/ Ein Beitrag zum indischen Giftmädclienmotiv
Von Josef Fbiedbich Kohl, Würzburg
In der Literatur Altindiens taucht an eimgen wenigen Stellen eine sehr
merkwürdige Vorstellung auf, die zwar jeder medizinisch-naturwissen¬
schaftlichen Erfahrung widerspricht, deren Durchführbarkeit man jedoch
offenbar nicht bezweifelt hat. Es handelt sich um den Glauben, man
könne einen Menschen — aus praktischen Gründen dachte man immer
an ein Mädchen — von frühester Jugend auf durch Verabreichung von
gewissen Giftmengen so mit dieser Droge aufladen, daß diese den Körper
völlig durchdringe. Schließlich erscheine sie auch im Hautgewebe, im
Speichel, im Atem, in der Ausdünstung und sogar im Blick. Auf diese
Weise wird ein solches Giftmädchen (visakanyä) zu einer großen Grefahr
für ihre Umgebung und zu einem wichtigen Faktor im Ränkespiel der
Fürstenhöfe. Wohl mögen Versuche gemacht worden sein, die Idee in
die Tat umzusetzen, wenn wir auch darüber keine Berichte besitzen.
Wilhelm HebtzI hat seinerzeit umfassendes Material über das Gift-
mädchenmotiv zusammengetragen. Dabei trat sein indischer Ursprung
deutlich zutage, ebenso wie seine Ausstrahlungen über arabische Geo¬
graphen und Chronisten bis in die mittelalterliche und neuzeitliche
Romanliteratur des Abendlandes. Es zeigte sich aber auch, daß über
die Methode der fragwürdigen Giftmädchenzüchtung der Inder eben
nur die Araber sachliche Mitteilungen geben, nicht die Inder selbst. Was
der arabische Kosmograph Qazwini (gest. 1283) darüber berichtet, findet
sich bei J. Gildembistee" in lateinischer Übersetzung. Jener Araber
erzählt vom gefährlichen indischen Giftkraut al-biä^ und sagt weiter:
Reges Indi narrantur, si alicuius vitae insidientur, puellas modo natas
sumere, eamque herbam per aliquid tempus primum sub earum lecticas,
deinde sub strata earum, tum sub vestes sternere. Denique iis edendum
dant in lacte, usque dum puella, si adolevit, napeUum edere, neque inde
1 Wilhelm Hebtz : Die Sage vom Giftmädchen, Abh. 1. Kl. d. Kgl. Ak. d.W., Bd. 20, Abtlg. I, München 1893—97.
2 Joannes Gildemeisteb : Scriptorum Arabum de Rebus Indicis loci et
opuscula inedita. Ad codicum Parisinoram Leidanorum Gothanorum fidem
recensuit et illustravit Joannes Gildemeister, Fasc. 1, Bonnae 1838, S. 219.
3 Vom Sanskritwort visa (Gift), im besonderen Bezeichnung der indischen
Arten des Eisenhuts (Aconitum) aus der Familie der Hahnenfußgewäohse
(Banunculazeen ).
Ein Beitrag zum indischen Giftmädchenmotiv 325
damnum facere coepit. Eam tunc cum donis mittunt ad regem, cui
insidias tendunt ; etenim si cum ea rem habet moritur*.
Daraus kann man also entnehmen, daß die „Ausbildung" eines Gift¬
mädchens auf lange Sicht hin unternommen wurde. Auch begann die
Gewöhnung, nach dieser Vorstellung, zuerst damit, daß man das Mäd¬
chen dem magischen Machtbereich des Giftkrautes aussetzte, dieses dann
immer mehr an den kindhchen Körper heranführte und es schließlich
mit Milch vermischt innerhch verabreichte, bis es einfach gegessen wer¬
den konnte. Dieses Giftkraut al-biS wird in der lateinischen Übersetzung
durch napellus wiedergegeben. Dieses Wort, das „Rübchen" bedeutet,
ist eine häufige lateinische Bezeichnung für die Giftdroge, welche die
Inder einfach mit visa (Gift) benennen, nämlich für die Wurzeln des
Blauen Eisenhutes (Aconitum napellus L.), die die Form einer kleinen
Rübe haben.
Besonders hervorzuheben ist, daß auch der große indische Arzt Suäruta
das Giftmädchen kurz erwähnt. Er sagt (V. 1,6):
Visakanyopayogäd vä ksanäj jahyäd asün naraif. I
tasmäd vaidyena satatarn. visäd raksyo narädhipäh H&H^,
das heißt : durch Verwendung eines Giftmädchens kann ein Mann sofort
sein Leben verlieren, daher muß der Fürst durch den Arzt vor Gift
behütet werden. Der Mediziner Susruta verzichtet also auf eine wissen¬
schaftliche Erörterung und gedenkt des Giftmädchens in aller Kürze
imd im Zusammenhang mit den Pfhchten des Hofarztes. Man erfährt
hier ebenso wenig etwas Aufschlußgebendes wie an allen anderen Stellen
der altindischen Literatur, die vom Giftmädchen sprechen.
In Somadeva's Geschichtensammlung Kathäsaritsägara (19,82) und in
Visäkhadatta's Schauspiel Mudräräksasa (42,16) senden kluge Minister
Giftmädchen ins feindliche Heer bzw. zu gegnerischen Fürsten, ohne daß
* Der Vollständigkeit halber sei die deutsche Ubersetzung beigefügt : Die indischen Fürsten, die einem nacb dem Leben trachten, lassen neugeborenen Mädchen zuerst dieses Kraut eine Zeitlang unter das Bett legen, später unter
die Kissen und schließlich unter die Kleider. Dann lassen sie es ihnen in
Milch reichen, bis das herangewachsene Mädchen das Eisenhutlcraut essen
kann. Hierauf schicken sie es mit Gesehenken zu einem König, den sie
beseitigen wollen, denn beim Beischlaf mit ihr stirbt er.
° Diese Stelle hat Hbbtz in der von ihm benützten lateinischen Über¬
setzung der Susrutasamhitä (Susrutas, Ayurvedas, id est Medioinae Systema,
nunc primum ex Sanscrita in Latimun vertit Franc. Hessleb, Erlangae 1844)
nieht vorgefunden (Hbbtz, a; O. S. 144). — Jedoch findet sich obiger Vers
in den beiden wichtigsten Ausgaben : The Susrutasarnhitä of Susruta with the
Nibandhasarngraha. Commentary of Dalhanächärya . . . Rev. Ed. ed. by
Jädavji Trikraniji and Näräyan Räm. Bombay 1938, S. 559, und: The
Susruta, or System of medicine, taught by Dhanvantari and composed by his
disciple Susruta. Ed. by. . Madhusüdana Gupta. Calcutta 1886, Bd. 2, S. 243.
