In F. Caluori, H. Linneweber-Lammerskitten & C. Streit (Hrsg.), Beiträge zum Mathematikunterricht 2015. Münster: WTM-Verlag
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Martin GULJAMOW, Berlin, Maike VOLLSTEDT, Bremen
Zur Untersuchung der Rolle affektiver Merkmale hinsichtlich mathemat. Kompetenzen in der beruflichen Erstausbildung
1. Mathematikdidaktische Forschung und berufliche Erstausbildung Mathematikdidaktische Forschung ist im Feld der beruflichen Bildung un- terrepräsentiert (Bakker 2014). Bislang wurden vor allem Fragen hinsicht- lich der prädiktiven Kraft mathematischer Kompetenzen für den Ausbil- dungserfolg bzw. den Erwerb beruflicher Fachkompetenzen untersucht.
Vorrangig querschnittlich durchgeführte Untersuchungen legen insbeson- dere für kaufmännische sowie gewerblich-technische Berufe solche Zu- sammenhänge nahe (Nickolaus et al. 2013). Allerdings wirft die teils hohe Erklärungskraft mathematischer Leistungsdaten auch für Fähigkeiten- und Wissenserwerb ohne expliziten mathematischen Bezug die Frage auf, wel- che weiteren Kompetenzfacetten und Persönlichkeitseigenschaften in die- sen Daten verborgen sein könnten. Das Forschungsprojekt ManKobE (Ma- thematisch-naturwissenschaftliche Kompetenzen in der beruflichen Erstausbildung,http://www.ipn.uni-kiel.de/de/forschung/projekte/mankobe) erlaubt durch sein quantitativ orientiertes Längsschnittdesign und seinen in- terdisziplinären Ansatz eine entsprechend differenzierte Betrachtung. An vier Erhebungswellen beteiligen sich Auszubildende (N = 2.096) aus sechs verschiedenen Berufen mit kaufmännischer bzw. gewerblich-technischer Ausrichtung und mathematisch-naturwissenschaftlichem Bezug. Einerseits werden mathematisch-naturwissenschaftliche Kompetenzen im allgemei- nen und beruflichen Kontext sowie berufsspezifische Kompetenzen fokus- siert. Andererseits wird deren Entwicklung anhand zahlreicher Einflussbe- dingungen wie Intelligenz, kognitiver Fähigkeiten und weiterer Persönlich- keitsmerkmale (u. a. Interessen, Motivation und Anstrengungsbereitschaft) untersucht. Die affektiven Merkmale liegen dabei im Fokus unserer Ar- beitsgruppe.
2. Affektive Merkmale und Mathematik – theoretischer Hintergrund
McLeod (1992) und Hannula (2011) konstatieren im Abstand von nahezu
20 Jahren die Mängel der bis dato veröffentlichten Arbeiten hinsichtlich ei-
ner konsistenten terminologischen und (meta-)theoretischen Rahmung af-
fektiver Merkmale in der Mathematikdidaktik. McLeod (1992) liefert eine
umfangreiche wissenschaftliche Bestandsaufnahme, die in einer (meta-
)theoretischen Neukonzeption des Forschungsfeldes mündete. Den Ein-
klang mit der Kognitionspsychologie herstellend betont McLeod die
Schlüsselrolle der drei Dimensionen beliefs, attitudes und emotions für den
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Bereich der Mathematikdidaktik. Diese Dimensionen würden demnach ei- nen Großteil aller affektiven Merkmale umspannen und sich durch ihr dy- namisches interdependentes Verhältnis sowie graduelle Unterschiede hin- sichtlich Stabilität, Intensität der Reaktion, Bedeutung von Kognition und zur Ausprägung benötigte Zeit auszeichnen. Einige Arbeiten haben McLeods Modell nicht nur aufgegriffen, sondern konzeptionelle Erweite- rungen etabliert (z. B. values als vierte Dimension, u. a. DeBellis & Goldin 2006). Einen vielversprechend aktualisierten Ansatz liefert Hannula (2011), der die wissenschaftliche Diskussion und Erkenntnisse der thematischen Arbeitsgruppe zu affektiven Merkmalen der ERME-Konferenzen in seinen Ausführungen einfließen lässt. Dazu gehört neben der Kritik an einigen Aspekten der Theorie McLeods (u. a. konzeptionelle Unschärfe der Dimen- sion attitudes, zu starker Individuumsfokus und zu geringe Ausdifferenzie- rung emotionaler Reaktionen) die Berücksichtigung des aktuellen status quo (pädagogisch-)psychologischer, Motivations- und Emotionsforschung – etwa hinsichtlich „embodied cognition“ und des sogenannten „social turn“ (ebd., S. 45). Daraus leitet Hannula ein dreidimensionales Modell ab, welches auf folgenden Kernideen basiert: Affektive Merkmale a) besitzen kognitive, motivationale und emotionale Aspekte und b) können, wie in der Psychologie üblich, in states (situativ-kontextgebundene Zustände) sowie traits (relativ stabile Persönlichkeitseigenschaften) unterschieden werden und c) unterliegen Einflüssen auf physiologi-
scher, psychologischer sowie sozialer Ebene (vgl. ebd., S. 46, vgl. Abb. 1). Hannulas Kon- zeption liefert für unser Forschungsvorhaben eine geeignete Grundlage, da sie einerseits ein sehr breites Feld umspannt, und sich anderer- seits für eine präzise theoretische Verortung, Beziehungsherstellung sowie Abgrenzung ge- genüber anderen Studien bewährt hat (vgl. ebd., S. 43).
