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Archiv "Pflegereform: Viel Platz für Interpretationen" (04.05.2007)

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A1214 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 104⏐⏐Heft 18⏐⏐4. Mai 2007

P O L I T I K

A

lles könnte so einfach sein, wenn es nur um das „Was“

ginge. Dann wäre die Pflegereform wohl innerhalb kürzester Zeit unter Dach und Fach. Denn schließlich ist niemand dagegen, dass De- menzkranke künftig besser ver- sorgt und die seit Jahren eingefro- renen Leistungen endlich an die Preissteigerungen angepasst wer- den. Dass es aber vor allem um das

„Wie“ geht, zeigt der Streit zwi- schen SPD und Union über die künftige Finanzierung der Pflege.

Mehr Leistungen für immer mehr Pflegebedürftige – das wird ohne zusätzliche Einnahmen nicht funk-

tionieren. Doch woher soll das Geld kommen?

Nach Ansicht der Union ist zur Sicherung der Finanzierung eine zu- sätzlich kapitalgedeckte Pflichtver- sicherung notwendig. Die bayeri- sche Sozialministerin Christa Ste- wens (CSU) brachte eine Kopfpau- schale von zunächst sechs Euro ins Gespräch, die jedes Jahr um einen Euro steigt. Diese soll von den Ar- beitnehmern zusätzlich zum Bei- tragssatz von 1,7 Prozent aufge- bracht werden. Damit sollen die Leistungen dynamisiert – also der Preisentwicklung angepasst wer- den. Gleichzeitig diene das Geld

zum Aufbau eines eigentumsrecht- lich geschützten Kapitalstocks für jeden Einzelnen.

Die Sozialdemokraten reagierten auf diesen Vorschlag mit heftigen Protesten (dazu „Streitpunkt Pau- schale“, DÄ, Heft 13/2007). „Eine Kopfprämie kommt für die SPD nicht infrage“, erklärte Fraktions- chef Peter Struck. Für die pflegepo- litische Sprecherin der SPD, Hilde Mattheis, bieten die Sozialdemokra- ten „mit der Bürgerversicherung ein gerechtes und solidarisches Modell an“. Und auch SPD-Sozialexperte Karl Lauterbach fordert, Gutver- dienende, Beamte und Selbstständi- ge in die gesetzliche Pflegeversi- cherung miteinzubeziehen.

Finanzausgleich mit privater Pflegeversicherung geplant Nun ist nicht damit zu rechnen, dass sich die Sozialdemokraten mit der Idee einer „Bürgerversicherung Pflege“ durchsetzen können und private und gesetzliche Pflegeversi- cherung zusammengelegt werden.

Die SPD will aber in jedem Fall die private Pflegeversicherung zur Auf- besserung der Kassenlage heranzie- hen. Denn die private Pflegeversi- cherung steht finanziell gut da – ganz im Gegensatz zu der gesetzli- chen. Nicht nur die Risikostruktur der Privatversicherten ist günstiger, sondern die private Pflegeversiche- rung verfügt über ein Finanzpolster von 16,8 Milliarden Euro. Von sol- chen Rücklagen sind die gesetzli- chen Pflegekassen, geprägt durch chronische Unterfinanzierung, weit entfernt. Die Reserven sind auf 3,5 Milliarden Euro abgeschmolzen.

Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) will deshalb Debe- ka, DKV und Co. in die Pflicht neh- men. Von bis zu 900 Millionen Euro ist die Rede, die als Finanzausgleich jährlich in die gesetzlichen Pflege- kassen fließen sollen. Damit könn- ten die Leistungen verbessert und der Kapitalstock aufgebaut werden, den die Union fordert. Einen sol- chen Solidarbeitrag unterstützt der Wirtschaftweise Bert Rürup, hält al- lerdings die Höhe für überzogen.

Bemerkenswert bei diesen ganz unterschiedlichen Vorschlägen: So- wohl die Vertreter der Union als PFLEGEREFORM

Viel Platz für Interpretationen

Die Union plädiert für eine zusätzliche Kopfpauschale, die SPD will die gesetzliche Pflegeversicherung mit einer Finanzspritze aus den Privatkassen stärken. Beide berufen sich auf den Koalitionsvertrag.