326 Josef Feiedeich Kohl
etwas von den Eigenschaften dieser Mädchen berichtet wird. Nur
Vidyäpati erwähnt in seiner Erzählungsammlung Purusaparlksa
(„Mäimerprüfung"), daß sogar Fliegen sterben, die ein Giftmädchen be¬
rührt haben*. Um so beachtenswerter ist ein Vers im Kommentar der
Susrutasamhitä zu oben verzeichneter Textstelle, der lautet :
hanti sprsanti svedena gamyamänä ca maithuncj
pakvam vrntäd iva phalam prasätayati mehanamH
,,Bei Berührung tötet sie (das Giftmädchen) durch ihren Schweiß und
bei der Begattung bricht sie das männliche Geschlechtsglied ab wie eine
reife Frucht vom Stiel."
Dieser Vers, dessen Herkunft vom Kommentator nicht angegeben
wird, beweist, daß trotz der Kargheit der „klassischen" Stellen über das
Giftmädchen noch andere Quellen vorhanden gewesen sein müssen, die
wesentlich mehr über das Wesen dieser Geschöpfe zu sagen wußten. Aus
ihnen stammen wohl auch jene Legenden, die den Arabern als Grund¬
lage ihrer Berichte dienten.
In diesem Zusammenhang möchte ich ekier Stelle in einer Sans¬
krithandschrift astrologischen Inhalts gedenken, worin auch eine längere
Bemerkung über das Giftmädchen gemacht wird. Es handelt sich um
Ms. or. Chambers 324 der Preuß. Staatsbibliothek in Berlin, die sich
gegenwärtig in der Universitätsbibhothek zu Tübingen (Depot: ehem.
Preuß. Staatsbibhothek) befindet'. Als Verfasser wird in der Handschrift
selbst ein Brahmane namens Näräyana genannt. A. Webee^ erwähnt in
seinem Katalog nur in einer Fußnote, daß auf Blatt 74a der Hs. der
Satz : atha visakanyälaksanam äha steht. Soviel mir bekannt ist, hat diese
Stehe niemals eine weitere Beachtung gefunden, zumal die Handschrift
sehr schlecht geschrieben ist, wie schon Weber ausdrücklich hervorhebt.
Die beigefügte Fotokopie der Blätter 74 a und b, die die Giftmädchenstelle enthalten, wd dies bestätigen.
Es soll nun der Versuch unternommen werden den Text nach erfolgter
Umschrift sinnvoll zu verbessern um zu einem klaren Verständnis zu
gelangen :
Nach dem Eingangssatz: atha visakanyälaksanam äha (,,Nun nennt
er das Merkmal eines Giftmädchens") heißt es weiter:
mamdeti mamdärärkadine mamdah sanih arko ravih äro bhaumah
' Vgl. Chbistian Lassen, Indische Alterthumskunde, Bd. 2, Leipzig 1874,
S. 214, Anm. 5.
' Herrn Dr. W. VmNEiSEL, Tübingen, bin ich zu großem Danke verpfiichtet
für seine Bemühungen um die Auffindung der Handschrift, fiu- ihre freimdl.
Zusendung und Erlaubnis zur Fotokopie.
8 Albbecht Webeb, Verzeichnis der Sanskrithandschriften (der Kgl.
Bibhothek in Berlm), Berhn 1853. Bd. 1, S. 263 (Nr. 879).
Ein Beitrag zum indischen Giftmädchenmotiv 327
IDas erste Wort ist als Sandhi aus mandä und iti zu verstehen. Manda
bedeutet nicht nur „langsam, träge", sondern auch „benommen, be¬
rauscht, von emer Rausch- oder Giftdroge erfüllt". Weiter ist mandä
als Hauptwort der indische Fachausdruck für das scheinbare Stillstehen
von Planeten vor oder nach einer Rückläufigkeitsbewegung. In diesem
Falle hier ist an den Saturn gedacht, unter dessen Einfluß ein Gift-
niädchen steht. Das wird deutlich aus dem weiteren Text : mamdärärka¬
dine steht verschrieben für „mandärakadine", das ist eben der Still¬
standstag des Planeten und es heißt weiter, daß an diesem Tage der
Saturn (sani) manda (träge, benommen) ist. Die nun folgenden vier
Wörter erscheinen als Doppelbezeichnungen von Sonne {arka, ravi) und
Mars {ära, bhauma). Ich glaube jedoch, daß statt arko eher ake (,,nahe") und für äro besser äre („fern") zu lesen ist. Dies dürfte als klare astro¬
logische Gestirnlage dem tatsächlich gemeinten Aspekten entsprechen:
nämlich die Sonne steht in Saturnnähe, der Mars entfernt von diesem.
Es ergäbe sich also die Übersetzung: ,,(wenn) am Stillstandstage der
Saturn betäubt ist, die Sonne in seiner Nähe, der Mars aber fern steht ...".
räsamanyatamasya dinam tasmin arnvurnpägnyaragamarn
Auf dem ersten Blick eine stark verdorbene und unklare Textstelle, die
sich aber leicht deuten läßt. Statt räsa- ist wohl rosa-manyatamasya zu
lesen und bezieht sich auf den Saturn der hier in der üblichen astrolo¬
gischen Art als der böse, dunkle, zürnende und geheimnisvolle Planet
erscheint. Das unfreundliche astrologische Haus (dina) des Satmms hat
nämhch die Eigenschaft amvumpägnyaragarnam zu sein, ein schrecklich
verdorbenes Wortgebilde, welches sich aber mit Seitenblick auf das
Folgende in arnhupä-agni-uraga-bham auflösen läßt. Ambupä ist eine
Cassia-Art, agni bedeutet hier einen Lichtfleck und uraga ist natürlich
die Schlange. Das dina des Saturn besteht also in etwas, das die Gestalt
(bha) einer Cassiablüte, eines Feuerfleckes und einer Schlange besitzt
und der Text gibt selbst gleich die Erklärung :
amnvapah (lies: arnbupä) satatärä agnibliam, krttikä uragabham
äslesä
Die Cassiablüte ist also das Mondhaus Satatärä (gewöhnlich Satabhisaj
genannt), dem Feuerfleck stellen die Plejaden am Himmel dar, während
das Mondhaus Aälesä den Umriß eines Schlangenleibes zeigt.
Der Text konzentriert nun die für die Geburt eines Giftmädchens
günstige Situation auf bestimmte Zeitpunkte innerhalb der bereits fest¬
gelegten Konstellation, indem er die sog. lunaren Tage und Nächte, die
Tithis, in die Erörterung einführt:
bharätithi dvitiya saptami dvädasi äsäsamanyatamä cet syät
Das erste Wort möchte ich für eine Zusammensetzung aus einem, dem
vorhergehenden Wort noch überflüssigerweise nachhinkenden -bha und
328 Josef Friedrich Kohl
einem schlecht geschriebenen rätritithi verstehen; das nach den Zahl¬
wörtern folgende äsäsamanyatamä gibt keinen Sinn und soll wohl
äsavamanyatamä lauten.
