H A L I D B A S
«Wir haben bewusst den Namen Be- handlungsempfehlungen gewählt und nicht Leitlinien, da dieser Begriff in der Schweiz als zu einengend im Sinne von Richtlinien empfunden wird», stellte Frau Professor Edith Holsboer-Trachsler von den Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel einleitend klar.
Das in Kürze zu publizierende Doku- ment «Die somatische Behandlung der unipolaren depressiven Störungen» soll als Entscheidungshilfe verstanden wer- den und ist Ergebnis langjähriger Dis- kussionen über Sinn und Zweck einer solchen Wegleitung sowie Frucht einer bemerkenswerten Zusammenarbeit in der Schweiz tätiger Experten. Diese haben sich für die «Schweizer Behand- lungsempfehlungen 2010» auf die Inter- nationalen Leitlinien der World Federa- tion of Societies of Biological Psychiatry (WFSBP) 2008 und die Nationale Ver- sorgungsleitlinie (S3) der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychothe - rapie und Nervenheilkunde (DGPPN) 2009 gestützt. Die Arbeitsgruppe nahm jedoch eine eigene Einschätzung der
Evidenzlage (anhand der gängigen Evidenzgrade A bis E) vor, achtete auf ethische Verpflichtung und klinische Relevanz sowie auf die praktische An- wendbarkeit der Empfehlungen, ebenso wie auf Patientenpräferenz und Umsetz- barkeit, wie Frau Professor Holsboer- Trachsler betonte. Medikamente, die in der Schweiz gar nicht zugelassen sind, wurden nicht berücksichtigt.
Heute liegen den somatisch orientierten Behandlungsempfehlungen die Modell-
vorstellungen des seinerzeit bahnbre- chenden US-amerikanischen Psychia- ters David J. Kupfer zugrunde, die für depressive Störungen umschriebene Therapieziele zur Modifikation des Ver- laufs vorgeben (Abbildung 1).
Psychosoziale und berufliche Funktion wiederherstellen
In der akuten Behandlungsphase einer Depression ist das Erreichen einer Re- mission das Therapieziel. «Zur Remission gehört ausdrücklich auch die Wiederher- stellung der psychosozialen bezie hungs - weise beruflichen Funktion und nicht nur eine psychopathologische Besserung», be- tonte die Referentin. Mittelfristige Ziele sind die Elimination von Residualsym - ptomen, die Rehabilitation auf das frü- here Niveau und die Rückfallverhütung.B E R I C H T
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ARS MEDICI 21 ■2010Akuttherapie der Depression
Neue schweizerische Behandlungsempfehlungen
Die Schweizerische Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD) hat zusammen mit der Schweizerischen Gesellschaft für Biologische Psych iatrie (SGBP) und in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) erstmals Behandlungsempfehlungen zur Akut- und Langzeittherapie der Depression herausgegeben. Hier werden die für die Praxis wichtigen Entscheidungshilfen zur Akuttherapie vorgestellt.
1stSwiss Forum for Mood and Anxiety Disorders (SFMAD)
26. August 2010 in Zürich
Gesundheit
Symptome
Syndrom
Krankheit
Behandlungsabschnitte Akuttherapie (6—12 Wochen)
Erhaltungstherapie (4—9 Monate)
Prophylaktische Therapie (ab 1 Jahr) Remission
Vollständige stabile Remission
Rückfall Rezidiv
3—6 Monate Monate/Jahre Therapeutisches
Ansprechen En
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eit
Abbildung 1: Modell des typischen Verlaufs einer depressiven Störung und deren Behandlung (modifiziert nach Kupfer 1991)
Zur umfassenden Depressionsbehand- lung gehört als langfristiges Ziel die Pro- phylaxe erneuter depressiver Episoden (Abbildung 1).
Bei der Wahl der geeigneten Behand- lungsalternative soll man sich nach der Schwere der Symptome, dem Erkran- kungsverlauf sowie der Patientenpräfe- renz richten. Die Behandlungsempfeh- lungen nennen vier primäre Strategien:
■ aktiv-abwartende Begleitung
■ Medikamente
■ Psychotherapie
■ Kombination von Pharmako- und Psychotherapie.
