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Archiv "Interview - Erziehung im Wandel: „Die Eltern verweigern zu erziehen“" (15.06.2001)

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Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 24½½½½15. Juni 2001 AA1637

DÄ: Dr. Rotthaus, Sie ha- ben vor zwei Jahren ein Buch mit dem Titel „Wozu erzie- hen?“ geschrieben.* Ist Erzie- hung überflüssig?

Rotthaus: Der Titel greift einerseits die Frage vieler El- tern auf: Weshalb soll ich überhaupt (noch) erziehen?

Er spricht andererseits die

Frage an, ob Eltern heute kla- re Erziehungsziele haben und welche Ziele bedeutsam sind.

Wir beobachten in der kon- kreten Arbeit eine völlig an-

dere Situation als beispiels- weise vor noch 30 Jahren:

Während uns damals Kinder vorgestellt wurden, die durch eine autoritär einengende Erziehung in ihren Ent- wicklungsmöglichkeiten ein- geschränkt waren, begegnen wir heute Kindern, die kaum Grenzen kennen gelernt ha- ben. Aus Mangel an Orientie- rung sind sie in Entwicklungs- krisen geraten. Dem ent- spricht, dass wir zunehmend Eltern begegnen, die hoch- gradig verunsichert sind dar- über, ob sie erziehen wollen und können und wie sie es denn „richtig“ machen. Viele Eltern schwanken unschlüssig zwischen der Idee, ihren Kin-

Interview: Erziehung im Wandel

„Die Eltern verweigern zu erziehen“

Der Kinder- und Jugendpsychiater Dr. med.

Wilhelm Rotthaus, Rheinische Kliniken Vier- sen, kommt Tag für Tag mit verschiedenen For- mern erzieherischen Scheiterns in Kontakt:

Während Kinder früher durch einengende au- toritäre Erziehung in ihrer Entwicklung behin- dert wurden, lernen sie heute kaum noch Gren-

zen kennen. Verunsicherte Eltern verweigern die Erziehung oder geben sie auf; Kinder schla- gen ihre Eltern. Grund: Eine gewandelte Ge- sellschaft, in der die Differenz zwischen Er- wachsenem und Kind, die Grundlage der herkömmlichen Erziehung, weitgehend ver- schwunden ist. Zeit für eine neue Erziehung.

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A1638 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 24½½½½15. Juni 2001 dern eine glückliche, unbe-

schwerte Kindheit schaffen zu wollen, und dem Wunsch nach guten Leistungen in Schule oder Sport. Andere Eltern ap- pellieren an die Einsicht ihrer Kinder, das doch freiwillig zu tun, was klar zu fordern und durchzusetzen sie sich nicht trauen oder sich nicht in der Lage sehen. Manche Eltern wollen der beste Freund oder die beste Freundin ihres Kin- des sein, andere resignieren und geben Erziehung auf mit der Begründung,

dass ihre Kinder sowieso nicht das tun, was sie wollen.

In der Literatur schlägt sich diese Situation ebenfalls nieder: Der Pädago- gikprofessor Her- mann Giesecke rief schon um 1985 das

„Ende der Erzie- hung“ aus. Er schlug vor, Kinder als kleine Erwach- sene zu behandeln, wie das noch im Mittelalter üblich war. Neil Postman sprach 1995 eben- falls vom Ende der

Erziehung, forderte aber ihre Restauration. Ich denke, dass wir auf Erziehung nicht ver- zichten können, dass wir aber eine neue Erziehung brau- chen, die die geänderten ge- sellschaftlichen Bedingungen berücksichtigt.

DÄ:Warum sind viele El- tern so verunsichert und erzie- hen lieber nicht?

Rotthaus:Die gesellschaft- lichen Bedingungen für Erzie- hung haben sich geändert. Die Differenz zwischen dem erzo- genen „fertigen“ Erwachse- nen und dem noch nicht erzo- genen, noch nicht ausgebilde- ten Kind ist sehr viel geringer geworden. Der Schonraum, der für Kindheit charakteri- stisch war und in dem Kindern Informationen so behutsam zugängig gemacht werden

sollten, dass sie für sie ver- kraftbar waren, ist wegen der Entwicklung der Medien weit- gehend verloren gegangen.

Die typischen Merkmale von Kindheit wie Kinderspiele, Kinderkleidung gibt es kaum noch. Während also Kindheit weitgehend verschwunden ist, legen auf der anderen Seite auch die Erwachsenen auf ihr Erwachsensein nicht mehr so großen Wert. Erwachsensein dadurch zu definieren, dass der Erwachsene „ausgelernt“

hat – wie es vor 30 oder 40 Jahren galt –, wirkt heute schon grotesk.

Auch der Erwach- sene, der auf ei- nem Tretroller durch Köln fährt, wäre früher kaum denkbar gewesen.

Gleichgültig, wie man diese Ent- wicklung bewer- tet: Die Differenz zwischen Kindern und Erwachsenen, die die Grundlage für die herkömm- liche Erziehung war, hat sich deutlich verrin- gert. Dies dürfte der wesent- liche Grund für die Erzie- hungsunsicherheit und -ver- weigerung vieler Eltern sein.

DÄ: Hängt das Phäno- men, dass Kinder ihre Eltern schlagen, auch mit der Erzie- hungsverweigerung zusam- men?

Rotthaus:Wir werden im- mer häufiger von Eltern auf- gesucht, die von ihren Kin- dern geschlagen werden. Ge- walt in Familien resultiert häufig aus Überforderung und Verzweiflung. Aufgrund der Erziehungsunsicherheit ihrer Eltern werden Kinder oftmals die heimlichen Herr- scher in der Familie. Die El- tern übernehmen die Rolle von Erfüllungsgehilfen für die Wünsche ihrer Kinder und werden letztlich geradezu zu Bittstellern vor ihren Kin- dern. In solchen Fällen führen die Überforderung der Kin- der ebenso wie Resignation, Verzweiflung und Wut der El- V A R I A

*Wilhelm Rotthaus: Wozu erziehen? – Entwurf einer systemischen Erziehung.

