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12. Januar 2016: "Grenzen des Fortschritts"

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Wilhelm Krull

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Grenzen des Fortschritts

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Seite

I. Welche Grenzen? Welcher Fortschritt? 4

II. Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Errungenschaften 10

III. Krisen, Risiken und Chancen 14

IV. Die Grenzen des Wachstums und der Fortschritt 19

V. Ungewissheit und neues Wissen 24

VI. Transparenz und Partizipation in der digital vernetzten Bürgergesellschaft 27

1 Vortrag am 12. Januar 2016 im Stadtmuseum Dresden.

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Wir leben in schnelllebigen Zeiten. Digitalisierungs- und Globalisierungsprozesse be- 2 stimmen immer mehr unseren Alltag. Angesichts einer rasant zunehmenden Verände- rungsdynamik wird die Gesellschaft, in der wir heute leben, bereits verschiedentlich als

„High-Speed Society“ (Hartmut Rosa) bezeichnet. Die ungeheure Beschleunigung nahe- zu aller Lebensverhältnisse, die sekundenschnelle Verbreitung von Mitteilungen rund um den Erdball und die damit eng verbundene universelle Erreichbarkeit jedes Einzelnen von uns scheinen es nahe zu legen, gleich in mehrfacher Hinsicht von „Entgrenzung“ zu spre- chen, wie dies auch der Begleittext zu dieser Veranstaltungsreihe tut. Und doch mögen wir uns fragen, inwieweit und, wenn ja, in welcher Hinsicht dies zugleich auch schon Fort- schritt bedeutet.

Außerdem mussten wir gerade in den letzten Wochen des Jahres 2015 feststellen, dass es in der scheinbar bereits weitgehend entgrenzten, globalisierten Weltgesellschaft nicht nur starke Renationalisierungs-, sondern auch regelrechte Abschottungstendenzen ge- ben kann – sie reichen von den erst kürzlich (wieder-) eingeführten Grenzkontrollen im Norden Europas bis hin zur Errichtung von Zäunen, die angeblich dem Schutz nationaler Interessen dienen sollen.

Zwar stehen heute Abend geographische oder staatliche Grenzen nicht im Zentrum mei- nes Vortrags, wohl aber mit der Grenzmetapher eng verbundene Fragen wie: Was sind Grenzen? Von welchen Grenzen ist mit Blick auf welche Art von Fortschritt die Rede?

Wie kontextabhängig ist die jeweilige Wahrnehmung von Fortschritt? Welche Randbedin- gungen müssen erfüllt sein, um aus neuen Erkenntnissen langfristig tragfähige Zukunfts- konzepte zu entwickeln, die sowohl ökonomisch und sozial als auch ökologisch nachhal- tigen Fortschritt bedeuten? Fundamental philosophisch angehaucht könnte man freilich auch fragen: Wenn es so etwas wie Fortschritt gibt, wie ist er möglich? Was sind die Ge- lingensbedingungen? Wie können wir sie beeinflussen – mit welchen Folgen?

I. Welche Grenzen? Welcher Fortschritt?

Grenzen nehmen wir nur allzu oft als das Ende von etwas wahr; nur selten gelingt es uns, Grenzbereiche als Durchgangsräume, als Beginn von etwas anderem, vielleicht sogar etwas Neuem zu begreifen. Eine Grenze zu überschreiten ist oftmals mit Ängsten und Unsicherheiten verbunden. Was kommt auf der anderen Seite der Grenze, im unvertrau- ten Territorium, auf uns zu? Wenn wir an ein Tor kommen und auf einen Wächter treffen, wie verhalten wir uns dann?

Kein Schriftsteller hat diese, mitunter durchaus existenzielle Situation prägnanter auf den Punkt gebracht als Franz Kafka in seinem kurzen Text mit der Überschrift „Vor dem Ge-

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setz“ (Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 120 f.). Die meisten von Ihnen werden die Geschich- 3 te kennen. Es geht um einen „Mann vom Lande“, der um Eintritt in das Gesetz bittet.

Doch davor steht ein Türhüter, der ihm einerseits zubilligt, eintreten zu können, ihm ande- rerseits jedoch vor Augen führt, dass dies mit weiteren Herausforderungen und noch mächtigeren Türhütern verknüpft sein dürfte. Der Mann wartet schließlich Jahr um Jahr, er ergraut, und sitzt auf seinem Schemel, bis schließlich sein Augenlicht schwach wird und er nicht mehr weiß, „ob es um ihn wirklich dunkler wird, oder ob ihn nur seine Augen täuschen.“ Als er schließlich den Tod herannahen fühlt, rafft er sich auf und bittet den Türhüter um die Antwort auf eine letzte Frage: „‚Alle streben doch nach dem Gesetz‘, sagt der Mann, ‚wieso kommt es, dass in den vielen Jahren niemand außer mir Einlass ver- langt hat?‘ Der Türhüter erkennt, dass der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: ‚Hier konnte niemand sonst Ein- lass erhalten, denn dieser Eingang war nur für Dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.‘“ (ebd. S. 121)

Kafkas Parabel (die häufig von Professoren genutzt wird, um Jurastudenten in ihr Fach einzuführen) bietet vielfältige Möglichkeiten der Interpretation. Für die Zwecke des heuti- gen Vortrags mag es genügen, auf das Spannungsfeld von Entschlusskraft und Verunsi- cherung beim Übertritt in unbekanntes Territorium zu verweisen. Auch wenn wir heutzu- tage mittels moderner Kommunikationstechnologien in der Lage wären, manche der Be- hauptungen des Türwächters rasch zu verifizieren oder auch zu falsifizieren, so bleibt am Ende doch die Frage: Hätten wir den Mut, durch das erste Tor hindurchzugehen und ge- gebenenfalls durch weitere? Oder anders gefragt: Wie offen sind wir für den nächsten, radikal neuen Schritt, wenn es gilt, Probleme zu lösen, indem wir die Ungewissheiten und Unwägbarkeiten eines noch unerschlossenen Territoriums erkunden?

