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Archiv "Interview mit Prof. Dr. med. Günther Deuschl, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Neurologie: Mit großer Dynamik zu neuen Therapiekonzepten" (14.09.2007)

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Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 104⏐⏐Heft 37⏐⏐14. September 2007 A2481

M E D I Z I N R E P O R T

Welche Kontinuitäten und Diskonti- nuitäten hat es in der Entwicklung des Fachs Neurologie in Deutschland gege- ben?

Deuschl: Seit Mitte des 19. Jahr- hunderts hat es herausragende Neu- rologen in Deutschland gegeben, deren wissenschaftliche Arbeiten weit über ihre Zeit und über Deutschland hinaus gewirkt haben. Moritz Rom- berg etwa, der Autor des ersten Neurologiebuchs weltweit, gilt als Vater der modernen Neurologie.

Mit der Gründung der DGN im Jahr 1907 grenzte sich die Neurolo- gie von der Inneren Medizin und der Psychiatrie ab und wurde ein eigenständiges Fachgebiet. Am An- fang standen klinisch-neuropatho- logische Korrelationsstudien und die Entwicklung diagnostischer Methoden, wie der Elektroenzepha- lografie durch Hans Berger. Dann kamen mit der Aufklärung von Neurotransmittern die biochemi- schen Untersuchungen hinzu und schließlich die molekularbiologi- schen und genetischen Techniken, mit deren Hilfe die Ursachen neu- rologischer Krankheiten ermittelt werden konnten. Dank der intensi- ven Forschung ist die Neurologie heute ein vorwiegend therapeuti- sches Fach.

Die „Diskontinuitäten“ waren vor allem historisch bedingt. Die deut- sche Neurologie war vor dem Krieg weltweit führend. Die Zeit des Na- tionalsozialismus mit der Vertrei- bung der jüdischen Forscher, von denen es in der Neurologie mehr

gab als in anderen Fächern, bedeute- te wissenschaftlich den schwersten Aderlass. Wobei wir nicht verges- sen, dass auch deutsche Neurologen eine aktive Rolle in der Nazizeit ge- spielt haben.

Die neurologische Forschung in Deutschland hat dann schrittweise wieder Anerkennung finden können?

Deuschl: Ja. Vor allem auf den Ge- bieten Schlaganfall, Parkinson und Bewegungsstörungen, Schmerz und Kopfschmerz, Epilepsie und Neuro- immunologie hat sich Deutschland international wieder sehr gut eta-

blieren können. Das lässt sich schon aus der Zahl der Publikationen in wissenschaftlichen Spitzenzeitschrif- ten ableiten. Viele Faktoren haben dies begünstigt, auch die deutsche Forschungsförderung.

Schlaganfall ist ein Beispiel und ein Schwerpunktthema beim 80. Jahres- kongress in Berlin. Die Bundesrepublik hat 170 Stroke-Units, aber es gibt offenbar erhebliche Qualitätsunter- schiede.

Deuschl: Grundsätzlich ist die Ein- richtung von Schlaganfall-Einhei- ten der richtige Weg, aber wir

Mit großer Dynamik zu neuen Therapiekonzepten

Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) wird 100 Jahre alt. Die Entwicklung und Perspektiven des Fachs erläutert der DGN-Vorsitzende zur Jahrestagung in Berlin.

INTERVIEW

mit Prof. Dr. med. Günther Deuschl, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Neurologie

Foto:B.Huber

Professor Günther Deuschl ist Ärztlicher Direktor der Klinik für Neurologie an der Universität Kiel.

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A2482 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 104⏐⏐Heft 37⏐⏐14. September 2007

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sind noch nicht am Ziel. Die Fra- ge ist zum Beispiel: Wie müssen die Schlaganfallzentren ausgestattet sein? Ist es sinnvoll, Stroke-Units zu etablieren, wie in Baden-Württem- berg und Rheinland-Pfalz gesche- hen, die keine direkte Anbindung an die Neuroradiologie haben oder die nicht rund um die Uhr mit ei- nem Neurologen besetzt sein kön- nen, sondern allenfalls Rufbereit- schaft haben? Wir evaluieren zur-

zeit, welche strukturellen Vorausset- zungen mit welchen Behandlungs- ergebnissen korrelieren, um noch bessere Qualitätsindikatoren zu be- kommen.

