A 1840 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 108|
Heft 36|
9. September 2011E
igentlich war der Sinn und Zweck unseres Projektes, die in Hannover auf der Straße leben- den Menschen wieder an die Regel- versorgung heranzuführen“, erklärt Dr. med. Cornelia Goesmann, Vor- sitzende der Bezirksstelle Hanno- ver der Ärztekammer Niedersach- sen. Erreichen wollte man dies durch spendenfinanzierte Einrich- tungen, in denen Obdachlose medi- zinisch versorgt werden. Das Pro- jekt wurde von einer wissenschaft- lichen Studie zehn Jahre begleitet.Das Zentrum für Qualität und Ma- nagement im Gesundheitswesen (ZQ), eine Einrichtung der Ärzte- kammer Niedersachsen, hat die An- gaben nun ausgewertet.
Arztkontakt ohne bürokra tische Hürden
Von Beginn an waren die Angebote – in Zusammenarbeit mit dem Cari- tasverband und dem Diakonischen Werk Hannover – auf die Bedürf- nisse von Obdachlosen ausgerichtet und explizit niedrigschwellig ange- legt. Der Erstkontakt zwischen Arzt und Patient sollte ohne bürokrati- sche Hürden und unentgeltlich statt- finden. Waren es bis 2003 noch 17
Prozent der auf der Straße Leben- den, die das Versorgungsangebot nutzten, so sank diese Zahl bis 2010 auf nur noch sechs Prozent. Die Zahl der Patienten, die über einen festen Wohnsitz verfügten und die ambulanten Sprechstunden auf- suchten, erhöhte sich innerhalb der letzten Jahre jedoch merklich.
Die Vermutung der ehrenamtli- chen Mitarbeiter, dass immer mehr ärmere Menschen, die regulär ver- sichert sind und über eine Wohnung verfügen, auf die kostenfreie medi- zinische Versorgung für Obdachlo- se zurückgreifen, bestätigte sich durch eine modifizierte Datenabfra- ge im Jahr 2010. Dabei zeigte sich, dass 61 Prozent der Behandlungs- fälle Arbeitslosengeld-II-Empfän- ger und 18 Prozent Rentner waren.
Die übrigen Patienten gaben einen Migrationshintergrund an oder mach- ten keinerlei Angaben. Erste Ergeb- nisse deuteten darauf hin, dass die Zunahme der Behandlungen von Patienten aus der sogenannten Ar- mutsbevölkerung auf die gestiegenen Gesundheitskosten zurückzuführen ist. Einige der Befragten gaben an, sich die Gebühren und Zuzahlun- gen für Medikamente und Heilmit-
tel nicht leisten zu können. Fünf Prozent der Patienten kamen aus- schließlich aus Kostengründen.
Diese Tendenz bestätigt auch Dr.
med. Jenny de la Torre, die im Ge- sundheitszentrum der Jenny-de-la- Torre-Stiftung in Berlin eine Zu- nahme von ärmeren Patienten mit festem Wohnsitz beobachtet. „Es kommt tatsächlich immer öfter vor, dass Menschen, die nicht obdachlos sind, unsere Einrichtung besuchen.
Ich selbst habe zwar keine Statistik darüber, aber die Fälle nehmen si- cher zu.“ Zwar stelle die genannte Patientengruppe nicht die Mehrheit in ihrem Zentrum, so de la Torre weiter, aber das Argument, die Pra- xisgebühr könne nicht gezahlt wer- den, höre sie immer wieder.
Empfänger von Arbeitslosengeld II sind nicht gänzlich von der Pra- xisgebühr und Zuzahlungen befreit.
Nach Artikel 62 SGB V müssen alle gesetzlich Versicherten bis zu einer Belastungsgrenze von zwei Prozent der jährlichen Bruttoeinnahmen zu- zahlen. Bei einem „Hartz-IV“- Emp- fänger liegt die Belastungsgrenze seit 2011 damit bei 87,36 Euro, die er auf das Jahr gerechnet aus seinen Bezügen finanzieren muss. Ist der Betreffende chronisch krank, redu- ziert sich der Betrag um die Hälfte auf ein Prozent seiner Einnahmen.
Alleinerziehende und ältere Frauen sind gefährdet
Ein weiterer Faktor sei jedoch auch die individuelle Persönlichkeits- struktur der Betreffenden, gibt Hausärztin Goesmann zu bedenken.
Es komme vor, dass die in desola- ten Verhältnissen Lebenden das Geld für die Praxisgebühr zwar zahlen könnten, es ihnen aber nicht gelinge, Quittungen und Belege aufzubewahren, um eine ihnen eventuell zustehende Erstattung zu erwirken.
Zudem seien Verarmungstenden- zen vor allem bei älteren Frauen oh- ne ausreichende Rente, aber auch bei alleinerziehenden Müttern zu beob- achten. Goesmann wünscht sich da- her eine gänzliche Abschaffung der Praxisgebühr und der Zuzahlungen für alle Menschen, die unter eine ge- wisse Einkommensgrenze fallen.
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Johanna Protschka
GESUNDHEITSVERSORGUNG
Zu arm für den Arztbesuch
Immer mehr Menschen aus der „Armutsbevölkerung“ nutzen die Angebote zur medizinischen Versorgung, die ursprünglich für Obdachlose gedacht waren.
Obdachlose wie- der an die Regel- versorgung heran- zuführen, ist das Ziel des Projektes in Hannover.
Foto: laif