Damit sind wir schon fast bei dem zweiten, für meinen Vortrag zentralen Begriff, nämlich

„Fortschritt“. Dieser fällt bei näherer Betrachtung vermutlich unter das Verdikt des öster- reichischen Schriftstellers Karl Kraus, der einmal gesagt hat: „Je näher man ein Wort an- sieht, desto ferner sieht es zurück.“ – Auf den ersten Blick scheint für uns alle klar zu sein, dass „Fortschritt“ aufs Engste mit einer mehr oder minder eindeutig gerichteten Entwicklung verbunden sein muss: Entsprechend der neuzeitlichen Geschichtsphiloso- phie umfasst „Fortschritt“ systematisch „eine zweckbestimmte Veränderung durch menschliches Handeln, insofern dessen Maßstab im Detail das Bessermachen ist. Fort- schritte unterscheiden sich daher auch von Entwicklungen im Allgemeinen durch das Kri- terium zunehmend besser realisierter Zwecke, was nicht ausschließt, dass einige Ent- wicklungen im Sinne dieses Kriteriums selbst als Fortschritte darstellbar sind.“ (Enzyklo-

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pädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Band 1. Hrsg. von Jürgen Mittelstraß. Stutt- 4 gart 2004, S. 664)

Spätestens seit der frühen Neuzeit ist der Fortschrittsbegriff aufs Engste mit einer positi- ven Zukunftserwartung verknüpft (im Gegensatz zu Kulturverfalls- und Kreislauftheorien).

„In der Fassung, die die Aufklärung dem Begriff des Fortschritts gab, liegt die Annahme zugrunde, dass eine freie Entwicklung des Intellekts und eine Steigerung insbesondere des naturwissenschaftlichen Wissens von sich aus zu einer Humanisierung der Gesell- schaft führe. Fortschritt wird insofern mit Aufklärung als einem historischen Prozess gleichgesetzt. Ziel ist die Überwindung einer veralteten Gesellschaftsordnung und die Bil- dung einer neuen Ordnung, deren Genese in einer für die Epoche der Aufklärung charak- teristischen Weise A. Marquis de Condorcet aufzuzeigen suchte (Esquisse d'un tableau historique des progrès de l'esprit humain, 1794).“ (ebd., S. 665)

Eine besondere Ausprägung von Geschichtsgewissheit erfuhr der Fortschrittsbegriff im Marxismus-Leninismus und im realen Sozialismus wie beispielsweise anhand des Klei- nen Politischen Wörterbuchs deutlich wird, demzufolge Fortschritt als „Moment und Re- sultat des vom niederen zum höheren fortschreitenden objektiven Entwicklungsprozes- ses“ (Kleines Politisches Wörterbuch. Berlin 1973, S. 230) verstanden wurde. Mit Blick auf den wissenschaftlich-technischen Fortschritt und die marxistisch-leninistische Ge- schichtsauffassung wird dieser Aspekt pointiert in dem Philosophischen Wörterbuch der DDR. Dort heißt es: „Der geschichtliche Fortschritt steht in der Macht des Menschen, in seiner Fähigkeit zu rationaler Weltbeherrschung und rationaler Gestaltung der gesell- schaftlichen Beziehungen.“ (Philosophisches Wörterbuch. Bd. 1. Hrsg. von Georg Klaus und Manfred Buhr. 8. Aufl. Berlin 1971, S. 372) Im Übrigen hebt der Artikel vor allem da- rauf ab, mit Blick auf die Neuordnung der Produktionsverhältnisse und die Entfaltung der Produktivkräfte die Überlegenheit des Sozialismus über den Kapitalismus zu beweisen.

Unter Zuhilfenahme eines Zitats von Walter Ulbricht heißt es schließlich: „Die Entwicklung der Produktivkräfte zusammen mit der Verbesserung der gesellschaftlichen Position und der geschichtlichen Bewegungs-, Organisations- und Kampfmöglichkeiten der Werktäti- gen, insbesondere der Arbeiterklasse, bilden für den Marxismus-Leninismus die ent- scheidenden Gesichtspunkte zur Beurteilung der Fortschrittlichkeit von beliebigen Er- eignissen, Prozessen oder politischen Maßnahmen. Diese Gesichtspunkte verdichten sich für die Gegenwart zu der These, ‚dass sich das Kräfteverhältnis wesentlich schneller zugunsten des Sozialismus und der antiimperialistischen Kräfte verändern kann, wenn es gelingt, die sozialistische und die wissenschaftlich-technische Revolution zu einem Pro- zess zu verbinden‘ (ULBRICHT)“ (ebd. S. 374, Hervorhebung im Original).

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Heute ist die Richtung des gesellschaftlichen Fortschritts weitaus weniger klar. Ver- 5 schiedentlich ist sogar von „Fortschrittsillusion“ (Eckart Voland) oder auch von „Fortschritt als Illusion“ (Niko Paech) die Rede. Unter psychologischen Gesichtspunkten wird die po- sitive Entwicklungsperspektive des Fortschrittsbegriffs als Konstruktion unseres Gehirns interpretiert: „Der Maßstab, an dem wir Fortschritt messen, erwächst aus unseren ganz persönlichen Präferenzen, Zielen und Wünschen im Hier und Heute eines ausdifferen- zierten, informierten, strategisch eigen-interessierten Gehirns. Es ist also selbst gemacht und bleibt damit untrennbar in der Welt des Subjektiven verhaftet. Und weil Menschen als

‚naive Realisten‘ auf die Welt kommen, hegen sie die Fortschritte und projizieren sie in die Welt um sie herum. Damit ist die Idee des Fortschritts genauso zuverlässig wahr wie jede andere naiv-realistische Interpretation des Gehirns: Die Erde ist eine Scheibe, die Sonne geht auf, die Bäume sind grün, Autos machen Lärm. Erst mit einem distanzierten Blick von außen, gleichsam von einem archimedischen Punkt aus, sind diese naiven Wel- tinterpretationen als Illusionen zu erkennen und entsprechend epistemisch korrigierbar.“

(Eckart Voland: Die Fortschrittsillusion. In: Spektrum der Wissenschaft. April 2007, S. 110 f.)

In der Tat können wir immer wieder feststellen, dass das, was unter „Fortschritt“ verstan- den wird (und als solcher wünschenswert erscheint), keineswegs als universal gültig an- gesehen werden kann. Wenn wir beispielsweise einen Blick auf die angestrebten medizi- nisch-technischen Fortschritte werfen, dann wird schlagartig klar, dass zwischen einem US-Bürger und einem Bewohner der Dritten Welt riesige Unterschiede bestehen in punk- to dessen, was Priorität auf der Wunschliste neuer Medikamente haben sollte. Sind es für den einen die dringend benötigten Medikamente gegen die vielfach vernachlässigten Tropenkrankheiten, so sind es für den anderen vor allem neue Medikamente und Techni- ken, die der Fettleibigkeit abhelfen könnten. Doch zu den Aushandlungsprozessen mit Blick auf künftig wünschenswerte Entwicklungen später mehr!

II. Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Errungenschaften

Betrachten wir die Jahrtausende umfassende Entwicklung des Menschen auf dieser Er- de, dann kommen wir nicht umhin, die geradezu explosionsartige, mindestens aber expo- nentielle wirtschaftliche Entwicklung, nicht zuletzt auch des Pro-Kopf-Einkommens der Menschen seit Beginn der frühen Neuzeit, insbesondere jedoch seit Beginn der industriel- len Revolution, zu konstatieren. Dargestellt wird diese zumeist mittels der „Hockeyschlä- gergraphik“ (vgl. Maddison, OECD, 2001, S. 264). Sie zeigt für die ersten 10.000 Jahre eine nahezu waagerechte Linie, dann einen leichten Anstieg zwischen 1600 und 1800.

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Erst danach beginnt der steile Anstieg wie beim kurzen Ende des Hockeyschlägers – eine 6 Metapher, auf die auch noch zurückzukommen sein wird.

Dank eines enormen Zuwachses an wissenschaftlichen Erkenntnissen und technologi- schen Durchbrüchen (von der Dampfmaschine über die Eisenbahn bis hin zum elektri- schen Strom) kam es auch im sozialen, gesundheitlichen und kulturellen Bereich zu einer Vielzahl von Qualitätssprüngen und Basisinnovationen, von denen hier nur einige wenige genannt werden können: Feuer-, Sozial- und Krankenversicherungen, höhere Ernäh- rungs- und Hygienestandards, die mit den neuen Printmedien verbundenen Kommunika- tionsformen und der rasant voranschreitende „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Jürgen Habermas). Erst die Summe der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwick-

lungssprünge ermöglichte es, vielen Menschen auf dieser Erde eine halbwegs gesicherte Existenz zu verschaffen. Freilich blieb dieses positive Entwicklungsmoment über weite Strecken auf die Bewohner der nördlichen Hemisphäre begrenzt (und verlief auch dort bei Weitem nicht immer linear nach oben).

Immerhin erscheint es mir bemerkenswert, dass sich „Der Spiegel“ in seiner Neujahrs- ausgabe auf die Fahnen geschrieben hat, nunmehr jede Woche einen „Trend zum Besse- ren“ (Der Spiegel Nr. 1/2.1.2016, S. 5) vorstellen zu wollen und auch die langfristig positi- ven Entwicklungslinien aufzuzeigen. Verknüpft mit einem Porträt des jungen deutschen, in Oxford tätigen Ökonomen Max Roser, der für eine weltweit sich formierende Bewegung der rationalen Optimisten stehen soll, werden gleich reihenweise erfreuliche Trends auf- gezählt: Während vor 200 Jahren rund 90 % unter der Armutsgrenze lebten, waren es 1981 noch 44 % und heute gar 10 %; betrug die Alphabetisierungsquote 1970 nur 56 %, so waren es 2010 bereits 83 %; lag 1875 die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland bei 38 Jahren, so liegt sie heute bei 81 Jahren (vgl. ebd., S. 104 f.). Laut Max Roser und „Der Spiegel“ werden diese Fortschritte in der Öffentlichkeit zu wenig wahrgenommen. Stattdessen dominierten vielfach Katastrophenmeldungen und Negativ- trends die Berichterstattung in den Medien – und damit auch in den Köpfen der Bür- ger(innen).

Das Auf und Ab von positiven Entwicklungen und Rückschlägen wird in der einschlägigen Literatur zumeist mit dem Begriff der kondratieffschen Wellen verknüpft. Sie zeigen im Ablauf von jeweils etwa 50 bis 60 Jahren das heterogene Zusammenspiel von Konjunk- turentwicklung, kriegerischen Auseinandersetzungen, neuen Technologien und den mit ihnen verbundenen Aufschwüngen sowie darauf folgenden Rezessionen, die wiederum einen neuen Zyklus begründen. Die Entwicklungen, das zeigen insbesondere die kondra- tieffschen Wellen, sind also voller Spannungen, Brüche und Widersprüche. Eine rein line- are positive Entwicklung, wie sie der Fortschrittsbegriff in der Geschichtsphilosophie des

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18. und frühen 19. Jahrhunderts unterstellte, geht also mit Blick auf wirtschaftliche, sozia- 7 le und kulturelle Entwicklungen in die Irre!

Innovationen entstehen zumeist aus der Unzufriedenheit mit dem Status quo. Sie beru- hen in erster Linie auf dem Genie und dem Erfindergeist besonders kreativer Forscherin- nen und Forscher. Mit Blick auf Produkte und Dienstleistungen können sie freilich auch durch neue Standards qua Regulation gefordert (und zumeist auch umgesetzt) werden.

Insbesondere radikale Basisinnovationen funktionieren nach dem Prinzip der „produktiven Zerstörung“ (Joseph Schumpeter), d. h. sie sorgen durch grundlegend neue Herange- hensweisen dafür, dass bislang übliche Technologien und Dienstleistungen durch neue abgelöst werden. Sie bewirken aber insbesondere bei denen, die von der bisherigen Pro- duktionsweise oder den traditionellen Geschäftsmodellen profitiert haben, ein hohes Maß an Unsicherheit und erzeugen bisweilen sogar militante Gegnerschaft. Zahlreiche Bei- spiele aus der „Maschinenstürmerei“ des 19. Jahrhunderts mögen hier als Beleg genü- gen.

III. Krisen, Risiken und Chancen

Wer sich in der heutigen Medienlandschaft umschaut, der wird – mit oder ohne „Spiegel“

– rasch feststellen, dass allenthalben von Krisen, Risiken und Gefahren, von notwendigen Sicherheitsvorkehrungen und Verhaltenskodizes etc. die Rede ist. Und in der Tat schei- nen durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt nicht nur neue Chancen, sondern zugleich auch neue Risiken am Horizont aufzutauchen. Die akuten Gefahren und Risiken, denen wir uns heute ausgesetzt sehen, etwa in der sicherheitsrelevanten Virusforschung („Gain of Function Research“) oder bei der gentechnischen Veränderung des menschli- chen Erbguts („Genome Editing“), sind zweifellos neu, nicht jedoch die zugrundeliegen- den Fragestellungen mit Blick auf die Verantwortung des einzelnen Forschers und der jeweiligen Trägerinstitutionen. Die damit verbundenen Herausforderungen reichen freilich schon Jahrhunderte zurück. Für die modernen Natur- und Technikwissenschaften erhal- ten sie jedoch eine besonders prägende Bedeutung im Gefolge des Zweiten Weltkrieges, nicht zuletzt im Angesicht der Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki vor rund 70 Jahren.

Bereits Anfang der 1950er Jahre hat der katholische Theologe und Religionsphilosoph Romano Guardini einerseits festgestellt, dass „durch die immer wirksamer werdende Technik […] die Verfügungsgewalt des Menschen über das Gegebene“ (Die Macht. Ver- such einer Wegweisung. Würzburg 1951, S. 64) weiter steige, andererseits stelle sich je- doch zunehmend die Frage, „ob nämlich der Mensch seinem eigenen Werk noch ge-

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wachsen sei“ (ebd., S. 90). Der Eindruck verdichte sich, so Guardini, „‚Werk und Wirkung‘ 8 seien über ihn hinausgegangen und hätten sich selbständig gemacht“ (ebd., S. 91).

