A 724 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 110|
Heft 15|
12. April 2013 Entwicklung beinhaltet Reifung,deren Richtung vorbestimmt ist, aber auch Entfaltung von Fähigkei- ten, die durch Anlagen vorgegeben sind und von Umwelteinflüssen modifiziert werden.
Noch bis vor wenigen Jahrzehn- ten wurden in vielen Regionen Kin- der mit schweren Entwicklungsstö- rungen vor der Öffentlichkeit ver- steckt, sie galten als nicht bildbar, Ausdruck der Erbsünde oder als vom bösen Geist befallen. Erst mit dem Beginn der Aufklärung wurde zunehmend auf die mögliche För- derung von Menschen mit Entwick- lungsstörungen hingewiesen. Be- treuungskonzepte für behinderte Kinder gibt es seit dem 19. Jahr- hundert: Die Heilpädagogik wurde begründet, eine Anstalt zur Erzie- hung schwachsinniger Kinder er- richtet, eine erste Nachhilfeschule PÄDIATRIE
Leitfaden für die interdisziplinäre Betreuung
in Halle an der Saale und eine Anstalt zur Erziehung und Bildung „krüppelhaf- ter“ Kinder in München gegründet. In der Nazi-Zeit folgte eine schreckliche Epoche zur Vernichtung
„lebensunwerten“ Lebens, mindestens 70 000 Men- schen wurden so systema- tisch ermordet.
Heute will man nach Möglich- keit das Auftreten von Störungen durch Prävention verhindern – ge- lingt dies nicht, so versucht man, den betreffenden Kindern und ihren Eltern möglichst umfassend zu hel- fen. Dafür notwendig ist ein ent- sprechendes fachliches Wissen zum Erkennen der Defizite und Abwei- chungen und ebenso zur Einleitung und Fortführung geeigneter Maß- nahmen. Eine breite interdisziplinä-
re Zusammenarbeit von der Medi- zin über die Psychologie, Heilpäd - agogik, Physiotherapie, Ergothera- pie, Logopädie, Sozialarbeit und auch die Rechts- und Sozialbera- tung kann zu einer optimalen För- derung des in seiner normalen Ent- wicklung gestörten Kindes führen.
Der Praxisleitfaden richtet sich an Ärzte, Therapeuten, Pädagogen, Psychologen und Juristen und hilft beim Erkennen von Abweichungen in der normalen Entwicklung. Mög- liche Therapieformen werden eben- so wie Angebote zur Förderung und Betreuung differenziert und ver- ständlich vorgestellt. Zusätzlich findet man alle notwendigen Infor- mationen zur Rechts- und Sozialbe- ratung und hilfreiche Adressen. In der fünften Auflage wurden beson- ders die aktuellen Entwicklungen der Humangenetik, der psychologi- schen Diagnostik und der Gesetzge- bung berücksichtigt. Umfassend und kompetent. Angelika Schulte-Cloos Hans-Michael Straß-
burg, Winfried Da- cheneder, Wolfram Kress: Entwick- lungsstörungen bei Kindern. 5. Auflage, Urban & Fischer, Else- vier, München 2012, 396 Seiten, kartoniert, 53,99 Euro
kungen (ausführlich: die arterielle Hypertonie), das Leben mit Im- plantaten, Demenzerkrankungen, Essstörungen, Ekstase, Rausch und Sucht, Schmerzzuständen. In ei- nem Abschlusskapitel über „Sozio- kulturell-geistige Störungen“ wer- den philosophische Hintergründe vielfältiger psychischer und psy- chosomatischer Erscheinungen erörtert.
Erneut ist es Gerhard Danzer ge- lungen, ein Buch vorzulegen, das der klinisch aktive Arzt, der diskus- sionsfreudig ist und die Hintergrün- de und den philosophischen Kon- text längst erklärter und geklärt ge- glaubter psychosomatischer Entitä- ten kennenlernen will, mit Interesse zur Hand nehmen wird und nach der Lektüre nur mit der Sicherheit, dazugelernt zu haben, wieder aus derselben legen kann. Es gilt er- neut, was für zahlreiche andere Werke im atemberaubenden Œuvre dieses Autors gilt: ein Buch, wel- ches man sich und seinen lesenden Angehörigen durchaus gönnen soll- te, beträchtlicher Erkenntnisgewinn nicht ausgeschlossen. Eckart Frantz Gerhard Danzer:
Personale Medizin.
Huber, Bern 2013, 559 Seiten, gebun- den, 39,95 Euro Personale Medizin im Sinne von
Danzer ist „Heilkunde von Perso- nen für Personen“, also Medizin, die nicht nur die Person des Behan- delten im Auge hat, sondern die Voraussetzungen in der Person des Behandlers in gleicher Weise. Sie ist „zuallererst Schul- und in keiner- lei Hinsicht Para- oder Alternativ- medizin“, wie eine starke Abgren- zung im Einführungskapitel lautet.
Wo muss und kann man denn nun „personale Medizin“ einord- nen? Man muss bis Seite 207 des Werkes vordringen, um die Extrem- punkte des Koordinatensystems für die personale Medizin genannt zu finden: die evidenzbasierte Medizin einerseits und die „narrative Medi- zin“ andererseits. Erstere ist in aller Munde und hat es (vorschnell) bis zur Ehre gesetzgeberischer Erwäh- nung (§§ 137 f, 139 a SGB V) ge- bracht. Letztere erläutert Danzer:
die Heilkunde, in deren Zentrum die Aufgabe steht, „ein fremdes Du“, also den Patienten als kranke PERSONALE MEDIZIN
Beträchtlicher Erkenntnisgewinn
Person in ihrer Welt zu erfassen, zu verstehen, womit das Feld der Her-
meneutik eröffnet ist. Bei- des ist personale Medizin nach Danzer nicht, nicht evidenzbasierte Medizin und nicht die Kunst des Verstehens in einer narrati- ven Medizin.
Sie steht dazwischen, die personale Medizin.
Wie sie dies tut, zeigt der Philosoph und Arzt nicht nur in abstrakten philoso- phischen Abhandlungen auf, sondern erläutert er – und da findet sich der philoso- phisch eher weniger aktive, statt- dessen klinisch erfahrene ärztliche Leser dieses Buches leicht und aufgrund der klaren Gliederung des Buches in vielen Teilgebieten der klinischen Medizin gut zurecht – am praktischen, handfesten Bei- spiel, an Krankheitsentitäten. Un- ter diesen, in der Reihenfolge ihrer Erwähnung und Abhandlung, fin- det man zum Beispiel den Umgang mit manifesten Risikofaktoren, Krebserkrankungen, Herzerkran-