A94 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 106⏐⏐Heft 3⏐⏐16. Januar 2009
M E D I E N
GESUNDHEITSWESEN
Kein Buch für eine Nacht
Appelle an die Eigenverantwortung gehören zum Standardrepertoire der Ratschläge zur Rettung unseres Ge- sundheitswesens. Die Menschen sollen für ihre Gesundheit mehr Ver- antwortung übernehmen, dadurch werden Krankheiten und Kosten glei- chermaßen vermieden, so lautet das Credo. Bettina Schmidt hat sich vor- genommen, die inneren Wi- dersprüche dieses Diskurses aufzudecken. Dieser Ver- such ist rundum gelungen.
Sie legt dar, dass Eigenver- antwortung ein ausgespro- chen voraussetzungsreiches Geschehen ist, das nicht ein- fach als individuelle Tugend gefordert werden kann. Die Zuschreibung von Verant- wortung ist vielmehr ein sozialer Prozess, in dem diejenigen, von denen mehr Eigenverantwortung ver- langt wird, erstens nicht zu Wort kommen und zweitens systematisch überfordert werden. Mit dem Appell an die Eigenverantwortung wird aus- gerechnet den sozial Schwachen die
Verantwortung für die Bedarfsge- rechtigkeit und Finanzierbarkeit des Gesundheitswesens aufgebürdet. Ei- genverantwortung wird so zu einem Ersatz für gerechte Politik. Das sei widersinnig, so Schmidt, weil man nur dann Verantwortung übernehme, wenn man das Gefühl hat, dass es ge- recht zugehe.
Einen kritischen Blick wirft die Autorin auch auf die emanzipatori- schen Konnotationen der Eigenver- antwortung. Mitnichten gehe es um eine Aufhebung des traditionellen Paternalismus im Gesundheitswe- sen, vielmehr sei der Eigenverant- wortungsdiskurs gerade dessen zeit- gemäße Form: Es geht darum, dass die Menschen wollen, was sie sol- len. Nicht buttom up, sondern top down verlaufe die Zuschreibung der Eigenverantwortung.
Des Weiteren diskutiert Bettina Schmidt die These von der Präventi- on als Mittel der sozialen Distinktion, eine These, die auf Bourdieus „feine Unterschiede“ zurückgeht. Dazu zieht Schmidt vor allem das Beispiel der Adipositasprävention und der Ernährungsratschläge heran. Die Er- folgreichen sind schlank und gesund, Dicksein zeigt die Zugehörigkeit zur
sozialen Verlierergruppe an. Auch dies ist ein Punkt, der dem Appell zur Eigenverantwortung zuwiderläuft:
Warum sollen die Ausgegrenzten Verantwortung für ein System über- nehmen, das sie ausgrenzt?
Der Lösungsvorschlag der Auto- rin für dieses Dilemma ist erfreulich unprätentiös: Sie schlägt ein gestuf- tes Verantwortungskonzept vor, das sich daran orientiert, wer welche Lasten tragen kann. Dies systemati- siert sie anhand von bioethischen Prinzipien: Die Zuschreibung von Verantwortung soll die Autonomie der Betroffenen respektieren, ge- recht sein, einen Nutzen bringen und nicht schaden.
Das Buch von Bettina Schmidt ist unbedingt zu empfehlen. Es ist aus- gesprochen anregend und vermittelt viele neue Perspektiven. Es verlangt allerdings, dass man sich auf das Hin- und Herwenden des Gegen- stands einlässt und gründlich liest, das heißt, es ist kein Buch für eine Nacht. Es wird seine Leser daher wohl vor allem in der Wissenschaft finden, der Politik ist so viel Eigen- verantwortung bei der Überprüfung ihrer Denkschablonen vermutlich nicht zuzumuten. Joseph Kuhn Bettina Schmidt:
Eigenverantwortung haben immer die Anderen.Huber, Bern 2007, 230 Seiten, kartoniert, 24,95 Euro
BÜCHER – NEUEINGÄNGE
Medizin/Naturwissenschaft
American Heart Association (AHA)/American Academy of Pediatrics (AAP)/John Kattwinkel (Hrsg.):Reanimation von Früh- und Neugebore- nen. Praxishandbuch für Neonatologen, Pfle- gende und Hebammen. Huber, Bern 2009, 311 Seiten, kartoniert, 39,95 Euro
Michael J. Raschke, Richard Stange (Hrsg.):
Alterstraumatologie.Prophylaxe, Therapie und Rehabilitation – mit Zugang zum Elsevier-Portal.