Der nach neuen Erkenntnissen suchende Forscher ist offenbar im Atomzeitalter in eine ähnliche Situation geraten wie der Zauberlehrling in Goethes „Faust“. Die Geister, die er rief; er wird sie nicht mehr los. – Auf ganz andere Weise hat Friedrich Dürrenmatt die Problematik des Nuklearphysikers auf den Punkt gebracht. In der 1962 uraufgeführten Komödie „Die Physiker“ thematisiert er die unausweichlich erscheinende Gefährdung der Welt durch die moderne Kernphysik. Das Stück spielt in einer Nervenheilanstalt, die von der bekannten Psychiaterin Dr. h.c. Dr. med. Mathilde von Zahnd geleitet wird. Im Mittel- punkt stehen drei Kernphysiker, die jeweils aus unterschiedlichen Gründen vortäuschen, wahnsinnig zu sein. Während Johann Wilhelm Möbius vorgibt, dass König Salomon ihm aufsehenerregende Erfindungen diktiere, er aber in Wahrheit fundamentale Probleme der modernen Physik auf geniale Weise selbst gelöst hat, versuchen die beiden anderen, in- dem sie so tun, als seien sie Einstein bzw. Newton, ihm auf die Schliche zu kommen und die von Möbius gefundene „Weltformel“ für ihr jeweiliges Land zu sichern.

Möbius überzeugt schließlich seine beiden Kollegen davon, dass sie sich seiner Flucht aus der Welt dauerhaft anschließen sollten: „Wir müssen unser Wissen zurücknehmen … Entweder bleiben wir im Irrenhaus oder die Welt wird eines.“ Dieser Erkenntnis folgend, habe er, Möbius, bereits alle seine Manuskripte verbrannt.

Möbius hat aber gewissermaßen seine Rechnung ohne die Wirtin gemacht; denn Mathil- de von Zahnd hat das Spiel längst durchschaut und die Manuskripte rechtzeitig kopieren lassen. Sie hat auch bereits mit der Auswertung des „Systems aller möglichen Erfindun- gen“ begonnen und will nun ihrerseits die Weltherrschaft ergreifen. Das Stück nimmt sei- ne „schlimmstmögliche Wendung“ und die Welt fällt am Ende in die Hände einer macht- besessenen, verrückten Irrenärztin; denn, so das Fazit: „Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden.“

Friedrich Dürrenmatt hat für sich in den „21 Punkten zu den Physikern“ u. a. folgende Schlussfolgerungen aus den Dilemmata der modernen Physik gezogen: „Je planmäßiger die Menschen vorgehen, desto wirksamer vermag sie der Zufall zu treffen.“ Weiter heißt es: „Der Inhalt der Physik geht die Physiker an, die Auswirkung alle Menschen. Was alle angeht, können nur alle lösen. Jeder Versuch eines einzelnen, für sich zu lösen, was alle angeht, muss scheitern.“ Ein solcher, gesellschafts-, wenn nicht gar weltumspannender Lösungsversuch mag manchem von Ihnen allzu idealistisch erscheinen. Er weist jedoch in die richtige Richtung, nämlich das in globaler Verantwortung notwendige Zusammen- wirken von Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft bei der Erarbeitung tragfähiger

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Konzepte für die vor uns liegenden Herausforderungen. Die dabei auftretenden ethischen 9 und rechtlichen Probleme sind freilich schon längst nicht mehr allein im nationalstaatli- chen Rahmen zu lösen, was auch bereits die EU-Kommission und andere Institutionen auf den Plan gerufen hat. Doch bevor ich darauf näher eingehe, lassen Sie mich zuvor noch kurz einen Blick werfen auf ein für mein heutiges Thema geradezu paradigmati- sches Werk: Hans Jonas‘ „Das Prinzip Verantwortung“ aus dem Jahre 1979 (im Folgen- den zitiert nach stw-Ausgabe, Frankfurt am Main 1984). Jonas verdeutlicht gleich zu Be- ginn, dass die traditionelle, auf das Handeln der jeweils Einzelnen fokussierte Ethik den durch Forschung und Hochtechnologie geprägten, kollektiven Veränderungsprozessen nicht länger gewachsen ist, „daß der Rahmen früherer Ethik sie nicht mehr fassen kann.“

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Noch weitaus stärker als Romano Guardini sieht Hans Jonas eine Entwicklung am Werk, bei der „die Verheißung der modernen Technik in Drohung umgeschlagen ist“ (S. 7) und wir uns demzufolge „im Bevorstand einer universalen Katastrophe“ (S. 251), also „in einer apokalyptischen Situation“ befänden. Angesichts möglicher fataler Konsequenzen mo- derner Forschung fordert er den „Vorrang der schlechten vor der guten Prognose“ (S. 70) und eine aus der Analyse von Risiken und Gefahren abgeleitete Verantwortungsethik:

„Aus der Gefährdung geboren, dringt sie notwendig zuallererst auf eine Ethik der Erhal- tung, der Bewahrung, der Verhütung und nicht des Fortschritts und der Vervollkomm- nung.“ (S. 249) Jonas plädiert schließlich für eine „global-konstruktive Politik“ (S. 322), die freilich jedwedem „Fortschritt mit Vorsicht“ (S. 337) begegnet.

IV. Die Grenzen des Wachstums und der Fortschritt

Das vorhin erwähnte, kurze, steil ansteigende Ende des Hockeyschlägers der wirtschaft- lichen Entwicklung und die allmählich dämmernde Erkenntnis, dass es mit dem damit einhergehenden Raubbau an der Natur so nicht weitergehen könne, wurde erstmals in ih- ren systemischen Zusammenhängen in dem Bericht an den Club of Rome mit dem Titel

„Die Grenzen des Wachstums“ thematisiert. Die seinerzeit von der VolkswagenStiftung mit rund einer Million DM geförderte Studie erregte ungeheures Aufsehen, ja weltweite Resonanz. Sie wurde in rund 30 Sprachen übersetzt und erreichte eine Auflage von weit- aus mehr als 10 Millionen Exemplaren.