Der Grundsatz

„ambulant vor sta- tionär“ soll mit der Pflegereform weiter gestärkt werden.

Foto:dpa

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auch der SPD berufen sich auf den Koalitionsvertrag. In der höchst in- terpretationsfähigen Vereinbarung findet jeder für sich die passende Formulierung. Zum einen ist die Re- de von einer „Ergänzung des Umla- geverfahrens durch kapitalgedeckte Elemente als Demografiereserve“

– eine Passage ganz nach dem Ge- schmack der Union. Die SPD hat sich offenbar eine andere Stelle rot markiert: „Zum Ausgleich der unter- schiedlichen Risikostrukturen wird ein Finanzausgleich zwischen ge- setzlicher und privater Pflegeversi- cherung eingeführt. Der Kapital- stock wird dafür nicht angegriffen.“

Ambulante Pflege stärken Über die meisten anderen Punkte im Koalitionsvertrag besteht unterdes- sen Einigkeit. Der Grundsatz „am- bulant vor stationär“ soll gestärkt werden, denn die meisten Pflegebe- dürftigen haben den Wunsch, so lan- ge wie möglich zu Hause versorgt zu werden. Dazu soll die Höhe der Leistungen von der Pflegeart abge- koppelt werden. Das bedeutet kon- kret: Die Überlegungen gehen in die Richtung der Rürup-Kommission aus dem Jahr 2003, die Leistungen für ambulante und stationäre Pflege einander anzugleichen. Nach Vor- stellungen des Bundesgesundheits- ministeriums soll diese Annäherung stufenweise erfolgen. Besonders die stationären Sachleistungen in der Pflegestufe I werden voraussicht- lich betroffen sein. Die Betreiber von Pflegeheimen sind von diesen Plänen nicht begeistert. Der Bun- desverband privater Anbieter sozia- ler Dienste e.V. (bpa) warnt davor, dass die Pflegebedürftigen die Leid- tragenden einer solchen Änderung wären, denn schon heute deckt die Pflegeversicherung als „Teilkasko- Modell“ die Kosten eines Heimplat- zes bei Weitem nicht ab. „Pflegere-

form ja, Altersarmut nein“, fordert der bpa.

Zumindest etwas abgemildert werden könnte diese Entwicklung durch die geplante Dynamisierung der Leistungen; diese sind seit Ein- führung der Pflegeversicherung un- verändert geblieben und unterliegen wegen der Preissteigerung einem schleichenden Werteverfall. Immer mehr Pflegebedürftige müssen von der Sozialhilfe unterstützt werden.

Das soll sich nach den Plänen der Großen Koalition ändern. Weitere unstrittige Punkte im Koalitionsver- trag: Bürokratieabbau und Qua- litätssicherung in der Pflege. Alter- native Wohnformen sollen geför- dert, Schnittstellenprobleme zwi- schen Kranken- und Pflegeversiche- rung überwunden werden. Mit der Gesundheitsreform ist bereits die Einbeziehung der Pflege in die Inte- grierte Versorgung beschlossen worden. Vielfach gefordert, aller- dings nicht im Koalitionsvertrag festgeschrieben, ist die Einführung einer Pflegezeit für Angehörige, vergleichbar mit der Elternzeit. Eine solche rechtliche Verankerung der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf und eine Stärkung der häuslichen Pflege könnten Bestandteil der Pfle- gereform sein.

Ein entscheidender Punkt wird allerdings von der Reform nicht berührt: eine Überarbeitung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Der dazu eingerichtete Beirat wird erst Ende 2008 eine Empfehlung abge- ben. Eine Reform „aus einem Guss“

ist deshalb schlicht unmöglich. Auf- grund der körperlich orientierten Definition von Hilfsbedürftigkeit bleibt auch künftig die Versorgung von Demenzkranken problema- tisch. Zudem wird die starre Unter- teilung in drei Pflegestufen weiter- hin falsche Anreize setzen: Der Zu- gewinn an Fähigkeiten geht mit dem

„Risiko“ einher, einer niedrigeren Pflegestufe zugeordnet zu werden.