Wenn diese Annahmen stimmen, heißt die Stelle: „am meisten ge¬
eignet für Giftaufnahme ist die zweite, siebente und zwölfte Nacht-
Tithi". Über die Bedeutung dieser Thithis später einige Bemerkungen!
All diese vom Anfang der Textstelle an aufgeführten astrologischen
Konstellationen bauen das Horoskop eines Giftmädchens auf, was durch
den Abschlußsatz zum Ausdruck kommt: adä (statt tadä) yogah syän
ihobhütä atra yogeyä kanyä jätä sä visakanyä (,,dann gäbe dies eine
Konstellation wo ein darin mit einem solchen Horoskop geborenes
Mädchen als Giftmädchen in Erscheinung tritt").
Damit ist aber das Thema noch nicht abgetan; es folgen noch zwei
Horoskope für Giftmädchen :
atha yogäntaram äha d. h. ,,Noch ein anderes Horoskop stellt er auf",
nämlich :
ripuksetragau saurmyaitunugau (fälschlich für saurimaithunagau)
lagnagatau cet syärntä (statt syätäm)
„Wenn 2 (Himmelskörper) sich in einem feindlichen astrologischen Feld
befinden, in Konjunktion (maithuna) mit Saturn (sauri) treten und im
Aszendenten (lagna) erscheinen" oder: ekah krürah ripuksetragas tanus
cet syäd „wenn ein grausamer (krüra) Himmelskörper (tanu) sich im
feindlichen Feld befindet".
imau dvau yogau ihobhdavänipi (statt ihodbhaväpi) visakanyä syäd
„diese beiden hiermit (iha) entstandenen Gestirnlagen (yoga) sind es,
die ein Giftmädchen erzeugen können."
Zum Abschluß seiner Betrachtung über die astrologischen Bedingun¬
gen für die Geburt eines Giftmädchens führt der Text noch eine dritte
Möglichkeit an:
atha yogäntaram äha: tatau (lies tato) lagnasaurisanih syät, rathih
(wohl ravih) süryah putragah pancamaga(s) syät dharanlsatau (lies. ..
-suto) bhaumo dharmarakso tavama- (lies navama-) rakso yadä syät
(t)adä ayam aparo yogah syät.
„Es kann auch Saturn (saurisani, Doppelbenennung?) im Aszendenten
(lagna) stehen, die Sonne (ravi) ist eine ins fünfte Haus ^Jwira eingetretene
Sonne (sürya), Mars, der Sohn der Erde ist im Haus dlmrnm, welches
das neunte ist. Wenn es so ist, ist die andere Konstellation gegeben".
Dann faßt der Text zum Abschluß die Wirkung des Giftmädchens
kurz zusammen in dem Satz :
tajjäpi kanyä visam syät, visam iti, yathä visasvikärän mrtyur
bhavati tathäpi visakanyängikärän mrtyur bhavatiti phalam sücitam;
tasmät parity ajeti bhävah.
Ein Beitrag zum indischen Giftmädchenmotiv 329
Die vorgeschlagene Leseart als richtig angenommen, ergäbe sich fol¬
gende Übersetzung der ganzen vorgelegten TextsteUe bezüglich des Gift¬
mädchens :
„Nun wird vom Merkmal eines Giftmädchens gesprochen. Es ist zur
Giftdurchtränkung geeignet, wenn am StUlstandstage des Saturn dieser
träge am Himmel ist, die Sonne in seiner Nähe, Mars aber fern steht, und
wenn der Saturn dabei in seinem unfreundlichen Häusern steht, sei es
in dem cassiablüten-, feuerfleck- oder schlangengestaltigen (denn einer
Cassiablüte gleicht Satatärä, einem Feuerfleck die Plejaden und einer
Schlange Äsle§ä), wobei die 2., 7. und 12. Nachttithi am meisten ge¬
eignet ist für die Tauglichkeit zur Giftaufnahme. Dies zusammen gibt
eine Gestirnlage, die ein darunter geborenes Mädchen eben durch dieses
Geburtshoroskop zum Giftmädchen bestimmt.
Ein weiteres Horoskop wird angegeben: Weim zwei Planeten sich in
einem feindlichen Feld befinden und dabei mit Saturn konjugierend im
Aszendenten erscheinen ; oder auch wenn ein graumer Planet sich (unter
gleichen Bedingungen) im feindlichen Feld befindet. Diese beiden Fälle
sind für ein Giftmädchen günstig.
Und noch eine KonsteUation wird genannt: diese ist gegeben, wenn
Saturn im Aszendenten steht, wobei die Sonne im astrologischem Haus
jmtra sich befindet, welches das fünfte ist, und Mars im neunten Hause
namens dharma Wächter ist. Dies ist eine weitere KonsteUationsmöglich- keit.
Ein Mädchen von einem der genannten Geburtshoroskope, dürfte
Gift sein, wirklich Gift ; gleich wie der Tod durch Gifteinnahme entsteht,
so auch der Tod durch Verkehr mit einem Giftmädchen. Daher laß ab
von dieser erkannten Frucht. Das ist der Sinn."
Es sind also drei bzw. vier Planetenverbindungen, die nach der
Meinung des astrologischen Textes des Näräyana ein unter ihrer Herr¬
schaft geborenes Mädchen für Giftgewöhnung geeignet machen. Daraus
ersieht man, daß nicht jedes behebige Mädchen zu einem Giftmädchen
gemacht werden kann, auch wenn man es dazu erziehen wollte. Ein
Giftmädchen wird vom Planeten Saturn beherrscht, der den Astrologen
schon seit den Tagen der alten Hochkulturen als Unheüverkünder güt.
Er war für die Menschen der fernrohrlosen Zeit der entfernteste Wandel¬
stern, sozusagen am Rande der Planetenwelt und an der Grenze der
Starrheit und Öde der Fixsternwelt. So mußten auch die unter seiner
Regentschaft geborenen Menschen jene geheimnisvoll-hintergründige
Natur besitzen. Seine lange Umlaufzeit (fast 29% Jahre) stempelt ihn
zu einem träge schleichenden Unhold, seine durch die jeweihge Erdlage
bedingte zeitweUig starke Rückläufigkeit mußte diesen Eindruck noch
verstärken.
330 Josef Fbiedbich Kohl
Das erste Giftmädchenhoroskop unserer Handschrift nimmt einen
solchen Zeitpunkt geringster Eigenbewegung des Planeten {mandäraka-
Tag) zum Ausgangspunkt. Wenn dazu noch die Sonne in Saturnnähe
steht, Mars aber entfernt ist, so müssen diese Aspekte die Wirkung nur
noch vergrößern. Wenn unter ,,nahe" eine Konjunktion verstanden
werden dürfte und unter ,, entfernt" der Gegenschein (Opposition), so
würde dies nach astrologischer Vorstellung einen größtmöglichen Plane¬
teneinfluß ergeben, denn Sonnenkonjunktion und Marsopposition sind
bei Saturn eben immer äußerst ungünstig, d. h. das Gesamthoroskop
spricht für ein Giftmädchen. Aber die Lage wird nach der Lehre des
Textes sogar noch dadurch verschärft, daß diese ganze Konstellation
dami stattflndet, wenn Saturn in einem der Sternbilder Satatärä,
Krttikä oder ÄSlesä steht, wobei die Zeitpunkte des stärksten Planeten¬
einflusses drei bestimmte Nacht-Tithi sind.