Angesichts des aufgrund der damaligen Computerkapazität stark vereinfachten Modells für die durchgespielten Krisenszenarien erfuhr der Bericht eine überaus kontroverse Re- zeption. Vor allem bedrohte die Kernaussage des Berichts die Grundüberzeugungen ei- ner auf Wirtschaftswachstum eingeschworenen Nachkriegsgeneration, indem er ein un-

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gebremst fortgesetztes und undifferenziertes Wirtschaftswachstum nachdrücklich infrage 10 stellte. Dabei ging es den Autoren um Dennis Meadows vor allem darum, „die gegenseiti- gen Abhängigkeiten und Einwirkungen wesentlicher, das physische Verhalten des Welt- systems bestimmender Faktoren zu ergründen. Insbesondere sollten die Zusammenhän- ge zwischen Bevölkerungswachstum, Ernährung, Umweltverschmutzung, unterschiedli- cher Entwicklung der Landwirtschaft in Industrie- und Entwicklungsländern sowie anstei- genden Wirtschaftsinvestitionen erfasst und dargestellt werden.“ (Helga Nowotny: Ver- gangene Zukunft: Ein Blick zurück auf die „Grenzen des Wachstums“. In: Impulse geben – Wissen stiften. 40 Jahre VolkswagenStiftung. Göttingen 2002, S. 659)

Die Autoren selbst, die – aus Gründen der besseren Lesbarkeit – in dem Buch weitge- hend darauf verzichteten, ihre mathematischen Grundannahmen und Gleichungen darzu- legen, fassten ihre Schlussfolgerungen in 3 Punkten wie folgt zusammen:

„1. Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisie- rung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die ab- soluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten 100 Jahre erreicht. Mit großer Wahrscheinlichkeit führt dies zu einem ziemlich ra- schen und nicht aufhaltbaren Absinken der Bevölkerungszahl und der in- dustriellen Kapazität.

2. Es erscheint möglich, die Wachstumstendenzen zu ändern und einen öko- logischen und wirtschaftlichen Gleichgewichtszustand herbeizuführen, der auch in weiterer Zukunft aufrechterhalten werden kann. Er könnte so er- reicht werden, dass die materiellen Lebensgrundlagen für jeden Menschen auf der Erde sichergestellt sind und noch immer Spielraum bleibt, individu- elle menschliche Fähigkeiten zu nutzen und persönliche Ziele zu erreichen.

3. Je eher die Menschheit sich entschließt, diesen Gleichgewichtszustand her- zustellen, und je rascher sie damit beginnt, umso größer sind die Chancen, dass sie ihn auch erreicht.“ (Dennis Meadows: Die Grenzen des Wachs- tums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Stuttgart 1972, S.

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Es überrascht von heute her gesehen nicht, dass der Bericht eine überaus kontroverse Rezeption erfuhr. Waren auf der einen Seite die gerade im Entstehen begriffenen Um- weltbewegungen überaus begeistert von den Thesen des Club of Rome, so bekämpften auf der anderen Seite vor allem die konservativen Medien und mit ihnen verbundene Wirtschaftswissenschaftler den Bericht als ökonomisch vollkommen untragbar und me- thodisch angreifbar (vgl. dazu im Einzelnen den Artikel von Helga Nowotny). Zahlreiche Buchpublikationen folgten, in denen ebenfalls das vereinfachte Weltmodell, die Einbezie- hung der menschlichen Erfindungsgabe und ihrer kontrafaktischen Auswirkungen, die Lösbarkeit der Umweltkrise etc. eingehend diskutiert wurden (vgl. z. B. Willem L. Olt- mans: „Die Grenzen des Wachstums“. Pro und Contra. Einbek bei Hamburg 1974).

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Letztlich ging es immer wieder darum, inwieweit der Regelkreis von Industrialisierung, 11 Bevölkerungswachstum, Rohstoffverbrauch und Umweltzerstörung durchbrochen werden könnte und welche „Alternativen für eine humane Gesellschaft“ (Erhard Eppler: Alternati- ven für eine humane Gesellschaft. In: Die Zukunft des Wachstums. Kritische Antworten zum „Bericht des Club of Rome. Düsseldorf 1973, S. 231 – 246) tragfähig erscheinen könnten. Bereits 1973 brachte dabei Erhard Eppler die Situation wie folgt auf den Punkt:

„Heute sind es Bürgerinitiativen, die auf ihre Weise versuchen, Investitionen zu lenken.

Jetzt geht es darum, für gesellschaftliche Entscheidungen auch gesellschaftliche Ent- scheidungsmechanismen zu schaffen, die den gesellschaftlichen Wert einer Produktion abwägen gegen die gesellschaftlichen Kosten“ (ebd. S. 245).

Auch heute findet sich ein vielfaches Echo auf „die Grenzen des Wachstums“ in der ein- schlägigen Literatur, aber nicht nur dort. Wenn wir etwa die großen Regierungsprogram- me der Bundesregierung oder auch das EU-Forschungsrahmenprogramm unter der Überschrift „Horizon 2020“ anschauen, dann finden wir dort vielfache Bemühungen um

„intelligentes Wachstum“ oder „Smart Growth“, „Green Growth“ oder gar „Nature-based Solutions“. Insgesamt geht es also darum, gesellschaftlichen Fortschritt neu zu denken und eine Ethik der Nachhaltigkeit zum Prinzip, ja zur entscheidenden Leitlinie des Han- delns zu machen. Ob dabei „Wohlstand ohne Wachstum“ (Tim Jackson) oder gar das

„Ende der Wachstumsillusionen“ (Niko Paech) tatsächlich das Leben und Wirtschaften in einer endlichen Welt prägen werden, bleibt einstweilen durchaus fraglich.

Einer der Mitautoren von Dennis Meadows, Jørgen Randers, hat in dem 2012 vorgeleg- ten Bericht an den Club of Rome, den er mit einer ganzen Reihe von Mitautoren verfasst hat, nicht nur eine düstere Zukunftsprognose vorgelegt, sondern auch eine durchaus skeptische Einschätzung der Wirkung des Berichts aus dem Jahre 1972 geliefert:

„In den Szenarien der Grenzen des Wachstums stellten Grenzüberziehung und Zusammenbruch eine Zukunftsvariante dar, von der meine Kollegen und ich tatsächlich glaubten, es werde infolge einer neuen, weisen, voraus- schauenden Politik gar nicht so weit kommen. War das Gefahrenpotenzial des endlosen Wachstums und der verzögerten Lösungen erst einmal ver- standen, wäre rasches Handeln die Folge. Eine Warnung, die auf Vernunft und auf das beste verfügbare Datenmaterial gestützt war, würde, so dach- ten wir, die Aufmerksamkeit erhöhen, die Verzögerungen abkürzen und die trüben Zukunftsaussichten aufhellen.