3. Entwurf eines eigenen empirischen Forschungsvorhabens
Die Stärke des Projekts ManKobE liegt in seinem Längsschnittdesign und der interdisziplinären Ausrichtung. Dies erlaubt differenzierte Untersu- chungen hinsichtlich des (Aus-)Bildungsverlaufs auf intra- sowie interindi- vidueller Ebene unter Berücksichtigung zahlreicher Einflussbedingungen.
Doch welche Untersuchungen lassen sich zur Rolle affektiver Merkmale
hinsichtlich mathematischer Kompetenzen in der beruflichen Erstausbil-
dung durchführen? Insgesamt finden sich beinahe 20 Skalen, die sich mit
affektiven Aspekten beschäftigen. Sie lassen sich grob in die Kategorien
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Ausbildungsbezug (berufliche Interessen, Lernmotivation u. a.), allgemein (Big Five Inventory, Selbstkonzept intellektueller Fähigkeiten u. a.), Leis- tungssituation (Anstrengungsbarometer, Erwartung*Wert u. a.) sowie ma- thematisch (mathematisches Selbstkonzept sowie Wahrnehmung von Ma- thematik im Vergleich und Übergang Schule zu Berufsschule) einordnen.
Daran wird deutlich, dass ManKobE komplexe Beziehungsuntersuchungen ermöglicht.
Das Erkenntnisinteresse unserer Arbeitsgruppe liegt vor allem in den Orien- tierungen und dem Erfahrungswissen, welches sich im Laufe der (Schul-) Biografie der Auszubildenden entwickelt hat. Dieses implizite Wissen, welches im Alltag handlungsleitend wirkt („tacit knowledge“, Di Martino
& Zan 2011, S. 475), lässt sich am ehesten in den Bereich der beliefs, belief systems, Überzeugungen und Einstellungen bzw. mathematischen Welt- und Selbstbilder einordnen. Unseres Wissens nach besteht in diesem Be- reich in der beruflichen (Erstaus-)Bildung eine Forschungslücke. Mögliche, bisher noch unscharf formulierte Forschungsfragen könnten lauten: Wie stehen Auszubildende zur Mathematik? Welche Einstellungen, beliefs und Gefühle haben sie ihr gegenüber und wie erklärt sich deren Genese? Ange- schlossen an den quantitativen Datensatz von ManKobE bietet eine qualita- tive Follow-Up-Studie mithilfe narrativer Interviews einen Zugang zu je- nem impliziten, handlungsleitenden Wissen.
Die folgende Ideenskizze dient als erster Einblick in unser Forschungsvor-
haben: Als Stichprobe würde sich insbesondere die Berufsgruppe der In-
dustriekaufleute anbieten. Die Ausbildung weist inhaltlich einen hohen ma-
thematischen Anteil auf, ist in der Originalstichprobe in großer Anzahl ver-
treten (n = 653). Auch die berufsbezogenen mathematischen Leistungstests
wurden im Projekt ManKobE speziell auf diesen Beruf zugeschnitten. Wei-
terhin liegen zu diesem Berufsfeld bereits umfangreiche Forschungsergeb-
nisse aus der Berufs- und Wirtschaftspädagogik vor (vgl. z. B. Winther,
2010). Das Sampling könnte, wie in Mixed-Methods-Ansätzen durchaus
üblich, als Brücke zwischen quantitativem und qualitativem Forschungsteil
fungieren: Unter Berücksichtigung statistischer Zusammenhänge und theo-
retischer Vorüberlegungen (z. B. hinsichtlich der mathematischen Leis-
tungsentwicklung im Ausbildungsverlauf) könnten beispielsweise Cluster-
oder Klassenbildungen vorgenommen werden, um entsprechende Vertre-
ter_innen als Interviewpartner_innen zu gewinnen. In Anbetracht des For-
schungsinteresses sollte als Erhebungsmethode eine erzählgenerierende
Gesprächsform gewählt werden und diese inhaltlich unbedingt an (schul-
)biografische Aspekte anknüpfen. In Frage kämen demnach leitfadenge-
stützte oder offene Einzelinterviews, welche unter Zuhilfenahme von Ton-
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