpsychologische Aspekte – die Psychoanalyse verstand sich schon immer als Gesellschaftskritik!

– runden den informativen Band ab und schlagen die Brücke zu Band 2.

Hier gelangen neben Krankheits- lehre, Behandlungsmethoden und empirischer Forschung aktuelle Be- findlichkeiten der Menschen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert ins Blickfeld: Macht Depression auf un- erkannte Verluste aufmerksam?

Was haben wir verloren? Sicheren Halt, verlässliche Orientierung, Zu- kunftsperspektiven? Gelangen wir an die Grenzen möglicher Erkennt- nis? Ist der Traum vom Faustischen Streben ausgeträumt? Nicht alle Fragen werden beantwortet, einige aber doch: Depression kann kreativ machen (Stephan Hau), Frauen werden im Laufe ihrer Entwicklung zur weiblichen Identität in ge- schlechtsspezifischer Weise stärker gefordert als Männer (Ilka Quin- deau). Melancholie war schon im- mer eine Lebensform. Rolf Haubl zeigt dies eindrucksvoll am Beispiel Walter Benjamins; sie bestimmt maßgeblich die Gegenwartslitera- tur, wie Heinrich Deserno am Bei- spiel von Dieter Wellersdorfs Ro- man »Der Liebeswunsch« überzeu- gend interpretiert. Weitere Beispiele

aus der Literatur wären Fontanes

»Effi Briest«, Gontscharovs »Oblo- mov« oder Arthur Millers »Tod eines Handlungsreisenden«. Aber auch die bildende Kunst reflektiert die latente Depression der Mensch- heit, wie jüngst eine Ausstellung im Grand Palais Paris über »Melancho- lie – Génie et folie en Occident« be- wies. Meist reagieren die Künstler in kreativer Weise auf schwer er- trägliche Zustände einer kranken Gesellschaft. Alexander Mitscher- lichs »Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft« lässt grüßen (Der Kranke in der modernen Gesell- schaft, 1967) oder Margarete Mit- scherlichs »Vom Ende der Vorbil- der« (1978). Idole halten nicht das, was sie versprechen, und christliche Werte haben in einer säkularisier- ten Welt keine Chance mehr, ob- wohl die Menschen in der Not nach Katastrophen wieder den Trost in der Kirche suchen. Oder vermeiden die Menschen Depression durch Flucht in Hektik? Tomas Plänkers befasst sich mit der Manie als Ab- wehr von Depression. Er begrenzt sich aber ausnahmsweise auf den Einzelnen. Dabei wäre es nahelie- gend, Depression in der Gesellschaft als kollektive Reaktion auf nicht be- wältigte Trauer zu deuten: Wir ha- ben keine Zeit mehr zu trauern, früher emotional aufgeladene Be- erdigungsriten sind durch betont sachliche Abläufe ersetzt. Insofern wäre Depression Ausdruck einer

»Unfähigkeit zu trauern« wie die beiden Mitscherlichs, bezogen auf die deutsche Nachkriegsgesellschaft, 1967 kühn diagnostizierten. Trau- ern fällt schwer; nicht von ungefähr sprach Freud von »Trauerarbeit«.

Die Wissenschaftler des Sig- mund-Freud-Instituts haben eine schwierige Umstrukturierung trotz existenzieller Bedrohung jedenfalls kreativ bewältigt. Mit ihren neuen Schriftenreihen liefern sie den le- bendigen Beweis für die erfolgrei- che Überwindung der eigenen de- pressiven Krise. Sie sind so produk- tiv wie nie zuvor. Die Anbindung des Instituts an die Universität war dabei sicher eine wichtige Voraus- setzung. Auf weitere Publikationen darf man gespannt sein. ◆

Depression – eine moderne Zeitkrankheit?

Zu einer neuen Reihe des Sigmund-Freud-Instituts

Der Autor Prof. Dr. Peter Kutterlehrte und forschte von 1974 bis 1994 als Pro- fessor für Psy- choanalyse an der Universität Frank- furt; seit seiner Pensionierung 1994 lebt er in Stuttgart.

Marianne Leuzinger- Bohleber/Stephan Hau/

Heinrich Deserno (Hrsg.) Depression – Pluralismus in Praxis und Forschung Verlag Vandenhoeck &

Ruprecht,

Göttingen 2005, ISBN 3-525-45164-4, 252

Seiten, 38,90 Euro. Stephan Hau / Hans- Joachim Busch / Heinrich Deserno (Hrsg.) Depression – zwischen Lebensgefühl und Krankheit Verlag Vandenhoeck

& Ruprecht,

Göttingen 2005; ISBN 3-525-45163-6, 349 Seiten, 27,90 Euro.

Bundesbürger, darunter viele Ju- gendliche, sind betroffen. Damit zählt diese Erkrankung zu einer der häufigsten. Psychiater verordnen bei Depressionen Psychopharmaka.

Psychoanalytiker suchen nach den seelischen Hintergründen, doch ih- re Interpretationen wechseln mit der Entwicklung ihres Fachs: unbe- wusste Wendung der Aggression gegen sich selbst, Selbstbestrafung aus Schuldgefühl, Reaktion auf Ver- luste, Selbstwertzweifel, Folge nicht bewältigter seelischer Verletzungen im Kindesalter, Defizite in der Ent- wicklung der Persönlichkeit. Neuer- dings werden soziale Zustände von Überforderung als Ursache diagnos-

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