Es gibt leider überhaupt keine Anzeichen dafür, dass die vergangenen 40 Jahre unseren jugendlichen Optimismus bestätigt hätten. Aber wenigstens definierten die Grenzen des Wachstums das konzeptionelle Werkzeug für eine aufgeklärte Debatte – obwohl diese Debatte eigentlich gar nicht richtig stattgefunden hat.“ (Jørgen Randers: 2052. Der neue Bericht an den Club of Rome. Eine globale Prognose für die nächsten 40 Jahre. München 2012, S. 15 f.)

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V. Ungewissheit und neues Wissen 12

Seit ein paar Jahren macht auf der forschungspolitischen Brüsseler Bühne ein neues Schlagwort mitsamt unvermeidlichem Akronym die Runde: Responsible Research and Innovation (RRI). Im Kontext des laufenden Rahmenprogramms „Horizon 2020“ geht es dabei um einen bunten Strauß höchst unterschiedlicher Ziele, Bedarfe, Werte und Ambi- tionen. Im Zentrum steht die Verankerung des Themas „Verantwortungsvoller Umgang mit Forschung und Innovation“ als integraler Bestandteil der europäischen Forschungs- und Innovationspolitik sowie ihrer Verknüpfung mit konkreten Fördermaßnahmen.

Angesprochen sind damit alle Akteure der Forschungs- und Wertschöpfungskette ein- schließlich der Politik und der Zivilgesellschaft. Sie sollen weitaus stärker als bisher in die Entscheidungen über Ziele, Form und Richtung der europäischen Forschungs- und Inno- vationsförderung einbezogen werden. Letztlich geht es darum, durch neue Dialog- und Partizipationsmöglichkeiten die Öffentlichkeit frühzeitig in die anstehenden Entschei- dungsprozesse einzubeziehen und auf diese Weise zugleich die gemeinsame Verantwor- tung aller Interessengruppen für den Forschungs- und Innovationsprozess zu erhöhen.

Soweit zu den guten Absichten, gegen die – jedenfalls auf den ersten Blick – wohl auch hier im Raum niemand etwas haben kann; zumal wir doch alle von einer frühzeitigen Konsensbildung über das zu Erforschende und das möglichst rasch in innovative Produk- te und Dienstleistungen zu Überführende profitieren würden. Ein gesellschaftspolitischer Aushandlungs- und Steuerungsprozess, so scheint es, könnte zugleich einen Ausweg bieten aus den in früheren Jahren häufig erst in der Implementationsphase aufgetretenen Akzeptanzproblemen, etwa der Kernenergie oder der grünen Gentechnik. Und vorbeu- gendes Nachdenken hat schließlich noch niemandem geschadet!

Eine solche Sicht der Dinge (so sympathisch sie uns auch sein mag) verkennt jedoch die komplexen Zusammenhänge, die sich sowohl räumlich und zeitlich als auch institutionell im Zwischenfeld zwischen dem Generieren neuen Wissens und dem Hervorbringen ge- sellschaftlich und wirtschaftlich tragfähiger Innovationen ergeben. Wir brauchen letztlich beides – mehr Wissen und mehr Können – in unserer sich dynamisch verändernden, durch zunehmende Digitalisierung und Globalisierung charakterisierten Welt. Wir werden aber damit leben müssen, dass nur in den seltensten Fällen beides gleichzeitig geschieht.

Wie uns zahlreiche Beispiele aus der jüngeren Geschichte verdeutlichen, vergehen zwi- schen den ersten, bahnbrechend-neuen Erkenntnissen und ihrer konkreten Anwendung oftmals – wie etwa beim Laser oder in der Medikamentenentwicklung – mehrere Jahr- zehnte. Auch wird derzeit vielfach übersehen, dass erkenntnisorientierte Grundlagenfor- schung einen offenen Zeithorizont benötigt und eine wesentliche Dimension der Selbst-

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verwirklichung einer humanen Gesellschaft darstellt. Sie schafft erst – als öffentliches 13 Gut! – das Voraussetzungswissen, das in höchst unterschiedlichen Zusammenhängen re- levant werden kann, und stärkt ein erkenntnisoffenes Klima, das wir in unserer Gesell- schaft so dringend brauchen. Der verstorbene, ehemalige Präsident der Max-Planck- Gesellschaft, Hans F. Zacher, hat dafür bereits vor gut zwanzig Jahren folgendes Bild geprägt: „Die Grundlagenforschung ist der tiefste Brunnen des Forschungssystems, und wer Wasser braucht, sollte sich nicht auf die Niederschläge verlassen. Er könnte zum Op- fer einer Dürre werden.“ (Max-Planck-Gesellschaft: Wissen für das 21. Jahrhundert. S.7.) Den Eigenwert der Grundlagenforschung zu betonen, bedeutet freilich nicht, sich den Er- wartungen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu verschließen, mit neuen Erkennt- nissen zur Problemlösung in besonders innovativer Weise beizutragen. Im Gegenteil: Wir werden auch künftig auf beides angewiesen sein: mehr Wissen und mehr Können. Ohne dabei jedoch die Polarität zwischen erkenntnisorientierter Grundlagenforschung, die pri- mär nach fundamental neuem, transformativem Wissen sucht, und der anwendungsorien- tierten Forschung, die primär nach einer Problemlösung, dem neuen Können, fragt, aus dem Blick zu verlieren. Der gemeinsame Erfolg wird sich nur einstellen, wenn angemes- sen differenzierte Strukturen der Forschung und ihrer Förderung ein wirkungsvolles, ar- beitsteiliges Miteinander der einschlägigen Akteure gewährleisten. Schließlich gilt es da- bei anzuerkennen, dass wir nicht wissen können, was wir künftig wissen werden; denn sonst wüssten wir es ja bereits heute!

VI. Transparenz und Partizipation in der digital vernetzten Bürgergesellschaft Innovations- und Risikobereitschaft, gepaart mit dem Mut, unbekanntes Terrain zu erkun- den, der Fähigkeit zum genauen Hinsehen, intensiven Wahrnehmen und detaillierten Analysieren des jeweiligen Gegenstandes, dem Vertrauen in die eigenen Kräfte und Kompetenzen sowie großer Hartnäckigkeit im Verfolgen der einmal gesetzten Erkenntnis- und Entwurfsziele bilden die wichtigsten Erfolgsvoraussetzungen für das Erreichen von wissenschaftlichen und gestalterischen Durchbrüchen. Forschergeist, ja schier unermüd- licher Hunger nach neuem Wissen, Imaginationskraft und eine klare Zukunftsorientierung in Richtung Neuland gehören zu den wichtigsten Eigenschaften kreativer Forscherper- sönlichkeiten. Wie aber steht es um die institutionell-organisatorischen Rahmenbedin- gungen der Entfaltung einer Kultur der Kreativität? Gibt es sie überhaupt? Oder sind nicht fast alle bahnbrechend-neuen Erkenntnisse letztlich doch zufallsbestimmt zustande ge- kommen?

