Weiterbildungsgebiete und
Transitionsalter:
Emerging Adulthood
Inge Seiffge-Krenke
BPTK 24.6.2020
Gliederung
1. Umgrenzung der Altersbereiche: Was sagt die Forschung?
2. Prävalenzraten: neues “window of vulnerability”?
3. Bedarfe der jungen Leute dieser Altersstufe
4. Konsequenzen für Weiterbildung(WBO)
1. Umgrenzung der Altersbereiche:
Was sagt die
Forschung?
Auftauchen einer neuen
Entwicklungsphase: „Emerging Adulthood“ (18-30 Jahre)
Charakteristiken
• Extremer Selbstfokus, erhöhter Narzissmus
• Verlängerte Identitätsentwicklung mit viel Exploration, wenig Commitment
• (Zu) viele Möglichkeiten, Instabilität
• Gefühl von “in-between”
• Herausschieben von Markern des Erw.seins, mehr Nesthocker
• Hohe Diversität, Semiautonomie
Eigene Studien mit Bezug zu Deutschland:
• 3000 18-30 J. in Ost- und Westdeutschland
• 2100 25 J. und 2300 15.J. aus 7 Ländern
• 300 Familien mit Jugendlichen → jungen Erw.
Forschung:
Von 2 Publikationen im Jahr 1999 auf 1200 im Jahr 2019
Gründung von Zeitschriften Emerging Adulthood
Gründung von Fachgesellschaften SSEA
Inge Seiffge-Krenke 5
„Emerging Adulthood“ (18-30 Jahre)
24.06.2020
Hinausschieben von Markern des Erwachsenseins
30 40 50 60 70 80
1 4 1 5 1 6 1 7 2 1 2 2 2 3 2 5
%
ALTER Auszug Partnerschaft Beruf
Seiffge-Krenke (2009, 2010, 2017)
• Auszugsalter:
Heute: Jeder 3. junge Deutsche nach dem 25. Lebensjahr wohnt noch bei den Eltern
• Heiratsalter:
- Kohorte 1950: 50% mit 24 J. verheiratet - 2018: 8% mit 24 J. verheiratet
• Elternschaft (wenn überhaupt): 30 Jahre
• Ausbildungs- und Studienzeiten:
Durchschnittsalter Auszubildender - Heute: 20 Jahre
- 1970: 16,5 Jahre
Durchschnittliche Semesterzahl - 2017: 14 Semester
- 1960: 10 Semester
Mikrozensus 2018
Identitätsentwicklung: mit 25 Jahren sind….
JA NEIN
JA
Achieved34%
Moratorium 26%
NEIN
Foreclosure 19%Diffusion 21%
Commitment
E xpl orat ion
Kroger, J. et al. (2010): Identity status during adolescence and young adulthood:
A meta-analyses. Journal of Adolescence.
Meta-Analyse
Kroger et al. (2010) an 500 QS-Studien
Inge Seiffge-Krenke 7
24.06.2020
• Im Alter von 18 Jahren:
erst 17% achieved identity
• Im Alter von 30 Jahren:
42% achieved identity
Sehr langsame Progression, viel Exploration, deutliche Abnahme im Commitment
Ergebnisse von 124 weltweiten LS-Studien
Identitätsentwicklung
Identitätsentwicklung
von jungen Erwachsenen in 7 Ländern: Deutsche weniger aktiv
Inge Seiffge-Krenke 9
Seiffge-Krenke et al. (2018)
24.06.2020
Verlängerter Übergang und hohe Diversität auch im Beruf
Studierende als Prototyp
• 24% berufstätig
• 50% studieren
• 16% in Lehre
• 10% arbeitslos
Partnerschaft und Wohnsituation
• 80% in Partnerschaft
• 20% leben noch zu Hause 3000 junge Erwachsene,
18-30 Jahre (M=23 Jahre), über 3 Jahre verfolgt
(Seiffge-Krenke 2017)
achieved 17%
foreclosure 19%
moratorium 14%
carefree diffusion
11%
troubled diffusion
16%
undifferenti ated 23%
Finden einer beruflichen Identität einfacher?
Identitätscluster
Partnerschaft Identitätscluster Beruf
achieved 18%
foreclosure 19%
moratorium 14%
carefree diffusion
15%
searching moratorium
10%
undifferenti ated 24%
Inge Seiffge-Krenke 11
24.06.2020
Emerging adults: Time of flux and diversity
Partnerschaft
Vielzahl von offenen, uncommited romantic
relationships
• On/ Off relationships
• Hook-ups
• Friends with benefits
• 24% in Trennungen/ Jahr
Beruf
Moving in and out of different employment
and educational statuses
• Kurze Zeitverträge
• „Generation Praktikum“
• 7 Wechsel in den ersten 5 Jahren
Halpern-Meekin et al., 2013 Krahn et al., 2016
Seiffge-Krenke & Shulman 2020
Mangelnde Empathie in die Eltern
Hohe Scheidungsraten nach dem Auszug der Kinder
Verlust der Arbeit/
Arbeitslosigkeit
24.06.2020 Inge Seiffge-Krenke 1
Was haben Eltern mit der verlängerten Transition zu tun?
