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und es war furchtbar, aber es war auch ein ganz schönes Gespräch, auch wenn das jetzt vielleicht merkwürdig klingt. Er war so liebevoll und so

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„… und es war furchtbar, aber es war auch ein ganz schönes Gespräch, auch wenn das jetzt vielleicht merkwürdig klingt.

Er war so liebevoll und so aufmerksam und so rücksichts- voll mir gegenüber. Ich war hinterher unglaublich traurig, aber nicht am Boden zerstört, wenn du verstehst, was ich meine. Er hat gesagt, es tut ihm so weh, mir weh zu tun, aber er wäre lieber ehrlich zu mir, eben weil er mich so gern hätte, und es sei wirklich eine wunderschöne Zeit mit mir gewesen, von der er keinen Tag missen wollte, und er hätte all die Jahre wirklich geglaubt, dass er mich liebt, aber seit er diese, diese Anja getroffen hätte, da hätte es ihn wirklich erwischt, sofort, vom ersten Augenblick an; er hätte sie ge- sehen und kurz mit ihr geredet – sie war seine Kollegin in dem Altenheim, weißt du, in dem zweiten, dem in Lichter- felde – und sie hätte ihn so wahnsinnig fasziniert, er könne seitdem an gar nichts anderes mehr denken und am liebsten würde er sofort mit ihr zusammenziehen und 24 Stunden am Tag mit ihr verbringen, und das hätte ihm auch noch mal gezeigt, dass da irgendwas nicht gestimmt haben konn- te zwischen uns, weil wir ja immer nur davon geredet hät- ten einmal zusammenzuziehen, aber es offensichtlich nicht gereicht habe, es auch zu tun, und jetzt hätte er das Gefühl, zum ersten Mal im Leben wirklich zu spüren, am ganzen Körper zu spüren, was Liebe ist.“

„Das hat er zu dir gesagt?“

„Ja, aber das war nicht so schlimm für mich. Weißt du, er war vollkommen ehrlich, und das hat mir so gut getan.

Er hat gesagt, und das stimmt ja auch, irgendetwas in ihm muss immer noch auf der Suche gewesen sein, obwohl er wirklich geglaubt hätte, dass er glücklich mit mir sei, und

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er sähe es als seine Pflicht an, mich jetzt sozusagen freizuge- ben, denn er würde sich wünschen, dass ich das auch erlebe, mit einem anderen Mann.“

„Das Schwein.“

„Ja. Du hast natürlich recht. Oder besser gesagt: Man kann es auch so sehen. Aber wenn es sein musste, und es musste ja offenbar sein, dann war es gut, so, wie er es gemacht hat.

Wir haben lange nicht so intensiv miteinander geredet und ich habe so geheult, aber das störte gar nicht, er hat mich in den Arm genommen und auch ein bisschen geweint ... Ich glaube ihm, dass es ihm unendlich leid tut. Und zwischen- durch haben wir auch gelacht, er hat mich ein bisschen ge- neckt, aber freundlich, weißt du.“

„Und zum Schluss seid ihr noch mal miteinander ins Bett gegangen.“

„Also, äh, ja! Und weißt du was: Das war so schön wie ganz am Anfang unserer Beziehung. Unglaublich. Ich fürchte, ich hab mich ein bisschen neu in ihn verliebt ...“

„Und beim Abschied hat er gesagt, dass er dich als Freundin auf keinen Fall verlieren will und dass du ihn jederzeit an- rufen kannst, auch wenn du ihn einfach nur beschimpfen willst.“

„Ja! So ähnlich jedenfalls. Kannst du Gedanken lesen?“

„Die Typen sind doch alle gleich.“

„Vielleicht. Aber er meinte es ernst, verstehst du? Ich neh- me ihm das ab!“

„Und du gibst dich damit zufrieden, zu einer guten Freun- din degradiert zu werden und hoffst, dass er ab und zu mal wieder eine schwache Stunde hat.“

„Na ja ...“

„Und irgendwann passt du auf das Baby auf, wenn er mit seiner Schnepfe nach Paris fahren will. Sag mal, merkst du