Die rechtzeitige Lysetherapie senkt die schwere Morbidität und Mortalität ischämischer Infarkte. Kann jede Schlaganfall-Einheit in Deutschland eine Lysetherapie zu jeder Zeit vorneh- men?

Deuschl: Das ist grundsätzlich in allen von der Deutschen Schlagan- fallgesellschaft und der Stiftung Deutsche Schlaganfallhilfe zertifi- zierten Stroke-Units möglich. Auch hier gibt es hinsichtlich der Fre- quenz noch Verbesserungsbedarf.

Die Lysetherapie, zusammen mit der Einrichtung von Stroke-Units, hat den Krankheitsverlauf des Schlag- anfalls in Deutschland verändert.

Im optimalen Fall kann die Behand- lung im Durchschnitt bei einem von vier Schlaganfallpatienten, die ly- siert werden, schwerste Behinde- rungen oder den Tod verhindern.

Früher waren wir froh, wenn wir diesen Erfolg bei einem von 50 Pa- tienten erreichen konnten. Der entscheidende Hebel zu weiterer Verbesserung ist die frühzeitige Vorstellung der Patienten in den Stroke-Units. Wir streben mit ver- schiedenen Kampagnen an, dass mehr Patienten früher in die Stroke- Units kommen. Bislang werden nur 65 Prozent aller Patienten mit ei- nem akuten Schlaganfall auf einer Stroke-Unit behandelt.

Was kann die DGN dazu beitragen?

Deuschl: Die DGN, die Deutsche Schlaganfallgesellschaft und das Kompetenznetz Schlaganfall arbei- ten eng zusammen, um die Schlag- anfallversorgung weiter zu verbes- sern.

Generell ist es unser Ziel, dass neurologische Krankheiten politisch mehr Gehör bekommen. Wir wollen dazu beizutragen, dass die wichti- gen gesundheitspolitischen Fragen,

zu denen das Thema Schlaganfall gehört, auf die politische Agenda kommen, und wir die Fragen der Politiker mit wissenschaftlichen Me- thoden beantworten können. Hier- zu muss die Forschung, von der Grundlagen- bis zur Versorgungs- forschung, noch einmal deutlich in- tensiviert werden. Dazu gehört zum Beispiel, dass wir telemedizinische Modellprojekte, wie TEMPiS in Bayern – dabei sind 14 Kranken- häuser mit zwei Universitätsklini- ken vernetzt –, auf medizinische Er- gebnisse und wirtschaftliche Aspek- te prüfen.

Patienten mit seltenen Erkrankungen werden oft als Verlierer des Systems gesehen. Da fehlt es niedergelassenen Neurologen auch an Orientierung für die Behandlung.

Deuschl: Das ist ein Dilemma. Es gibt für solche seltenen Erkrankun- gen keine Leitlinien, weil wir zu wenig evidenzbasierte Daten ha- ben. Aber es gibt Expertenemp- fehlungen oder das Kompetenz- netz „Seltene Erkrankungen“, das für alle Anfragen von Kollegen offen ist. Übrigens: Im Rahmen der Forschung über seltene Krank- heiten hat sich herausgestellt, dass manche von ihnen große Bedeu- tung bekommen können. So sind zum Beispiel fünf Prozent der Schlaganfälle und der transienten ischämischen Attacken bei Men- schen unter 55 Jahren auf den ei- gentlich seltenen Morbus Fabry zurückzuführen.

Welche wichtige Entwicklungen erwarten Sie in der Neurologie?

Deuschl: Die Neurologie kann heu- te viele Erkrankungen behandeln, die früher rätselhaft waren. In den vergangenen Jahren hat sie sich zu- nehmend auch der Versorgung akut und schwerstkranker Menschen zu- gewandt. Neurologische Notfälle sind in manchen Kliniken fast so häufig wie internistische Notfälle. Neuro- logische Intensivstationen findet man heute in den meisten großen Klini- ken. Ich erwarte, dass in den nächs- ten Jahren die Prävention in der Neurologie eine zunehmende Be- deutung gewinnen wird. Viele neuro- logische Volkskrankheiten könnten durch gezielte Maßnahmen heute schon verhindert oder ihr Verlauf modifiziert werden. Gezielte Prä- ventionsforschung könnte uns hier rascher voranbringen.