Einfacher ist das Horoskop II des Textes, das in zwei Formen gelehrt
wird: Saturn erscheint im Aszendenten (d. h. er geht im Augenblick
der (jicburt im Osten auf) und zu ihm haben sich noch zwei andere Wan¬
delsterne geseUt, für welche diese Himmelsstelle ein feindliches Haus
(Feld) darstellt. Diese beiden können ohne Wirkungsänderung durch
einen einzigen anderen Planeten ersetzt werden, wenn dieser ein ,, grau¬
samer (iiritra)" ist. Dies bedeutet wohl entsprechend der ,, Grausamkeit"
bei den Tierkreiszeichen, daß es ein ungeradstelliger in der üblichen
Planetenreihe ist.
Das Horoskop III zeigt Saturn (als Aszendenten, also im ersten Haus),
die Sonne (im fünften Haus) und Mars (im neunten Haus) in Trigon-
stellung, der die Astrologen von einst und heute eine besondere Wirk¬
samkeit beimessen.
Diese astrologischen Ausführungen der Handschrift über die „Nati-
vität" eines Giftmädchens enthalten aber auch einige Punkte, die für
unsere Kenntnis der indischen Astronomie vermerkt zu werden verdienen.
Da ist zunächst der Vergleich des Sternbildes Satabhisaj, welches der
--t'- Text mit dem selteneren Namen Satatärä belegt, mit einer Cassia-Blüte
(ambupä) hervorzuheben. Es ist das 23. Mondhaus in der mit den.Ple-
jaden (Krttikä) beginnenden Naksatra-Reihe der Inder. Im Sternbild
des Wassermanns gelegen ist es um X aquarii herum zu suchen. Während
~T' satabhisaj bedeutet: ,, hundert Ärzte habend" (im Sinne von: selbst
100 Ärzte sind machtlos gegen eine Krankheit, die den Menschen befällt,
wenn der Mond in diesem Hause steht*), ist der Name satatärä („Hundert-
* Vgl. MoNiEB- Williams, A Sanskrit-English Dictionary unter dem Schlag¬
wort. Dagegen: Anton Scheeeb, Gestirnnamen bei den indogermanischen
Völkem, Heidelberg 1953, S. 158 sagt: ,,Die Deutung ist offenbar zurecht¬
gemacht, als man den wirklichen Sinn nicht mehr verstand."
Ein Beitrag zmn indischen Giftmädohenmotiv 331
gestirn") rein beschreibender Natur und vieUeicht ursprünghcher. Aber
neu ist uns der Vergleich mit einer Cassia-Blüte. Die übhche Gestalt
dieses Mondhauses ist im brahmanischen Schrifttum ein Kreis {vrtta)^",
bei den Svetämbara-Jaina ein Blumenschmuck {fuspopacära)^^ und
bei den Digambara-Jaina ein fliegender Vogel (patatpaksinY^. Wir sehen,
nur die Svetämbara-Version hat eine sachhche Beziehung zur Anschauung
unseres Textes. Aber die bestimmte Angabe „Cassia" scheint doch auf
eine ebenso bestimmte Ideenverknüpfung zwischen dieser Blüte und
dem Sternbild zu verweisen. Natürlich war und ist der Phantasie bei der
Zusammenstellung von Sternbildern und ihrer Ausdeutung keine Grenze
gesetzt und der Möglichkeiten, dem Sterngewirr um X im Wassermann
eine Form zu geben, sind mehrere. Wenn man an Himmelsbeobachtung
gewohnt ist und das Sternbild des Wassermanns in mondlosen Nächten
südlicherer Breiten betrachten konnte, wo dieser lichtschwache Stern¬
bezirk um 330» gerader Aufsteigung und 0»—25» südlicher Breite deut¬
licher als bei uns sichtbar wird, kann allerdings die von den Indern
geschauten Gestalten verstehen. Ausgedehnte Sternreihen lassen die
Konstruktion jener Linien zu, welche den Umriß eines Wasserträgers
im klassischen Tierkreis ermöglichten. Während der brahmanische
Kreis" [vrtta) eine Beschränkung auf die elliptische Zusammendrängung gerade der hellsten Sterne (a, y, ^, >], 7t) zu sein scheint (anderen Kulturen
schien dieses GebUde ein Topf), ermöglichte die Einbeziehung der Stern¬
reihe nach Westen (über ß Aquarii) und nach Süden (über X, t, S emer¬
seits und 9, ij^i, I2 andererseits) die Auffassung von einem fliegenden
Vogel oder einer Blumengirlande. Was aber sollte gerade an eine Cassia-
Blüte erinnern ? Ambupä wird von den Wörterbüchern als Cassia alata, L.
oder Cassia tora, L. wiedergegeben; ich glaube jedoch, daß man für
astronomische Zwecke von einer genauen Artbestimmung ruhig absehen
kann. Was bei einer Blüte der Leguminosen(Hülsenfrüchtler)famUie
•Cassia am meisten auffallen dürfte, sind die 3 langen (der insgesamt 10)
Staubgefäße, welche gemeinsam mit dem Fruchtknoten stark gekrümmt
sind. In der Seitenansicht gesehen zeigt sich allerdings eine große Ähn¬
lichkeit zwischen einer Skizze jener Blüte und dem Sternbild des Wasser¬
manns. Oben erwähnter Sternkreis wäre das Gewirre der kürzeren
7 Staubgefäße aus denen die 3 langen als die schon oben gezogenen
Sternlinien nach Süden abbiegen und mit deutlicher Kurve ins benach¬
barte Sternbild des Walfisches (Cetus) bis gegen i Ceti ziehen.
Natürlich kann diese sonst nicht weiter belegbare Formgebung einer
persönlichen Anschauung des Näräyana entsprechen, aber für wahr-
1° Willibald Kibfel, Die Kosmographie der Inder nach den Quellen dar¬
gestellt. Bonn u. Leipzig 1920, S. 139.
" Kibfel, a. O. S. 280. Kibfel, a. O. S. 280.
22 ZDMG 109/2
332 Josef Fbiedeich Kohl
scheinlicher halte ich es, daß der gekrümmte Verlauf längerer Stern¬
reihen der Vergleichspunkt zwischen den Staubgefäßen der Cassia und
einer Schlange ist. Himmelsschlangen gibt es ja meist viele, was in der
Art der Konstellationen liegt, und auch wir kennen drei, nämlich Drache,
Schlange und Wasserschlange. Daß zwischen der Vorstellung vom Gift¬
mädchen und von der Schlange eine Gedankenverbindung bestand, ist
nicht nur aus sachlichen Gründen einleuchtend, sondern wird auch durch
unseren astrologischen Text bestätigt. Dies wird noch beim Mondhaus
Äslesä und bei den Tithis offenbar werden.