• Sie können unangemessen lange unterstützen
• Sie können sie behindern durch
psychologische Kontrolle (Barber, 2002)
eigene Ängste (Kins & Beyers, 2009)
separation anxiety
Elterliche Separationsangst:
• Nicht nur bei kleinen Kindern
• Bei Vater und Mutter gleich (mütterliche Väter!)
Mechanismen der psychologischen Kontrolle
Mahler, 1974 Kins et al., 2010 Hock, 2003
Inge Seiffge-Krenke 15
24.06.2020
Psychologische Kontrolle und Störungen in der Identitätsbildung
Elterliche psych. Kontrolle (intrusives Verhalten, Druck,
dass Kinder eigenen
Bedürfnissen & Erwartungen entsprechen; Barber, 2002)
führte zu Abnahmen im Commitment
Psychologische Kontrolle verhindert das, was sie anstrebt!
Exploration in die Breite bei den Kindern führte bei Eltern zu einer Verstärkung
psychologischer Kontrolle
Luyckx et al., 2007
Elterliches Verhalten
bei Emerging Adults in 7 Ländern: Hohe Unterstützung durch die Mutter, hohe ps.
Kontrolle durch den Vater bei dt. Eltern
(Seiffge-Krenke et al, 2018)
Inge Seiffge-Krenke 17
24.06.2020
Zusammenfassung
Junge Erwachsene
• Marker des
Erwachsenenalters hinausgeschoben
• Verlängerte und qualitativ veränderte
Idenitätsentwicklung
• Diversität und Fluktuation auch in Partnerbeziehungen und Beruf
• Extremer Selbstfokus
• Studierende als Prototyp
Ihre Eltern
• Längere Beelterung
• Brüchigkeit in Bezug auf Partnerschaft und Beruf
• Problematische Erziehungsstile,
insbesondere zu viel Unterstützung,
Separationsangst
und psychologische
Kontrolle
2. Prävalenzraten: neues
“window of
vulnerability”?
30,1
21,4 22,4
14,9 43
35,6
31,9
25,3
18-34 J. 35-49 J. 50-64 J. 65-79 J.
Anteil mit psychischer Störung in %
Altersgruppen
Männer Frauen
Zunahme von psychischen Störungen bei 18-34 Jährigen
nach Jacobi et al., 2014
U-förmiger Verlauf:
Zunahme von Symptomen im jungen Erwachsenenalter (Seiffge-Krenke
2010)
0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50
T1 T2 T3 T4 T5 T6
Diabetiker Gesunde Pbn
Messzeitpunkte YSR-/
YASR- Scores (MW)
Inge Seiffge-Krenke 21
24.06.2020
Durchschnittlicher HbA1c-Wert über den
gesamten Studienverlauf (Seiffge-Krenke, 2010)
7,8 8 8,2 8,4 8,6 8,8 9 9,2 9,4
T1:
13 J.
T2:
14 J.
T3:
15 J.
T4:
17 J.
T5:
21 J.
T6:
23 J.
T7:
24 J.
T8:
25 J.
HBA1c HbA1c
Gut: < 7,6
Mittel: 7,6 - 9,5 Schlecht: > 9,5
M
Messzeitpunkt
0%
2%
4%
6%
8%
10%
12%
14%
16%
18%
20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 Alter am 31.12.2009
Anteil Betroffener in %
Studierende Frauen Erwerbspersonen Frauen Studierende Männer Erwerbspersonen Männer
Einfluss von Geschlecht &
Ausbildungsform
Depressionen (F32, F33) nach Alter und Geschlecht
TK, 2011
Inge Seiffge-Krenke 23
24.06.2020
Starke Bedeutung der verzögerten
Identitätsentwicklung für die Psychopa- thologie (DSM-5!): Nach Kontrolle haben Männer in fast allen Ländern höhere
Symptombelastung
before after controlling
3. Bedarfe der jungen Leute
dieser Altersstufe
Emerging Adults:
3 wichtige Entwicklungsaufgaben
• Immer noch die wichtigsten (Seiffge-Krenke & Gelhaar, 2008)
• Diskrepanz zwischen Ziel und Entwicklungsstand (Skaletz & Seiffge-Krenke, 2010)
• Internalisierte gesellschaftliche Norm kann Symptome produzieren
Emerging Adulthood
Partnerschaft
Auszug
Karriere
Leidensdruck: Es sind die Sensiblen, die in Therapie kommen
Überschneidungsbereich:
Jugendspezifische Aufgaben werden früher, erwachsenenspezifische
Aufgaben noch lange nicht gelöst…
1,5 1,6 1,7 1,8 1,9 2 2,1 2,2 2,3 2,4 2,5
14 15 16 17 21 23 25
Seiffge-Krenke (2009)
Adolescence Emerging Adulthood
Inge Seiffge-Krenke 1
24.06.2020
Für die verlängerte Transition ist klinisch bedeutsam
Ruminative Exploration
(Luyckx et al., 2009)
Psychologische Kontrolle
der Eltern (Barber, 2002)
Initiative des Kindes gebremst, Autonomie verhindert
Kann zu übernommener Identität = falsches Selbst führen!