Heimen und auch den Pflegebedürf- tigen selbst müssen aber stärkere Anreize zur Rehabilitation gesetzt werden.

Reha vor und in der Pflege Zumindest ein erster Schritt zur För- derung der Rehabilitation von Pfle- gebedürftigen ist der Großen Koali- tion mit der Gesundheitsreform ge- lungen. Die medizinische Rehabili- tation ist nun klar als Pflichtleistung der Krankenkassen definiert. Der Grundsatz „Reha vor und in der Pflege“ wurde gestärkt. Ausdrück- lich ermöglicht wird die mobile, aufsuchende Rehabilitation als Son- derform der ambulanten Reha. Die- ses Angebot richtet sich an immobi- le, multimorbide Patienten.

Im Koalitionsvertrag hatte man ursprünglich festgelegt, ein Gesetz- entwurf für eine „gerechte und nachhaltige Finanzierung“ werde bis zum Sommer 2006 vorgelegt.

Fast ein Jahr ist seitdem vergangen.

Quelle:BMG,PKV

Systemvergleich

Versicherte Pflegebedürftige Finanzreserve

Gesetzliche 70 Mio. 1,9 Mio. 3,5 Mrd.

Pflegeversicherung

Private 9 Mio. 0,12 Mio. 16,8 Mrd.

Pflegeversicherung

Quelle:BMG,BMAS

Gesetzliche Pflegeversicherung Leistungen (Euro pro Monat)

Pflegestufe I Pflegestufe II Pflegestufe III Aktueller Stand

ambulant Pflegegeld 205 410 665

Sachleistung 384 921 1 432

stationär 1 023 1 279 1 432

Vorschlag Rürup-Kommission (2003)

ambulant Pflegegeld 205 410 665

Sachleistung 400 1 000 1 500

stationär 400 1 000 1 500

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Trotzdem hat es die Bundesregie- rung mit der Reform offenbar nicht eilig. Die Pflegeversicherung, die seit mehreren Jahren ein Defizit aufwies, schloss 2006 mit einem Überschuss von rund 500 Millionen Euro ab – bedingt durch die gute Konjunktur und die Verlegung der Fälligkeitstermine. So wird bereits spekuliert, die Reform werde auf- grund der positiven Kassenlage verschoben. SPD-Chef Kurt Beck erteilte solchen Erwägungen aber eine Absage. „Es wird in dieser Le- gislaturperiode eine Pflegereform geben.“

Auch wenn die Debatte um Fi- nanzierungsmodelle an die Gesund- heitsreform erinnert, gibt es ansons- ten nur wenige Parallelen. Union und SPD bemühen sich bei der Pfle- gereform um Ruhe. Der Öffentlich- keit soll ein monatelanges Hin und Her erspart werden. Ein Kreis von drei Ministern ist mit der Erarbei- tung von Eckpunkten für eine Pfle- gereform beauftragt worden: Ge- sundheitsministerin Schmidt, Ver- braucherschutzminister Horst See- hofer (CSU) und Familienministe- rin Ursula von der Leyen (CDU).

Über den Kompromiss, der am Ende dieser Verhandlungen stehen wird, lässt sich zurzeit nur spekulieren.

Der „Spiegel“ berichtete, die Union sei bereit, auf die Kopfprämie zu verzichten, wenn die SPD die priva- te Pflegeversicherung verschone.

Dann bliebe von der angekündig- ten Finanzierungsreform allerdings nicht viel übrig. Und am Ende stün- de lediglich eine Beitragserhöhung.

In diese Richtung äußerte sich be- reits der nordrhein-westfälische So- zialminister Karl-Josef Laumann (CDU). Entscheidend bei der Pfle- gereform sei, dass eine kapitalge- deckte Reserve angelegt werde. Zur Finanzierung hält Laumann sowohl eine Zusatzprämie als auch höhere Beiträge für denkbar. Ganz klar für eine Anhebung der Beitragssätze plädiert der SPD-Politiker Lauter- bach. Während die „Financial Times Deutschland“ über eine geplante Beitragserhöhung von 0,4 Prozent- punkten berichtete, forderte Lauter- bach eine Anhebung um 0,8 Punkte