Für das Mondhaus Äslesä (= e, S, C7, y], p Hydrae im Sternbild der
Wasserschlange) findet man in brahmanischen Texten als Gestalt ein
Rad (cahra)^^, bei den Svetämbara eine Fahne {patäkä)^* und den Digam¬
bara einen Ameisenhaufen (valmlka)^*. Der Name bedeutet aber die
„Umschlingenden" (weiblich!) und es wurde ihnen später auch die
Schlangengestalt zugeschrieben. Ihr Regent war Sarpa und danach hieß
das Sternbild dann särpa (Schlangengestirn)i^. ScheebrI^ meint ,,der
ursprüngliche Sinn von äslesäh kann das kaum sein, denn die Wörter für
Schlange sind im Ai. Maskulina". Ich möchte aber trotz dieser rein
sprachlichen Bedenken an eine alte Beziehung zur Schlange glauben;
könnten es denn nicht Schlangenweibchen gewesen sein ? Man vergleiche
die Tithi bhagavati weiter unten zu dem hier Gesagten. Unsere Hand¬
schrift denkt jedenfalls an Schlangen, was auch der alten babylonischen und ägyptischen Vorstellung entspricht^*.
Im Gegensatz zu den beiden bisher besprochenen Sternbildern zeigt
das Mondhaus Krttikä keine deutliche Beziehung zum Begriffspaar
Giftmädchen — Schlange. Die Krttilcä sind die Plejaden (Siebengestirn)
im Sternbild des Stiers. Immerhin ist die hier vorgetragene Formdeutung
als Feuer- bzw. Goldfleck (agnibha) der augenfälligen Gestalt dieser
Sterngruppe und der Bedeutung des Wortes krttikä (Geflecht) ent¬
sprechender als all die sonst im indischen Schrifttum erscheinenden Dar¬
stellungen. Bei den Brahmanen wird von einem Messer (ksurä oder
ksuravaty gesprochen, die Svetämbara sehen nur die Schneide eines
Schermessers (ksurädhärä)^^, die Digambara gar einen Fächer (vyajana)^^.
Natürlich könnte man eine Beziehung der Plejaden zur Schlange kon¬
struieren, aber eben nur konstruieren: das Sternbild könnte als Knäuel
junger Schlangen aufgefaßt werden und dgl. Immerhin gibt es tatsächlich
eine belegte weitläufige Beziehung zu den Schlangen: die Puränas und
die Brhatsarnhitä (9,1—6)^^ geben eine Zuordnung der Mondhäuser zu
13 Kirfel, a. O. S. 138. " Kiefel, a. O. S. 281.
" A. Scheeeb, a. O. S. 156. " A. Scheeeb, a. O. S. 191.
" W. Kibfel, a. O. S. 138. i« W. Kirfel, a. O. S. 281.
" W. Kirfel, a. O. S. 140.
Ein Beitrag zum indischen Giftmädchenmotiv 333
drei „Wegen" und stellen die Krttikä in die Schlangenreihe (nägavithl)
des Nordweges (uttaramärga). Wahrscheinlicher aber ist es wohl, daß
über die auch in Indien oft aufgestellte Formel ,,Gift gleich Feuer" der
Weg vom Himmelsfeuer der Plejaden zum Giftmädchen führt. Wird doch
schon in brahmanischer Zeit dem Sternbild die Seher(Äsi)familie
Agnivesa (ÄgniveSyah) zugeteilt und Agni, der Feuergott, zu seinem
Regenten gemacht^". Statt des altehrwürdigen Namens Krttikä erscheint
daher auch der^ame ägneya („das dem Agni unterstellte Mondhaus")^!.
Eindeutig weisen auf das Verhältnis der Schlange zum Giftmädchen
jene drei Tithis hin, die Näräyana als die Höhepunkte im Horoskop einer
visakanyä erklärt. Die Tithis sind bezeichnende Elemente altindischer
Mondrechnung und werden in der Fachliteratur gewöhnlich mit „lunare
Tage" übersetzt. Das geht auf die Lehre der Siddhäntas (Lehrbücher der
ind. Astronomie) zurück, wonach 1 <ii/tider SOsteTeil der Zeit zwischen zwei
Neumonden ist (vgl. Süryasiddhänta XIV, 12). Eine sicher sehr alte und
daher besonders wichtige Darstellung der Tithis findet sich in der Süry¬
aprajnapti, dem 5. Upänga des Jaina-Kanons (X, IS)^" jy^j.^ -werden Tag-
Tithis (lunare Tage, divasa-tihi) und Nacht-Tithis (lunare Nächte, räi-tihl)
unterschieden. Der Halbmonat (paksa) zerfäUt in je 3 Abschnitte zu
je 5 Tagnächten (5 Tag- und 5 Nacht-Tithis). Jede dieser zweimal fünf
Tithis trägt einen Namen, deren jeder sich somit innerhalb einer Monats¬
hälfte dreimal wiederholt. Die^^ zweite Nachttithi heißt bhogavai (Sans¬
krit: bhagavati) d. i. „Schlangenweibchen" (oder auch ,,die zur Schlange
gehörige") und nach der Reihenfolge der Tithis muß sich dieser Name
beim siebenten und zwölften Nachttithi wiederholen"*. Das stimmt genau
mit der Lehre unserer Handschrift überein. Die Geburt während einer
Nachttithi namens bhagavati gehört zur Erlangung der Giftgefeitheit,
die ein Giftmädchen ja besitzen muß. Die Vorstellungen Naräyana's über
die Tithis sind noch die gleichen gewesen, wie die der Jaina. Es erscheint
daher auch die oben angenommene Leseart von rätritithi (Nachttithi)
statt bharätithi vertretbar.
Soweit die Bemerkungen zur Giftmädchenstelle aus dem Näräyana-
Text.
Wie schon eingangs erwähnt, hat Hertz in seiner Abhandlung über
das Giftmädchen dieses Motiv auch bis in das europäische Schrifttum
der 2. Hälfte des 19. Jh. hinein verfolgt. Es soll hier nicht versucht
werden diese Zusammenstellimg durch die 1. Hälfte des 20. Jh. weiter-
20 W. Kibfel, a. O. S. 138. 21 a. Scherer, a. O. S. 154.
22 j. F. Kohl, Die Süryaprajnapti, Versuch einer Textgeschichte, Bonner
Orientalistisohe Studien Heft 20, Stuttgart 1937, S. 59.
23 tithi ist im Indischen entweder weiblich oder auch männlich.
2« J. F. Kohl, a. O. S. XXX.