In der Akutbehandlung ist zwischen einer leichten sowie einer mittelgradig oder schweren depressiven Episode zu unterscheiden (Abbildung 2).
Vorgehen bei leichter depressiver Episode
Bei einer leichten depressiven Erkran- kung ist die aktiv-abwartende Beglei-
tung (watchful waiting) ausdrücklich als Option erwähnt. Bei Verschlech - terung sollte aber spätestens nach 14 Tagen eine spezifische Therapie be- gonnen werden. Diese kann medika- mentös oder psychotherapeutisch sein.
«Diese Empfehlung trägt der Tatsache Rechnung, dass es bei leichten Depres- sionen für eine Überlegenheit der Phar- mako- über die Psychotherapie keine Evidenz gibt», sagte Frau Professor Holsboer. «Bei leichten Depressionen scheinen Medikamente häufig nicht zu wirken», so die Referentin. «Sehr wich- tig ist in jedem Fall die Aufklärung und Psychoedukation, um die Patientin oder den Patienten als Partner auf dem weite- ren Weg zu gewinnen.»
Zur Erstbehandlung bei leichten Depres- sionen werden Antidepressiva nicht ge- nerell empfohlen, denn es hat eine indi- viduelle Abwägung zwischen Nutzen und Risiken zu erfolgen. Beim Einsatz von Antidepressiva ist dem Wunsch oder der Präferenz des Patienten Rech-
nung zu tragen. Für Antidepressiva sprechen positive Erfahrungen des Pa- tienten mit gutem Ansprechen in der Vergangenheit, das Fortbestehen von Symptomen nach anderen Interventio- nen sowie mittelgradige oder schwere depressive Episode(n) in der Vorge- schichte. «Die Psychotherapie ist bei leichter und mittelschwerer Episode ein angemessenes Angebot», präzisierte die Basler Psychiaterin. Unter den geeigne- ten Psychotherapien erwähnte sie die kognitive Verhaltenstherapie, die inter- personelle Psychotherapie sowie psy- chodynamische Kurztherapien.
Vorgehen bei mittelgradiger und schwerer depressiver Episode
Bei akuter mittelgradiger depressiver Episode soll ein Antidepressivum ange- boten werden. Eine Psychotherapie ist aber eine Alternative (Abbildung 2). Dem- gegenüber ist bei der akuten schwe ren Depression eine Kombinationsbehand- lung aus Psycho- und Pharmakotherapie A K U T T H E R A P I E D E R D E P R E S S I O NARS MEDICI 21 ■2010
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Psychotherapie ODER
Pharmakotherapie Monitoring (1×/W.)
klinische Wirkungsprüfung nach 3—4 Wochen
Fortsetzen der Therapie
Therapieanpassung/
Ergänzung (Augmentation)
Monitoring alle 2—4 Wochen Ab dem 3. Monat > 4 Wochen
Monitoring alle 1—2 Wochen Wirkungsprüfung nach 3—4 Wochen Leichte Depression?
Aufklärung/Psychoedukation
Partizipative Entscheidung
Aktiv abwartende Begleitung (14 Tage)
Anhaltende/verschlechterte Symptomatik?
Besserung > 50% Besserung < 50%
Psychotherapie ODER/UND Pharmakotherapie Mittelgradige/schwere Depression?
Aufklärung/Psychoedukation
Partizipative Entscheidung Ja
Ja
Ja
Ja
Ja
Ja Ja
Abbildung 2: Algorithmus zur Therapie depressiver Störungen in den Schweizer Behandlungsempfehlungen 2010
B E R I C H T
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ARS MEDICI 21 ■2010das empfehlenswerte Vorgehen. Bei psy- chotischer Depression soll in jedem Fall eine medikamentöse Behandlung erfol- gen.
Die neuen Behandlungsempfehlungen halten bemerkenswerterweise fest, dass bei leichten und mittelgradigen Episo- den bei Beachtung der spezifischen Ne- benwirkungen und Interaktionen ein erster Therapieversuch mit einem Jo- hanniskrautpräparat unternommen wer - den kann.