Für niedergelassene Kollegen ist es oft schwierig, unter dem Diktat der knap- pen Kassen eine leitliniengerechte Therapie zu machen. Sehen Sie für die Fachgesellschaft Möglichkeiten, den Neurologen noch besser den Rücken zu stärken – auch, um sie vor Regressfor- derungen zu schützen?

Deuschl: Das ist und bleibt für die DGN eine wichtige Aufgabe. Wir geben in unseren Leitlinien Emp- fehlungen, die durchaus ökonomi- sche Gesichtspunkte berücksichti- gen. Allerdings ist es unsere Aufga- be, darauf zu dringen, dass den Pati- enten bessere Therapien nicht vor- enthalten werden – auch wenn diese teurer sind. Die wichtigste Hilfe, die eine Fachgesellschaft geben kann, ist, die verfügbare Evidenz für oder gegen eine Therapie wis- senschaftlich aufzuarbeiten und das Ergebnis dann auch öffentlich zu vertreten. Diesem Auftrag fühlt sich die DGN uneingeschränkt ver- pflichtet.

Wie beurteilen Sie die Zusammenarbeit zwischen der Fachgesellschaft und den Berufsverbänden?

Deuschl: Die Zusammenarbeit ist hervorragend, wir haben eine gute Arbeitsteilung. Gemeinsam sehen wir den Status der Fachärzte gefähr- det, auch den der Neurologen. Nach einem aktuellen Rürup-Gutachten

Der Status der Fachärzte ist gefährdet, auch

der der Neurologen. Das Land

muss verstehen, dass es sie braucht.

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erhält ein Neurologe heute pro Pati- ent nur die Hälfte dessen, was er 1994 erhalten hat. Diese Tendenz ist eine Gefahr für die Gesundheitsver- sorgung. Das Land muss verstehen, dass es die Fachärzte für Neurologie braucht.

Welche Patienten können von neueren Behandlungsmethoden profitieren, zum Beispiel von der Tiefenhirnstimulation?

Deuschl: Für Patienten mit Mor- bus Parkinson ist nach heutigem Wissen die Tiefenhirnstimulation eine Option, wenn sich Fluktuatio- nen der Beweglichkeit mit Medi- kamenten nicht mehr oder nicht mehr ausreichend behandeln las- sen. Auch hier hat die deutsche Forschung die internationalen Leit- linien geprägt. In einer prospekti- ven kontrollierten Studie des deut- schen Kompetenznetzes Parkinson konnte gezeigt werden, dass sich die motorischen Fähigkeiten und vor allem die Lebensqualität die- ser Patienten wesentlich deutlicher besserten als durch Medikamen- te allein. Ebenfalls von dieser deutschen Arbeitsgruppe wurde ge- zeigt, dass Patienten mit schwe- rer Dystonie durch die Stimula- tionsbehandlung entscheidend bes- ser behandelt werden können. Bei schwersten Tremorerkrankungen ist die Tiefenhirnstimulation ebenfalls etabliert. Neue Indikationen, wie Schmerzen oder Depressionen, wer- den derzeit in klinischen Studien geprüft.

Wie häufig sind schwere Komplikationen bei der Tiefenhirnstimulation?

Deuschl: Schwere, unerwünschte Wirkungen wie Blutungen treten bei 0,5 Prozent der jüngeren Patienten auf, das Risiko steigt bei älteren auf bis zu 1,5 Prozent.

Ein weiteres kontroverses Thema ist der Umgang mit transienten ischämi- schen Attacken . . .