22*
334 Josef Friedrich Kohl
zuführen. Ich möchte jedoch die Aufmerksamkeit auf einen FaU in der
deutschen Literatur lenken, weil in diesem Falle von einem SchriftsteUer,
der auch mit wissenschaftlichen Arbeiten hervorgetreten ist, das Gift-
mädchenmotiv in eine völlig andere Kulturwelt geschickt eingebaut
wurde. Nur Quellenstudien können das Walten dichterischer Freiheit
enthüllen.
Eduard Stucken"* hat in seinem Roman Die weißen Oötter'^ in
epischer Breite und bezaubernder Sprache den Untergang des Azteken¬
reiches (1519/20) geschUdert. Unter den zahlreichen Episoden, die die
Handlung ausschmücken, ist auch die Geschichte des Giftmädchens
Blutfeuerstein, die verknüpft ist mit Hinweisen auf eine frühere Ver¬
wendung eines Giftmädchens zum Königsmord.
Stucken erzählt an mehreren Stellen, daß der aztekische König Tigoc
(,,der Kreidige" oder „Kreideweiß") durch ein Giftmädchen, das ihm
ein feindlicher Fürst gesandt hatte, umgekommen sei"'. Bei diesem König
handelt es sich um den siebenten Aztekenkönig Tizoc, den zweiten Sohn
des berühmten Königs Itzcoatl (,,Obsidianschlange"), des Begründers
des unabhängigen Aztekenreiches. Er folgte 1483 seinem Bruder Axaya-
catl (,, Wassergesicht") auf den Thron und starb schon 1486. Daß dabei
ein Giftmädchen im Spiele war, davon wird in den Quellen nichts ge-
sagt"^. Torquemada"* berichtet zwar, daß der König durch Zauberinnen
und Hexen (brujas y hechiceros), von einem feindlichen Fürsten aus einem
^ Eduard Stucken, geb. 1865 in Moskau, gest. 1936 in Berlin, beteiligte sich an orientalistischen Forschungen in Nordsyrien, vielseitig interessiert vertritt er als Schriftsteller die neuromantische Richtung. Von seinen wissen¬
schaftlichen Werken seien genannt: Astralmythen (1896—1907), Der Ur¬
sprung des Alpitabets und die Mondstationen (1913), Polynesisches Sprachgut
in Amerika und Sumer (1920). Von seinen Romanen sei neben den erwähnten
Weißen Göttern auf Larion (1925) hingewiesen, der die russische Sekte der
Skopzen zum Thema hat.
28 Die weißen Oötter entstanden von 1917 bis 1922 in 13 Büchern nach
zehnjährigen Vorstudien. Die beiden verbreitesten Ausgaben sind : a) die der
Deutschen Buchgemeinschaft in 2 Bänden, Paul Zsolnay Verlag, Berlin
u. Darmstadt 1934 (Neudruck 1953). Bei Stellenangabe in dieser Arbeit
mit DB bezeichnet; b) die einbändige Festausgabe „veranstaltet im 70.
Lebensjahre des Dichters", im gleichen Verlag 1941 erschienen. Hier durch FA angezeigt.
2' Stucken, Die weißen Götter, Buch 1; DB II, S. 51; FA S. 52. Buch 11:
DB II, 207, FA 851. Buch 13: DB II 413, FA 1084. Buch 13: DB II 417,
FA 1088.
28 Herrn Prof. W. Kbickbbbrg, Berlin, bin ich zu großem Dank ver¬
pflichtet für seine Bemühungen und die freundlichst erteilten Quellen¬
hinweise.
23 Juan de Tobquemada, Los veinte i un libros rituales i monarchia
Indiana, Madrid 1723, I S. 184/5.
Ein Beitrag zum indischen Giftmädchenmotiv 335
■berüchtigten Hexenort herbeigerufen, behext worden sei, so daß er einem
Blutsturz erlag. Aber dies scheint durch magische Handlungen erreicht
worden zu sein ; von einem Analogiefall zur indischen visakanyä ist durch¬
aus nichts zu erkennen. Diese Deutung muß der dichterischen Phantasie
Stucken's entsprungen sein, wenn auch wohl nach indischer Vorlage.
VöUig frei erfunden ist die Geschichte vom Giftmädchen Blutfeuer-
stein^», das handelnd im Roman auftritt. Nach Stucken erhielt der letzte
Aztekenherrscher Guatemoc (Quauhteraoc) in den Tagen unmittelbar
vor dem FaU der Hauptstadt Mexiko-Tenochtitlan eine Reihe kostbarer
Geschenke, darunter das als Mumienbündel verschnürte Giftmädchen
Blutfeuerstein. Angeblich war ein Fürst an der Westküste der Spender,
in Wirkhchkeit aber war dies eine intrigierende Prinzessin des aztekischen
Königshauses selbst. Der Hofdichter, der Blutfeuerstein schon früher
keimengelernt und dem sie Andeutungen ihres Loses gemacht hatte^i,
erkennt sie und befreit sie von ihrer Umwickelung. Schließlich dem
jungen König von Tlacopan überlassen, erzählt sie in einer dramatischen
Schlafzimmerszene die Art, wie sie zum Giftmädchen erzogen worden
war. Von zapotekischen Edelleuten stammend -wurde sie geraubt und
von einer aztekischen Giftmischerin (Stucken nennt sie die ,, Blau¬
bemalte") gekauft. Sie gewöhnte das Mädchen an Gift, nährte sie mit
Giftdrogen bis alle Adern ihres Leibes, der Speichel ihres Mundes und
selbst ihr Atem unheilbringend vergiftet waren. Aber noch über diese
Praktiken hinaus, die uns auch von der indischen Giftgewöhnung bekannt
sind, „bohrte sie (die Giftmischerin) ihr Löcher in die Zähne und fiülte
sie aus mit dem tödlichsten aller PfeUgifte, das langsam schmelzend erst
nach Jahren seine Wirkung verliert"^".
Von dieser ganzen Geschichte findet sich wie sehon gesagt in den
Quellen nichts. Prof Keickeberg schrieb mir: ,,bei der erschöpfenden
Enzyklopädie der aztekischen Kultur, die uns Sahagun hinterlassen hat,
müßte sich etwas darin finden, wenn den Azteken das Giftmädchenmotiv
bekannt gewesen wäre."
Sahägun's aztekische Gewährsleute berichten von der eingeborenen
Ärztin (ticitl) allerlei^^, aber nichts von einer Fähigkeit Giftmädchen
heranzubüden. Es heißt, daß eine schlechte (amo qualli d. i. nicht gute)
30 So Prof. Kjsickebebg in einer briefl. Mitteilung.
31 Stucken: Buch 12 BG II, 357, FA 1021 sagt Blutfeuerstein, die
Zauberin füttere sie mit Gift, damit sie „Männer töte". Buch 12 BG II, 399;
FA 1068: ,,Der Speichel meines Mundes ist ein Todesgift, meine Lippen
morden". Stucken Buch 13, BG II 413, FA 1084.