Auch bei der Auswahl von anderen Antidepressiva ist den individuellen Aspekten Rechung zu tragen. So haben trizyklische Antidepressiva (TZA) und neue Antidepressiva (neue AD) unter- schiedliche Nebenwirkungsprofile. Bei den TZA ist wegen der geringen Über- dosierungssicherheit (Suizid) Vorsicht geboten. Anhaltspunkte ergeben sich aus der früheren Wirksamkeit und Ver- träglichkeit eines Präparats. Auch die in- dividuelle Erfahrung des Arztes mit ein- zelnen Antidepressiva spielt eine Rolle.
Schliesslich sind Komorbiditäten sowie höheres Alter, begleitende Zwangsstö- rung und Komedikationen und Patien-
tenpräferenzen (individuelle Gewich- tung von Wirkung und Nebenwirkun- gen) wichtig.
Kein adäquates Ansprechen auf Pharmakotherapie: wie weiter?
«Beim Hausarzt darf bei 60 bis 80 Pro- zent der Patienten mit einer Remission oder Response gerechnet werden, beim Psychiater, der die schwereren Fälle sieht, bei 40 bis 60 Prozent», stellte Frau Professor Holsboer-Trachsler fest. Eine ungenügende Therapieantwort ergibt sich insgesamt bei 30 bis 50 Prozent der Patienten, ist also ein häufiges Ereignis.
Gründe für ein Nichtansprechen auf die medikamentöse Behandlung sind:
■ falsche oder unvollständige Diagnose
■ übersehene Komorbiditäten
■ nicht adäquate Durchführung der Therapie
■ Complianceprobleme
■ Interaktionen, Pharmakogenetik.
Rund 10 Prozent der Kaukasier metabo- lisieren das Cyp2D6-Enzym «schlecht»
oder «exzessiv». In einer Studie mit Fluoxetin zeigte sich beispielsweise, dass
nach 6-wöchiger Nonresponse 41 Pro- zent der Nonresponder nach 12 Wochen dennoch remittierten. Auch für Sertralin ist ein verzögerter Eintritt der erwünsch - ten Wirkung in einer Studie dokumen- tiert worden.
Ein Wechsel des Antidepressivums ist in mehr als der Hälfte der Fälle bei Thera- pieresistenz hilfreich (Evidenzgrad B).
«Demgegenüber gibt es wenig Evidenz bezüglich der Wahl des zweiten Antide- pressivums», stellte die Referentin fest.
Für die Wirksamkeit einer Kombina - tionstherapie gibt es keine überzeu- gende Evidenz (Grad C) und keine klini- schen Richtlinien.
Für die verschiedenen Augmentations- strategien (Abbildung 3) fanden die Au- toren der Behandlungsempfehlungen sehr gute Evidenz (Lithium, Atypika wie Olanzapin oder Aripiprazol, kognitive Verhaltenstherapie, serieller Schlafent- zug, Elektrokrampftherapie [EKT]: Grad A; Schilddrüsenhormone: Grad B). ■ Halid Bas
Teil- oder kein Ansprechen auf eine 2- bis 4-wöchige Behandlung
mit einer antidepressiven Medikation in adäquater Dosierung
Optimierung der Behandlung (Dosiserhöhung)
Augmentationsstrategien 1. Wahl: Lithium
Andere: atypische Antipsychotika, Schilddrüsenhormon (T
3)
Angemessene zusätzliche Psychotherapie zu jedem Zeitpunkt während der
Behandlung
Erwägen einer EKT zu jedem Zeitpunkt während der Behandlung
Wechsel zu einem neuen Antidepressivum einer anderen oder derselben pharmakologischen Klasse Kombination zweier
Antidepressiva verschiedener
Klassen
Abbildung 3: Therapeutische Möglichkeiten bei nur Teil- oder fehlendem Ansprechen auf die anfängliche Behandlung mit einem Antidepressivum EKT = Elektrokrampftherapie