Die Strukturen der sowjetischen Organisationsgesellschaft
Dr. Evelyn Moser 4. DAAD-Sommeruniversität „Demokratie und Autoritarismus
in den politischen Systemen der gegenwärtigen Welt“
Bonn, 14.-17. Juli 2017
Gliederung
Sozialismus als Gesellschaftsprogramm
1
Die Organisationen der Organisationsgesellschaft
2
Funktionsweise und Widersprüche der
3
Organisationsgesellschaft im ländlichen Raum
Sozialismus als Gesellschaftsprogramm
• Umfassende Programmierung der Gesellschaft entlang marxistisch-leninistischer Prinzipien
• Politisierung aller gesellschaftlichen Funktionssysteme über zwei Ebenen:
o
Gegenstandsbereich
o
Operationsweise
• Prämisse und Ziel: (politische) Vollinklusion
o
Organisation
Die Organisationen der
Organisationsgesellschaft
• Kommunistische Einheitspartei
Politischer Führungsanspruch
Interne Entdifferenzierung der Politik
& Parallelhierarchie durch Partei
Problem: Verarbeitung von Umweltkomplexität
Hahn, Jeffrey W. (1988): Soviet Grassroots. Citizen Participation in Local Soviet Government.Princeton, NJ: Princeton University Press, S. 110.
Parteimitglieder in der staatlichen Verwaltung
Räte (soviety) Exekutivkomitees
Region 54,6 % 90,4 %
Bezirk 49,0 % 88,1 %
Stadt 46,3 % 85,7 %
Stadtbezirk 46,8 % 88,2 %
Siedlung 41,1 % 73,0 %
Dorf 40, 5 % 67,2 %
Parteimitglieder in Bevölkerung: 6,5 % (18,5 Mio.)
Die Organisationen der
Organisationsgesellschaft
• Kommunistische Einheitspartei
Politischer Führungsanspruch
Interne Entdifferenzierung der Politik
& Parallelhierarchie durch Partei
Problem: Verarbeitung von Umweltkomplexität
Die Organisationen der
Organisationsgesellschaft
• Kommunistische Einheitspartei
Politischer Führungsanspruch
Interne Entdifferenzierung der Politik
& Parallelhierarchie durch Partei
Problem: Verarbeitung von Umweltkomplexität
• Massenorganisationen
Gesellschaftlicher Führungsanspruch der Partei
Funktionsmonopole für gesellschaftliche Bereiche
Mitgliedschaft als Determinante individueller Freiheitsgrade
• Massenorganisationen: Integration aller
• Partei: elitäre Führungsposition
www.davno.ru sovcom.ru
„In einem Land wie der UdSSR hing die Zukunft des Sozialismus wesentlich von der Lösung eines überaus schwierigen Problems ab: der Überführung der zersplitterten bäuerlichen Kleinbetriebe auf den Weg der sozialistischen Vergenossenschaftlichung.
[...] Die Kollektivierung erlöste das Dorf für alle Zeiten von der Knechtung durch die Großbauern, der Klassendifferenzierung, dem Ruin und dem Elend.“
(aus dem 3. Parteiprogramm der KPdSU von 1961)
Kolchos als Massenorganisation:
•
Landwirtschaftsbetrieb
•
Erziehungsinstitution
•
Modernisierung & lokale Infrastruktur
Machtinversion im sowjetischen Dorf
Kolchos als Symbol des Staates auf lokaler Ebene
•
„Wir [Kolchosarbeiter, E.M.] haben 16 Häuser im Jahr gebaut. Alles hat der Kolchos gebaut. [...] Der einzelne Mensch hat damals den Einfluss des Staates auf sich viel stärker gespürt. Und nicht nur wie heute, wenn jemand 200 Rubel Sozialhilfe
bekommt, die sowieso unsichtbar sind – damals war das ganz konkret: einem wurde eine Wohnung gebaut. Das Kulturhaus, dort der Kindergarten – das alles hat der Kolchos von seinem eigenen Geld gebaut. Natürlich hat ihm der Staat geholfen, Hilfe vom Chef sozusagen. Aber heute gibt es keine Hilfe vom Chef, keine Hilfe vom Staat – es gibt überhaupt keine Hilfe mehr.“ (ehemaliger Kolchosarbeiter, 13.8.2008)
Faktische Übernahme der Gemeindeverwaltung und
•
Verdrängung der Partei
„Zu sowjetischer Zeit hatte der Vorsitzende des Sel’sovet [der Gemeindeverwaltung, E.M.] überhaupt keine Macht. Er war formal zwar eine Autorität, aber er hatte keine Macht. Der Vorsitzende des Kolchos war die einflussreichste Instanz auf dem
Territorium. Nach ihm kam der Sekretär der lokalen Parteiorganisation.“
(Bürgermeisterin, 8.8.2008)