Fragen sich immer
dasselbe, ohne mit der Antwort zufrieden zu sein
Kann zu
Psychopathologie führen!
Zusammenfassung
• Entwicklungsdruck besteht
• Leidensdruck aber nur bei einer begrenzten Zahl
• Troubled diffusion und ruminative Exploration problematisch
• Problematisches Elternverhalten als Ursache mitbedenken
• Unterstützung, ohne Agency zu beinträchtigen
• Verändertes Setting und Rahmen mitbedenken (flux and flexibility)
• Jugendliche carefree diffusion,
Erwachsenenalter troubled diffusion
• Problematische Identitätsentwicklung führt zur
Psychopathologie: Meta-analyse von Klimstra & Denissen 2017
Inge Seiffge-Krenke 29
24.06.2020
4. Konsequenzen für Weiterbildung
(WBO)
• Verkürzung der Kindheit
• Verlängerung der Jugend durch Akzeleration und verlängerte Ausbildungszeiten
• Auftauchen einer „neuen“ Phase zwischen Adoleszenz und Erwachsenenalter („Emerging Adulthood“)
• Merkmale von Instabilität, neuen Optionen, Exploration
und verringertem Commitment, auch bei dem bislang als
stabil angesehenen höheren Erwachsenenalter
Neue Modelle notwendig:
Von der pathologisch-prolongierten Adoleszenz (Blos,1967)
zur normativen
Phase des Emerging Adulthood (Arnett, 2002)
Stärkere Beachtung der
Entwicklungs- Psychopathologie
für die neue Altersgruppe in der
WBO
Konsequenzen
• Profundes entwicklungspsychologisches Wissen ist notwendig, um Krankheitswertigkeit
einschätzen zu können
• „Was ist noch normal?“ gilt auch für das Elternverhalten
• Bedeutung des Rahmens: Mehr Flexibilität vonnöten, Umgang mit Unterbrechungen
• Wieviel Unterstützung ist therapeutisch angemessen (supportiv)?
• Aus der ruminativen Exploration heraushelfen, Unterstützen, aber Agency zulassen
• Elternarbeit/ Arbeit mit Angehörigen unbedingt erforderlich, in lockeren Zeitabständen
Inge Seiffge-Krenke 33
24.06.2020
Literatur
• Seiffge-Krenke, I.(2019).Die neue Entwicklungsphase des „emerging adulthood“ Typische Störungen und Entwicklungsrisiken und Ansätze der psychotherapeutischen Versorgung.
Psychodynamische Psychotherapie 3, 176-192
• Persike, M., Seiffge-Krenke, I. et al., (2018). Emergings adults‘ psychopathology in seven countries: The impact of identity related risk factors. Emerging adulthood X, 1-18
• Seiffge-Krenke, I. et al.,(2018). Psychopathologie bei Jugendlichen aus sieben Ländern:
Welche Bedeutung hat die Kontrolle von Identitätsentwicklung und Familienbeziehungen?
Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 1-12.
• Seiffge-Krenke, I,( 2017).Studierende als Prototyp der „emerging adults“. Verzögerte
Identitätsentwicklung, Entwicklungsdruck und hohe Symptombelastung. Psychotherapeut, 62, 403-410.
• Shulman, S. Seiffge-Krenke, I., Scharf, M., Biogangiu, S. B-, & Tregubenko, V. (2016). The diversity of romantic pathways during emerging adulthood and their developmental
antecedents. International Journal of Behavioral Development, X, 1-8
• Luyckx, K., Seiffge-Krenke, I., Schwartz, S., Crocetti, E., Klimstra, T.A. (2014).Identity
configurations across love and work in emerging adults in romantic relationships. Journal of Applied Developmental Psychology 35, 192-203.
• Seiffge-Krenke,I., Escher, F.J.(2018):Was ist noch„normal“? Mütterliches Erziehungsverhalten als Puffer und Risikofaktor für das Auftreten von psychischen Störungen und Identitätsdiffusion.
Z Psychosom Med Psychother 64, 128–143.