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Zumindest im Rückblick erscheint insbesondere das Gewinnen radikal neuer Einsichten 14 weitgehend kontingent. Dass dem jedoch nicht so ist, zeigen verschiedene Studien, in denen der Frage nachgegangen wird, warum unter bestimmten Umfeldbedingungen weitaus mehr bahnbrechende Erkenntnisse gewonnen werden als in anderen institutio- nellen Kontexten.

Der Nobelpreisträger Eric Kandel z. B. hat sich in seinem 2012 auf Deutsch erschienenen Buch „Das Zeitalter der Erkenntnis – Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute“ mit der Frage befasst, was das Wien der Jahrhundertwende zu einem „Kreißsaal moderner wissenschaftlicher Ideen“, zu einer

„Brutstätte künstlerischer Kreativität“ machte. Für Kandel ist es vor allem die intellektuelle Symbiose von herausragenden Künstlern, Wissenschaftlern und Musikern, die die dama- lige „Kulturhauptstadt Europas“ so erfolgreich machte.

Der amerikanische Wissenschaftsforscher Joseph Rogers Hollingsworth hat untersucht, warum an mittelgroßen Forschungsuniversitäten sehr viel mehr biomedizinische Durch- brüche erzielt werden als an zahlenmäßig und finanziell deutlich gewichtigeren Einrich- tungen. Er kommt zu dem Schluss, dass neben einer klaren strategischen Forschungs- orientierung und einem insgesamt forschungsfreundlichen Klima vor allem die Balance zwischen einem hinreichenden Maß an disziplinärer Vielfalt und einem möglichst intensi- ven Grad an kommunikativer Interaktion gewahrt sein muss. Ist die Einrichtung zu klein und fachlich zu homogen besetzt, fehlt es an fremddisziplinärem Anregungspotenzial.

Wird die Hochschule zu groß und zu heterogen, ergibt sich kaum noch die Gelegenheit zum persönlichen Austausch. Fachliche Enge schlägt in Monotonie um; allzu große Breite transformiert ein erwünschtes Maß an Diversität in unproduktive Heterogenität. In beiden Extremfällen erlahmt schließlich die intellektuelle Kreativität und damit auch das Hervor- bringen von grundlegend neuem Wissen.

Wie damit schlaglichtartig deutlich wird, bedarf das Hervorbringen neuer Ideen eines von gegenseitigem Vertrauen getragenen, kommunikativ verdichteten Nährbodens, um sich wirkungsvoll entfalten zu können. Ein solches Umfeld zu schaffen, ist freilich alles andere als trivial. Gerade in Zeiten knapper Ressourcen und erhöhter Rechenschaftspflicht ste- hen nur allzu oft Erfordernisse der ordnungsgemäßen, von administrativ-

organisatorischen Regelungen umstellten Hochschul- und Forschungswelt einer auf das Durchbrechen herkömmlicher Sichtweisen und Regeln zielenden Kreativität diametral entgegen, zumal sich wissenschaftliches Neuland nur selten auf direktem Wege und im vorgesehenen Zeitrahmen erschließt. Angesichts eines immer hektischer agierenden Wissenschaftsbetriebs ist es umso wichtiger, Rückzugsmöglichkeiten zu schaffen, für Entschleunigungsphasen zu sorgen und einen intensiven Austausch unter den kreativs-

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ten Köpfen zu befördern, damit diese ihre wissenschaftliche Neugier und ihre Vorstel- 15 lungskraft voll entfalten können.

Die notwendigen Freiheitsgrade und Freiräume für eine nachhaltig wirksame Kultur der Kreativität können freilich nur sichergestellt werden, wenn alle Beteiligten – Forscherin- nen und Forscher, Leitungspersonen und Administratoren, Forschungsförderer und Politi- ker(innen) ebenso wie Vertreter(innen) der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft – von vornherein bereit sind, die Chancen und Risiken gleichermaßen mitzutragen, also in ei- nem Klima gegenseitigen Vertrauens zusammenzuwirken und jeweils (Mit-

)Verantwortung zu übernehmen.

Gerade das Grundvertrauen der Öffentlichkeit in die auf Wahrheitsfindung kodierte Suche nach neuen Erkenntnissen qua Forschung ist jedoch in den letzten Jahren gleich mehr- fach schwer erschüttert worden. Damit meine ich nicht nur die in Deutschland verstärkt aufgedeckten Plagiatsfälle (vor allem in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften) als vielmehr die Tatsache, dass weltweit immer mehr wissenschaftliche Veröffentlichun- gen (vor allem in den Lebenswissenschaften) sich als nicht haltbar erwiesen haben und zurückgezogen werden mussten. „How Science Goes Wrong“ titelte beispielsweise „The Economist“ am 19. Oktober 2013. Seine Autoren wiesen u. a. darauf hin, dass die Wis- senschaft insgesamt zu wenig Ressourcen in die Replikation von Daten und Studien in- vestiere. Die heutzutage gängige Publikationspraxis – in den sogenannten „Topjournals“

würden zumeist nur spektakuläre Ergebnisse veröffentlicht –, den hohen Konkurrenz- druck auf dem akademischen Stellenmarkt und nicht selten auch die mangelnde Statistik- und Methodenkompetenz sahen sie als wesentliche Gründe für die Unzuverlässigkeit der Ergebnisse an. Fachmagazine, Wissenschaftsförderer und ihre Gutachter(innen) erschei- nen demnach als Teil des Systems und damit auch des Problems. Sie alle gelte es nun in die Pflicht zu nehmen, den genannten Fehlentwicklungen auf angemessene Weise zu begegnen. Der „Economist“ selbst brachte es wie folgt auf den Punkt: „Scientific research has changed the world. Now it needs to change itself.“ (ebd.)

Doch wie kann ein solcher Veränderungsprozess aussehen? Sollten wir über die bereits bestehenden Grundsätze und Prinzipien guter wissenschaftlicher Praxis, über die ver- schiedenen Governance- und Verhaltenskodizes sowie eine breit gefächerte Palette von Ombudsgremien hinaus strengere Kontrollen, womöglich gar staatlich verordnete Quali- tätssicherungsmechanismen, einführen? Wie vertrüge sich so etwas mit der zuvor her- ausgearbeiteten Notwendigkeit, uns auf den Weg zu machen und eine von gegenseiti- gem Vertrauen geprägte Kultur der Kreativität zu etablieren?