auf 2,5 Prozent. I

Dr. med. Birgit Hibbeler

STATEMENTS DER PFLEGEPOLITISCHEN SPRECHER DER BUNDESTAGSFRAKTIONEN

Die Reform der Pflegeversicherung muss zu Verbesserungen in vier Berei- chen führen: Es muss eine Demografiereserve aufgebaut werden, die Versor- gung der Demenzkranken muss verbessert werden, es muss eine Dynamisie- rung der Leistungen erfolgen und das Defizit abgebaut werden. So steht es auch in den Koalitionsvereinbarungen. Nun gilt es, die richtigen Antworten zu finden, und zwar noch in dieser Legislaturperiode. Union und SPD dürfen sich nicht aus der Verantwortung stehlen. Es wäre fatal, wenn wir nichts für De- mente tun und keinen Kapitalstock ansparen. Willi Zylajew (CDU)

Die Grundlage der Pflegereform ist die Erarbeitung eines neuen Pflegebegriffs, der nicht nur die körperbezogene Hilfe, sondern auch den sozialen Betreu- ungsbedarf berücksichtigt. Ziel der umzusetzenden Strukturreformen sind un- ter anderem Netzwerke auf kommunaler Ebene, die Beratung und Versorgung aus einer Hand anbieten sowie die Dynamisierung der Leistungen. Bis der neue Pflegebegriff wirkt, brauchen wir besondere Leistungen für Menschen mit Demenz sowie die Neujustierung der Leistungen für ambulante und sta- tionäre Pflege. Auf der Finanzierungsseite bietet die SPD mit der Bürgerversi- cherung ein gerechtes, solidarisches Modell an. Hilde Mattheis (SPD)

Über eine Reform der gesetzlichen Pflegeversicherung muss sowohl eine ge- nerationengerechte Finanzierung der Pflegeleistungen als auch ein höherer Grad an Selbstbestimmung für die Pflegebedürftigen erreicht werden. Eine generationengerechte und zukunftsfeste Finanzierung der Pflegeleistungen ist nur über den gleitenden Übergang in eine kapitalgedeckte und prämienfi- nanzierte Pflegeversicherung realisierbar. Durch strukturelle Veränderungen in der Pflege muss Pflegebedürftigen das gewünschte Verbleiben in der häuslichen Umgebung ermöglicht werden. Heinz Lanfermann (FDP)

Die Menschenwürde und die Bedürfnisse der Pflegebedürftigen müssen im Zentrum stehen. Wir müssen eine individuelle und passgenaue Versorgung er- möglichen, das heißt: Reform des Pflegebegriffs, Stärkung alternativer Wohn- und Versorgungsformen, Verankerung von Case-Management, mehr Unter- stützungsangebote für pflegende Angehörige (zum Beispiel Pflegezeit, Ausbau von Kurzzeit- und Tagespflege), verbindliche Kooperation aller Akteure von der Kommune bis zur Selbsthilfe. Zur sozial gerechten und nachhaltigen Finanzie- rung plädieren wir für die Pflege-Bürgerversicherung und eine solidarisch finanzierte Demografiereserve. Elisabeth Scharfenberg (Bündnis 90/Die Grünen)

Der bisher somatisch geprägte Pflegebegriff muss in Richtung assistierende Hilfe/Pflege beziehungsweise helfend-pflegende Assistenz umgegrägt wer- den. Es muss sich lohnen – und sei es nur an „guten Tagen“ –, eigene Akti- vitäten zurückzugewinnen und so auch mit hohem Assistenzbedarf mehr Teil- habe am Gemeinschaftsleben zu finden. Pflegeassistenz-Leistungen müssen den anfallenden Bedarf decken. Die (finanzielle und Status-)Situation derjeni- gen – es sind ja vorwiegend Frauen –, die diese schwere Arbeit leisten, muss wesentlich besser werden, indem zumindest die Rentenanwartschaften er- heblich steigen. Investitionen sind in ambulante Strukturen zu lenken, um Großeinrichtungen langfristig überflüssig zu machen. Ilja Seifert (DIE LINKE)

Fotos:Deutscher BundestagFoto:Frank Ossenbrink

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