Carl-Auer-Systeme-Verlag, Heidelberg, 1998

Dr. Wilhelm Rotthaus, Kin- der- und Jugend- psychiater: „Wir brauchen eine neue Erziehung, die die geänderten gesell- schaftlichen Bedingungen b e r ü c k s i c h t i g t . “

Foto: privat

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tern nicht selten zu Gewalt von beiden Seiten.

DÄ:Was schlagen Sie vor?

Rotthaus: Wir müssen die Erziehung auf die Grundla- ge einer neuen Kind-Erwach- senen-Beziehung stellen, die sich dadurch auszeichnet, dass wir Kinder als gleichwer- tig ansehen und sie in ihren Bedürfnissen, Wahrnehmun- gen und Gedanken ernst neh- men. Dabei darf nicht überse- hen werden, dass sie vieles noch nicht können und noch nicht wissen. Sie sind darauf angewiesen, dass die Erwach- senen sie in die Gesellschaft einführen, ihnen Anleitung und Unterstützung geben.

Zudem hat sich die Kind- heit verkürzt: Etwa mit dem Ende der Grundschulzeit wer- den Kinder heute zu Jugendli- chen. Das bedeutet, dass Kin- der in einer kürzeren Zeit da- zu erzogen werden müssen, in vielen Fragen ihres Lebens selbst Verantwortung zu über- nehmen. Man darf sie nicht länger künstlich kindlich hal- ten, wie es in den letzten zwei- einhalb Jahrhunderten getan wurde. Schließlich müssen wir lernen, das Kind nicht als Ob- jekt für die Erziehung, son- dern als Subjekt seiner eige- nen Entwicklung zu verstehen und aus diesem Verständnis heraus erzieherisch zu han- deln. DÄ-Fragen: Petra Bühring

World Wide Web

Internat mit eigenem Internet-Café

Das Gymnasium des Instituts Schloss Wittgenstein, Bad Laasphe, verfügt seit diesem Schuljahr über ein Inter- net-Café mit angeschlossener Bibliothek. Interessierte Schüler können online oder auf herkömmliche Weise in Büchern stöbern. Auch im Internat soll ein Internet- Café entstehen – die Voraussetzung hierfür ist, dass die Internatsschüler die Vorarbeiten in Eigenregie durch- führen. Sie sollen als selbst verwaltete Arbeitsgemein- schaft das Café tragen. Neben dem EDV-Unterricht wird auch im zweiten Schulhalbjahr wieder eine EDV- Schulung mit Abschlusszertifikat durch ein externes Un-

ternehmen durchgeführt. wz

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ie Möglichkeiten und Risiken, die die Biotech- nologie in sich birgt, werden stark diskutiert. Um eine eigene Meinung zu die- sem Thema zu finden, ist fun- diertes Wissen unerlässlich.

Die Schülerinnen und Schü- ler des Internatsgymnasiums Schule Marienau können beim Thema Gentechnik jetzt mitreden: Für die Klassen neun und zehn wird das Wahl- pflichtfach „Biotechnologie“

angeboten.

In dem auf zwei Jahre an- gelegten Kurs erlernen die Ju- gendlichen mikrobiologische Techniken, sie färben Zellen und legen Kulturen in Petri- schalen an. Die Herstellung von Sauerkraut und Joghurt

steht ebenfalls auf dem Plan.

Die Fortgeschrittenen extra- hieren die DNS aus Kiwis, Äpfeln und Bananen. Mit Re- striktionsenzymen zerschnei- den sie Bakteriophagen-DNS, die in einem elektrischen Feld analysiert wird. Später wird der Biotechnologie-Unter- richt mit dem Fach Informatik verknüpft, um Protokolle zu erstellen und grafisch zu ge- stalten. Fragen der Ethik sol- len nicht vernachlässigt wer- den: Für das nächste Schul- jahr ist eine Verknüpfung mit dem Fach „Werte und Nor- men“ vorgesehen.

❃Schule Marienau, 21368 Dahlem, Telefon: 0 58 51/

9 41-0, E-Mail: info@marien-

au.com BK

Biotechnologie als Wahlpflichtfach

Wissen, worum es geht

Englisch lernen

Früh übt sich

PONS Grundschulwörterbuch Englisch. Ernst Klett Verlag, 112 Seiten, gebunden, 19 DM PONS Singlish 1&2, CC- oder CD-Version (ca. 35 Minuten) und Begleitheft, je 20 DM

F

remdsprachenunterricht in der Grundschule soll ab dem Schuljahr 2004/2005 bundesweiter Standard sein.

Pilotprojekte laufen bereits im Saarland, in Sachsen und Ham- burg, wo Englisch oder Fran- zösisch ab der dritten Klasse unterrichtet wird, in Baden- Württemberg bereits ab der ersten Klasse. Das Grund- schulwörterbuch Englisch er- klärt 700 Stichwörter mit bun- ten Illustrationen. Dargestellt werden 16 Themenfelder aus dem Kinder-Alltag, zum Bei- spiel: „Family and Friends“,

„At School“ oder „My Body“.

Kinder im Vorschulalter kön- nen singend englisch lernen.

„Singlish“ besteht aus zwölf englischen Kinderliedern mit einem Textheft, das die im Lied vorkommenden Begrif- fe auch durch Bilder erklärt.

Beide Produkte eignen sich gut für das spielerische Ler- nen mit Kindern zu Hause. pb

Referenzen

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