33 QUederung des alt-aztekischen Volks in Familie, Stand, u. Beruf, aus dem
aztek. Urtext des Bernardino de Sahagun übersetzt u. erläutert von
Dr. Leonhard Schitltze Jena ( Quellenwerke zur alten Geschichte Ameri¬
kas Bd. 6), Stuttgart 1952, S. 56 u. 57.
336 Josef Friedbich Kohl
Heilkundige Hüterin (piak) von Geheimnissen ist, die sie mißbraucht,
wodurch sie kenntnisreich-betrügerisch (machice) ist. Natürlich verfügt sie
über eine Menge von Drogen ; der Text nennt sie eine pix-e, pix-tlatex-e und eine pix-tlaxaqualol-e, d. h. eine Besitzerin (-e) von Fruchtkernen
(pix-tli), gepulverten Kernen [pix-tli tla.textia ,, zermahlen") und
gekneteter Kernmasse (pix-tli -\- tia . xaqualoa)^^. Dadurch ist sie Herrin aller Gleschöpfe (tla.chival-e) und Besitzerin von Zauberkraft (naval-e).
Auch ein tlacateculoyotl ist sie, ein Mensch, der sich in eine Eule verwan¬
deln kann. Die schlechte Ärztin, so lesen wir weiter, gibt den Menschen
(Gift-)Medizin zu trinken (te-pah-i-tia) und tötet durch dieses Mittel
(te-pah-mictia), sie verschlechtert den (Kranliheits-)Zustand (te-tlana-
l-via). Sie verbreitet Krankheit (tla.cocoliz-cuitia), tötet (tla.mictia), be¬
handelt mit (Gift-)Kernen (te-pix-via) und mit Blüten (te-xochivia),
schließlich behext sie sie (die Menschen) durch bösen Blick (te-xoxa) und
sie haucht die Leute an (te-ipitza).
Sie ist eben eine Giftmischerin und Hexe, die mit allen Wassern
gewaschen ist, aber keiner der aztekischen Ausdrücke läßt auf ein Gift¬
mädchen schließen, sei es, daß die Giftmischerin selbst ein solches wäre
oder daß sie solche ausbilden würde.
Auch das männliche Gegenstück, der schurkische Arzt (tlaveliloc ticitl)
versteht dies nicht^*.
Vom Eulenmenschen (tlacateculutl, tlacatacoyotl) wird nur berichtet,
daß er ,,sie" (die Menschen) heimtückisch beiseiteschafTe (te-navalpoloa)
ohne genauere Angabe wodurch, aber jedenfalls nicht mittels oder in
Gestalt eines Giftmädchens^«.
Somit ist also festzustellen, daß das Giftmädchenmotiv in aztekischen
Quellen nicht belegt und in der ganzen mesoamerikanischen Kulturwelt
unbekannt gewesen ist. Nur die üppige Phantasie eines mit indischer
Vorstellungswelt vertrauten Dichters vermochte es dahin kunstgerecht
zu verpflanzen^'.
Auch an anderen Stellen der Weißen Götter scheint Stucken indische
Gedankengänge in aztekische Menschen übertragen zu haben^^. Vielleicht
Diese drei Ausdrücke zeigen bereits die zunehmende Verarbeitung des
Materials an. Schultze Jena a. O. S. 291: alle drei auch im Sinne von
Kernen mit behexender Kraft gebraucht.
35 Schultze Jena (Sahagun) a. O. S. 76, 77. 36 Ebenda: S. 78, 79.
3' Es sei nooh bemerkt, daß auch in dem Werk: Medizinische Bücher
(tici-amatl) der alten Azteken aus der ersten Zeit des Conquista herausgegeben,
übersetzt u. erklärt von Aug. Freih. von Gall in: Quellen u. Studien zur
Geschichte der Naturw. u. der Medizin, Bd. 7, Berlin 1940, sich nichts über
das Giftmädchen findet.
33 Bes. eiue philosoph. Betrachtung des Annalenschreibers Feuer-Juwel
mutet stark indisch an (Buch 10, BG II 132, FA 765). Man höre: ,, Alles
Ein Beitrag zum indischen Giftmädchenmotiv 337
waren Stuckens Kenntnisse über Altindien tiefer als die über Altmexiko,
die Krickegeeg^* als oberflächlich bewertet, wie seine vielen fehlerhaften
Übersetzungen aztekischer Namen bewiesen. Die Vorstellung vom Gift¬
mädchen bleibt also den Indern unbestritten als ihr geistiges Eigentum.
Man muß sich nur fragen, wie eine so durch Tatsachen widerlegbare
Ansicht selbst in einem medizinischen Text Erwähnung finden konnte.
Vielleicht ist dieses Giftmädchen der altindischen Literatur das Endghed
einer Idee, in welcher sich Wunsch und Wirklichkeit, Magie und Erfahrung
vermischt haben.
Sicher ist die Beziehung zwischen Giftmädchen und Giftschlange stets
eine sehr enge gewesen. Was Karsten vom Medizinmann-Novizen der
Jibaro-Indianer (östhches Ecuador und Peru) sagt, könnte auch von
einem indischen Giftmädchen gelten: ,,Das Gift fließt mit dem Blut
durch seine Adern, durchdringt seinen ganzen Organismus und etwas
davon ist stets in seinem Mund vorhanden, etwa wie bei einer giftigen
Schlange, die Gift im Munde trägt"*". Aber dieses Gift ist bei den süd¬
amerikanischen Medizinmännern kein wirkliches, sondern ein magisches
Gift, das der Meister seinem Novizen gegen Bezahlung in Form eines
mystischen Zauberpfeils (tunchi) von seinem eigenen Mund in dessen
Mund gleiten läßt. Nach monatelanger Reifimg dieses symbolischen
Pfeilgiftes erlangt der Jünger die geheimnisvolle Macht eines Medizin¬
mannes. Vom Giftbiß der Schlange und dem mystischen Zauberpfeil
führt die Ideenverbindung zum tatsächlichen Giftpfeil. Dies sind „also
drei Erscheinungen, die in der Vorstellung der Indianer eng verknüpft
sind"".
Es ist mir nicht bekannt, ob solche Vorstellungen auch bei den in¬
dischen Primitivstämmen bestehen oder bestanden haben. Jedenfalls
weisen die Horoskope immer weder auf Schlangen hin. Wenn man Gift
an einen Pfeil haften macht um einen Feind damit zu töten, warum
sollte man nicht versucht haben einen Gegner durch Berührung ver¬
gifteter Gegenstände überhaupt zu schädigen ? Auch Teile des mensch¬
lichen Körpers können mit Giftdrogen bestrichen werden und auf solche
mechanische Weise wäre eine Art Giftmädchen denkbar. Hertz*" erzählt
eine italienische Legende von einem Arzt in Perugia, der seiner eigenen
Tochter eine Eisenhutsalbe in die Grcschlechtsorgane gerieben hat, um
Etwas ruht im Nichts. Die Welt ist nicht endlos: die Welt grenzt an die
Nicht-Welt. Und auch die Zeit hat Anfang und Ende und ist von der Nicht-
Zeit begrenzt". Und weiter: ,,. .die Nicht-Welt ist wie Wasser, und die Welt
ist wie Eis, das im Wasser schwimmt. Die Erlösung des Eises aber ist das
Wasser". Nach brieflicher Mitteilung.