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Nun, die Antwort kann nur lauten: ganz und gar nicht. Denn wer das autonome Teilsys- 16 tem Wissenschaft mit rigiden Überprüfungsmaßnahmen gewissermaßen an die Kandare nehmen wollte, der verkennt, dass die für eine adäquate Beurteilung der jeweiligen Sach- lage unverzichtbare Fachkompetenz nur innerhalb des entsprechenden Expertenkreises gegeben ist. Dies schließt jedoch nicht aus, dass die Gesellschaft von eben jenen Exper- ten genaueres Hinsehen und größere Sorgfalt beim Abfassen ihrer Urteile verlangen kann. Am Ende bleibt uns Laien in diesem innerwissenschaftlichen Diskursfeld nur die Hoffnung, dass die Selbstheilungskräfte der Wissenschaft – mit ihrer nach wie vor prä- genden Wahrheitskodierung – stärker sein werden als jede Art von Manipulation. Auch wenn Fälschungen verschiedentlich den einen oder anderen Karriereschritt begünstigt haben, können wir doch immer wieder feststellen, dass die Wahrheit irgendwann ans Licht kommt und der Täter umso tiefer fällt, je höher er bereits gestiegen ist.

Was für den innerwissenschaftlichen Diskurs über die Validität einzelner Forschungser- gebnisse gilt, das gilt freilich nicht für die eingangs aufgeworfene Frage nach den Rah- menbedingungen und Prioritätensetzungen sowie nach den Chancen und Risiken von Erkenntnissuche in bestimmten Forschungsfeldern. Hier hat die Gesellschaft als Ganzes das Recht und die Pflicht, frühzeitig gemeinsam Verantwortung zu übernehmen. Der Wis- senschaft fällt dabei die Aufgabe zu, durch transparentes Kommunikationsverhalten, evi- denzbasierte Beratung und das Eröffnen von Partizipationsmöglichkeiten eine solide Ver- trauensbasis für die entsprechenden Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse zu schaffen. Nur so kann es gelingen, ein für grundlegende Innovationen offenes Klima zu schaffen, in dem auch radikal neue Erkenntnisse positive Aufnahme finden und zugleich über die Grenzen ihrer Umsetzung in Produkte und Dienstleistungen offen verhandelt werden kann.

Um noch einmal auf Hans Jonas und „Das Prinzip Verantwortung“ zurück zu kommen:

Die Kluft zwischen der visionären „Kraft des Vorherwissens“ und der durch forscherische Neugier erzeugten „Macht des Tuns“ (S. 28) mag sich auch in den letzten Jahren noch einmal vergrößert haben; mit einer „Heuristik der Furcht“ (S. 63) oder gar, indem wir „der schlechten vor der guten Prognose“ (S. 70) den Vorrang einräumen, werden wir nicht zu- kunftsfähig sein. Es gilt vielmehr, auf vielfältige Weise dafür zu sorgen, dass neues Wis- sen und Können sowie das sorgfältige Abwägen von „Dürfen und Nichtdürfen“ (S. 249) immer wieder in eine Balance gebracht werden mit dem „positiven Sollen“ (ebd.); denn sonst laufen wir in der Tat Gefahr, den nachfolgenden Generationen einen Scherbenhau- fen unbewältigter Probleme, zertrümmerter Hoffnungen und uneingelöster Versprechen zu hinterlassen.

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Was bedeutet das nun, so wird sich vielleicht manche(r) von Ihnen fragen, für die Zukunft 17 der Wissenschaft und ihrer Förderung? Welche Verantwortung muss sie nicht zuletzt für die Zukunftsfähigkeit der Welt von morgen übernehmen? Wie kann sie dazu beitragen, die Erfolgsvoraussetzungen für eine nachhaltig wirksame Kultur der Kreativität zu schaf- fen und zu sichern?

Nun, klar sein muss zunächst einmal, dass am Streben nach neuem Wissen auch künftig kein Weg vorbeiführt. Die im Grundgesetz und vielen anderen Verfassungen garantierte Wissenschaftsfreiheit ist ein hohes Gut, auf das eine demokratisch verfasste Gesellschaft nicht verzichten kann. Anders als in Friedrich Dürrenmatts Komödie angedroht, ist die Welt nicht zum Irrenhaus geworden, jedenfalls nicht durch neues, aus kreativer For- schung resultierendes Wissen. Daher kommt ein Verzicht auf neues Denken auch künftig nicht in Betracht, wohl aber auf die Anwendung der daraus resultierenden Handlungs- möglichkeiten. Das impliziert freilich zugleich, dass es immer wieder transparent und par- tizipatorisch auszuhandeln gilt, mit welchen Zielen und wieviel Mitteln auf welchen Fel- dern besonders intensiv nach Lösungen für die uns bedrängenden Probleme gesucht werden soll. Die Aufgabe der Universität bleibt es, zentrales Voraussetzungswissen dafür zu erarbeiten und vor allem den Nachwuchs entsprechend zu qualifizieren.

Um die Wissenschaft in ihrer Funktion als Herzkammer der Wissensgesellschaft dabei zu unterstützen, diese Rahmenbedingungen zu schaffen, sind auch die Geldgeber in der Pflicht. Für private Stiftungen etwa gilt: Durch die Wahl ihrer Förderangebote und - instrumente können sie die Wissenschaft dabei unterstützen, ihre Schwerpunkte und Strukturen zu erneuern, und es Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ermöglichen, mehr Raum für ihre Forschung und dadurch zugleich neue Inspiration für ihre Lehre zu gewinnen.

Kurzgefasst: Um Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern den nötigen Freiraum für das Generieren kreativer Ideen zu verschaffen, müssen Universitäten, Wissenschaftsor- ganisationen und Geldgeber an einem Strang ziehen und ein hohes Maß an Offenheit für außergewöhnliche und unvorhergesehene Entwicklungen mitbringen. Noch heute gilt da- bei für jeden Wissenschafts- und Forschungspolitiker, was der scharfsinnige Aphoristiker Georg Christoph Lichtenberg einst konstatierte: „Ich kann freilich nicht sagen, ob es bes- ser wird, wenn es anders wird. Aber soviel kann ich sagen, es muss anders werden, wenn es gut werden soll.“ (Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher, Heft K, 293) Und so sollten Universitäten, Wissenschaftsorganisationen und Geldgeber in gemeinsa- mer Verantwortung zugleich Risikobereitschaft und Verlässlichkeit zeigen, etablierte Strukturen überdenken und eng zusammenarbeiten bei der Entwicklung von Förderin-

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strumenten, die die Kreativität der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht be- 18 schneiden, sondern beflügeln. Auf diese Weise kann es immer wieder gelingen, Außer- gewöhnliches zu ermöglichen und damit zugleich die Grenzen des Fortschritts ein Stück weit zu verschieben.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit!

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