Deuschl: Da haben die DGN und Deutsche Schlaganfallgesellschaft eine klare Botschaft: Eine transien- te ischämische Attacke, eine TIA, ist ein Schlaganfall, der akut keine Symptome hinterlässt, dessen Ursa- chen aber genauso dringend diagnos- tisch abgeklärt werden müssen wie

ein vollendeter Schlaganfall. Denn ohne Beseitigung der TIA-Ursache bekommt statistisch jeder Dritte innerhalb von sechs Monaten einen Hirninfarkt. Es ist notwendig, die Patienten sofort in die Klinik auf- zunehmen, intensiv zu überwachen und die Ursache der TIA und das weitere Risiko abzuklären, da ein vollendeter Schlaganfall in den ers- ten Tagen nach der TIA droht.

Glauben Sie, dass sich in naher Zukunft völlig neue Behandlungskonzepte eta- blieren können?

Deuschl: Wir haben in der Neurolo- gie eine Entwicklungsphase er- reicht, in der wir sehr schnell Er-

kenntnisse der Grundlagenforschung in neue Behandlungskonzepte um- setzen können. Das Verständnis der plastischen Veränderungen nach einer Hirnschädigung kann für die rehabilitativen Therapien genutzt werden. Neue pharmakologische oder immunologische Ansätze kön- nen durch eine effiziente Organisa- tion von klinischen Studiengruppen rasch evaluiert werden. Über neue Erkenntnisse in der Bildgebung las- sen sich neue Stimulationsorte für die Tiefenhirnstimulation finden.

Entscheidend ist dabei, dass die Erkenntnisse auch beim Patienten ankommen. Dafür sorgen in der Neurologie die mittlerweile fast 400 neurologischen Kliniken und die mehr als 3 000 niedergelassenen Neurofachärzte.

Aus der neurologischen Forschung heraus entwickelt sich ein zunehmend materialistisches Bild des Menschen.

Nun wird mehr kritische Selbstreflexion gefordert zu der Frage, was bildge- bende Verfahren zu dieser Diskussion beitragen können und was nicht.

Deuschl: In der Tat haben die zu- nehmenden Kenntnisse über Funk- tionen des Gehirns Zweifel an zen- tralen philosophischen Begriffen aufkommen lassen. Zum Beispiel findet man eine handlungsgebunde- ne Hirnaktivität schon eine halbe

Sekunde, bevor wir selbst wissen, dass wir den Finger heben wollen.

Dies lässt Zweifel am sogenann- ten freien Willen aufkommen. Die moderne Bildgebung ist nur eine der dabei verwendeten Methoden, die solche grundlegenden Befunde aufdeckt. Allerdings sollte man auch hier kritisch bleiben, weil je- de Aussage nur so belastbar ist wie das wissenschaftliche Untersu- chungsparadigma, das dahintersteht.

Nicht alle dieser Paradigmen lassen eindeutige Schlussfolgerungen zu.

Es bleibt aber richtig, dass das Stu- dium unseres eigenen Nervensys- tems uns zu neuen Ufern führen wird.

Die neuroethische Debatte wird oft im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Fehlentwicklungen geführt. Welche wissenschaftliche Relevanz kann die funktionelle Neuroforschung bei foren- sischen oder politischen Fragestellun- gen haben?

Deuschl: Die Neurowissenschaften verstehen sich nicht nur in der Wis- senschaftstradition der Natur-, son- dern auch der Geisteswissenschaf- ten. Sie müssen zwangsläufig inter- disziplinär arbeiten. Dennoch: Der Lügendetektor ist ein typisches Negativbeispiel für eine unkritische Verwendung physiologischer Mess- parameter. Ich halte es auch für pro- blematisch, allein auf der Basis von neuen neurobiologischen Erkennt- nissen über Lernmechanismen von Kindern das Schulsystem umzuge- stalten. Die Pädagogik hat sich völ- lig unabhängig von der Neurologie als Erfahrungswissenschaft eta- bliert. Auch sollten Einzelbefunde immer im Kontext des heute ver- fügbaren Wissens gedeutet werden, sonst kann das zu Fehlentwicklun-

gen führen. I

Die Fragen stellte Dr. rer nat. Nicola Siegmund-Schultze.

Entscheidend ist, dass die neuen Erkenntnisse der Neurologie auch beim Patienten ankommen.

Informationen zur 80. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie unter: www.dgn.org oder www.dgn2007.de

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