Rafael Karsten, Zur Psychologie des indianischen Medizinmannes.
Zeitschr. für Ethnologie, Bd. 80, Braunschweig 1955, S. 171.
" Ebenda S. 173. ^2 Hertz, a. O. S. 132f.
338 Josef Fbiedeich Kohl
im Auftrag der Florentiner den König zu töten ; Fürst und Arzttochter
starben an den Folgen.
Solche Versuche mögen zu allen Zeiten bei den verschiedensten Völ¬
kem untemommen worden sein, olme daß die Phantasie sie zu einer
Giftmädchenzüchtung indischen Typs ausgestaltete.
Einen sehr nüchternen Fall berichtet Emil Holub*^ (ein deutscher
Arzt und Südafrikaforscher aus Ostböhmen) von einer Mischlingsfamilie
in der Elefantenjägersiedlung Panda-ma-Tenka** : Der Mann war sehr
eifersüchtig und bediente sich eines Zauberers, um sich der Treue seiner
Frau zu versichern. Nachdem zuerst rein magische Handlungen getätigt
worden waren (Anbringung von Gift an den Bettpfosten zur Festhaltung
des vermeintlichen Nebenbuhlers, Beschmieren der Türschwelle zur
Verhinderung des Entweichens nach erfolgtem Ehebruch), schmierte
man das Gift einfach an die Lippen und Augen der Frau. Das starke
Mittel gelangte aber vom Mund in den Magen und führte unter Erbrechen
und anderen Vergiftungserscheinungen bald zum Tode des Weibes.
Diese Schilderung aus Südafrika erinnert an einen Bericht im per¬
sischen Anvar-i-SuhaiW^, worin eine Königin Gift um den Hals der
LiebUngsfrau ihres Mannes streichen läßt, weil er diesen mit Vorliebe
küsse*".
Zum Schluß sei noch auf jene aUgemein verbreitete Sorte von ,, Gift¬
mädchen" verwiesen, die den Männern durch Ansteckung mit Ge¬
schlechtskrankheiten zwar keinen raschen Tod, aber ein langes Siechtum
bringen. Solche sehr greifbaren FäUe scheinen sich im Mittelalter (und
wahrscheiidich auch schon früher) mit den indischen Giftmädchen¬
legenden verwoben zu haben, zumal damals ja wenig über das wahre
Wesen dieser Erkrankungen bekannt war*'. Für den Beobachter trug
der Vorgang den Charakter einer schleichenden Vergiftung.
So mag denn in der indischen Lehre vom Giftmädchen (visakanyä)
eine Sjmthese verschiedener Ideen vorhegen; sie ist ein Gremisch von
Dichtung und Wahrheit, getragen von einem starken praktischen Ver¬
langen.
*' Emil Holub : Von der Capstadt ins Land der Maschukulumbe, Reisen im
südlichen Afrika in den Jahren 1883—1887, Wien 1890, Bd. 1. S. 365f.
** Gelegen im nördlichsten Teil des Betschuanenlandes, nahe den Viktoria¬
fällen des Sambesi.
^5 Nach Hebtz, a. O. S. 133 f. im : Anvar-i-Suhaili or the Lights of Canopus,
being the Persian Version of Pilpay. Transl. by Eastwick, Hertford 1854,
S. 582.
" Man beachte nochmals obige SteUe bei Stucken, wo von Anbringung
des Giftes in Zahnbohrungen die Rede ist. Unterbringung von Giftdrogen
in hohlen Zähnen zu Selbstmordzwecken ist bekannt.
" Hebtz, a. O. S. 131 f.
Ein Beitrag zum indischen Giftmädohenmotiv 339
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Zur Novellistik der frühen Ming-Zeit:
Das Chien-teng yü-hua des Li Ch'ang-ch'i
Von Herbert Franke, München
I.
Die schriftsprachUche Novellenliteratur der Ming-Zeit ist in der Sino¬
logie bisher nur sehr wenig beachtet worden, ganz im Gegensatz zu der
umgangsprachhchen Erzählungsliteratur, die sowohl in China und Japan
als auch bei den westhchen Gelehrten in den letzten Jahren und Jahr¬
zehnten sehr häufig Gegenstand wissenschaftlicher Abhandlungen war.
Dabei kommt den Novellen der Ming-Zeit durchaus Bedeutung inner¬
halb der literarischen Entwicklung zu. Nicht wenige von ihnen haben die
Grundlage für umgangssprachliche Erzählungen geliefert, während andere
zu Theaterstücken verarbeitet wurden. Auch auf die Nachbarländer
Chinas wie Korea und Japan haben die Erzeugnisse der frühen schrift-
sprachhchen Ming-NoveUistik gewirkt und sich dort großer Beliebtheit
erfreut. In China selbst sind sie dagegen seit dem 17. und 18. Jahrhundert
in den Hintergrund getreten, vielleicht wegen ihres betont hochlitera¬
rischen Charakters, der sie nur einem gebildeten Leser empfehlen koimte.
Auch traten ja Werke wie das Liao-chai chih-i des P'u Sung-ling
(1640—1715), die sich im Grunde an den gleichen Leserkreis wandten,
in Konkurrenz mit den älteren Sammlungen. Jedenfalls verdienen es die
Erzeugnisse der frühen Mingzeit, ihrer halben Vergessenheit entrissen
zu werden, nicht zuletzt auch, weil sie über ihren zweifellos hohen lite¬
rarischen Wert hinaus gelegentlich aufschlußreiche Einblicke in die
geistige Situation des frühen 15. Jahrhunderts gestatten.
In einer früheren Arbeit^ habe ich versucht, das Chien-teng hsin-hua
'^^Mm des Ch'ü Yu II (1341 ?—1425) monographisch zu be¬
handeln. Die jetzige Studie schließt sich an den genannten Aufsatz an,
indem sie in der gleichen Weise das Chien-teng yü-huu | | ^ | des
Li Ch'ang-ch'i ^ ^ %% vorzustellen unternimmt. Wie schon der Titel
zeigt (,, Weitere Grespräche beim Putzen der Lampe"), ist Li durchaus
als Nachfolger und Nachahmer von Ch'ü zu betrachten, der seine No¬
veUensammlung „Neue Gespräche beim Putzen der Lampe" betitelt
1 Eine Novellensammlung der frühen Ming-Zeit : Das Chien-teng hsin-
hua des Ch'ü Yu. In: Zeitschrift der deutschen Morgenländischen Gesell¬
schaft, Bd. 108, H. 2 (1958) S. 338—382.