Urban & Fischer, München 2009, 736 Seiten, gebunden, 179 Euro
Jürgen Margraf, Silvia Schneider (Hrsg.):
Lehrbuch der Verhaltenstherapie. Band 1:
Grundlagen · Diagnostik · Verfahren · Rahmen- bedingungen, 3. Auflage. Springer Medizin Ver- lag, Heidelberg 2009, 1035 Seiten, gebunden, 69,95 Euro
Gerd Hasenfuß, Rolf Wachter: Diagnostik und Therapie der diastolischen Herzinsuffi- zienz.Thieme, Stuttgart, New York, 2008, 80 Seiten, kartoniert, 4,95 Euro
Ugo Albisinni, Milva Battaglia: Konventionelle Röntgendiagnostik des Skelettsystems.900 moderne Techniken und ihre optimale prakti- sche Durchführung. Springer, Wien, New York 2008, 495 Seiten, broschiert, 49,95 Euro
Uwe Fischer, Friedemann Baum: Diagnosti- sche Interventionen der Mamma.Thieme, Stuttgart, New York 2008, 256 Seiten, gebunden, 149,95 Euro
Silvia Schneider, Suzan Unnewehr, Jürgen Margraf (Hrsg.): Kinder-DIPS.Diagnostisches Interview bei psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter. 2. Auflage, Springer Medizin Verlag, Heidelberg 2009, 348 Seiten, CD-ROM, Spiralbindung, 39,95 Euro
Dieter Ebert (Hrsg.): Psychiatrie systema- tisch.7. Auflage. Klinische Lehrbuchreihe. UNI- MED Verlag, Bremen 2008, 440 Seiten, Hard- cover, 32,80 Euro
Sigrid Haselmann: Psychosoziale Arbeit in der Psychiatrie – systemisch oder subjekt- orientiert? Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008, 399 Seiten, kartoniert, 36,90 Euro
Ingrid Wancura-Kampik: Segment-Anatomie.
Der Schlüssel zu Akupunktur, Neuraltherapie und Manualtherapie. Urban & Fischer, München, 2009, 421 Seiten, gebunden, 79,95 Euro
Th. Kroner, A. Margulies, Ch. Taverna: Medi- kamente in der Tumortherapie.Handbuch für die Pflegepraxis. 2. Auflage. Springer Medizin Verlag, Heidelberg, 2009, 209 Seiten, karto- niert, 22,95 Euro
Dialog Ethik (Hrsg.): Praxisordner Ethik im Gesundheitswesen – die Entscheidungshilfe für die Praxis.EMH Schweizerischer Ärzteverlag, Basel 2008, 222 Seiten, Sammelordner, 56 Euro
Carl Joachim Wirth, Wolf Mutschler (Hrsg.):
Praxis der Orthopädie und Unfallchirurgie.
2. Auflage. Thieme, Stuttgart, New York 2009, 963 Seiten, gebunden, 199,95 Euro
Ursula Goldmann-Posch, Rita Rosa Martin:
Über-Lebensbuch Brustkrebs.Die Anleitung zur aktiven Patientin. 4. Auflage. Schattauer, Stuttgart, New York 2009, 384 Seiten, mit her- ausnehmbarem Therapietagebuch (80 Seiten), kartoniert, 39,95 Euro