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denn eigentlich gar nicht, was hier passiert? Hast du das alles vergessen und verziehen? Das ganze Referendariat, oder besser gesagt: das halbe, hast du mit ihm durchgestan- den, mitgezittert, nächtelang an seinen Lehrproben gefeilt, ihn dann morgens zur Schule gefahren, auch wenn du erst später hinmusstest, sein Ego wieder aufgerichtet, wenn er wieder mal vom Fachleiter oder von den Schülern eins auf die Mütze bekommen hatte, und dann, als er es geschmis- sen hatte, bist du mit ihm zu seinen Eltern gefahren, um ihm beizustehen. Und die ganze depressive Phase hinter- her hast du ihn ertragen, hast ihn bei dir wohnen lassen, obwohl er nichts gemacht hat, nur Elend verbreitet – ich weiß noch genau, wie du dich bei mir darüber beklagt hast, dass du kaum dazu kämst, deinen Unterricht vorzuberei- ten, geschweige denn etwas Schönes zu machen – nichts als Jammern und Klammern, hast du gesagt. Und du hast ihn erst auf die Idee mit der Umschulung gebracht! Hast ihm alle Broschüren mitgebracht! Hast ihn gezwungen, zum Ar- beitsamt zu gehen und sich beraten zu lassen! Ohne deine Initiative säße er jetzt noch bei dir zu Hause vorm Früh- stücksfernsehen.“

„Aber das gehört zu einer Beziehung. In guten wie in schlechten Tagen ...“

„Aber es kann doch nicht so einseitig gehen! Was hat er denn für dich getan? Versprechungen. Nichts als Verspre- chungen. Wenn die Umschulung vorbei ist, wollte er mit dir eine Wohnung suchen. Er hat dir ein Kind verspro- chen …“

„Woher weißt du das?“

„Du hast es mir erzählt.“

„Ach ja, kann sein.“

„Und was macht er? Kaum ist er raus aus seiner Lebenskri-

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se, Altenpflegeexamen in der Tasche, kleine Erbschaft ge- macht, eine wirklich gute Berufsperspektive entwickelt – die stammte ursprünglich bestimmt auch nicht von ihm, oder? Jetzt hätte es losgehen können mit euch beiden! Jetzt hätte es endlich einmal gute Tage geben können! Und was macht er? Schnappt sich die erstbeste Altenpflegetussi, und das war’s dann. So jemand will Altenpfleger sein. So jemand will eine Tagesstätte leiten! Arbeitgeber werden! So ein ver- antwortungsloser Hallodri! Das kann doch überhaupt nicht gut gehen!“

„Die alten Frauen lieben ihn.“

„Ja, weil er gut aussieht. Und ein Charmeur ist. Darauf fal- len die alten Weiber genauso rein wie die jungen. Er hat dich verarscht, begreifst du das endlich! Er hat dich vor- geführt! Du hast geglaubt: ‚Boah, was für ein toller Typ, und er meint wirklich mich, wenn er sagt, dass er auf mich abfährt.‘ Der Einzige auf den er abfährt, ist er selber. Er brauchte dich nur für sein Ego! Dieser Mann hängt am Tropf der Bewunderung der Frauen. Und wenn er eine fin- det, die es noch besser kann, dann sind die alten nur noch Dreck für ihn.“

„Das Schlimme ist, dass du Recht hast. Und trotzdem stimmt es nicht. Für mich stimmt es nicht. – Marlene, ich kann nicht mehr. Ich muss erst einmal allein über alles nachdenken. Ich ruf dich wieder an.“

„Entschuldige. Ich wollte dich nicht verletzen. Es macht mich nur so wütend, wenn ich sehe, was er mit dir macht, wie er dich immer noch benutzt und wie du dich von ihm so erniedrigen lässt, statt ihm einen Tritt zu geben, dass er aus deiner Wohnung bis auf die Straße fliegt.“

„Marlene! Ich leg’ jetzt auf. Ich kann nicht mehr.“

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Es war erst Viertel vor sieben, aber im Gemeindesaal waren bereits alle Plätze belegt oder zumindest durch auf der Sitz- fläche ausgebreitete Jacken als reserviert gekennzeichnet.

Die Leute lehnten an den Wänden, saßen auf den Fenster- brettern, einige brachten weitere Stühle aus dem Vorraum herein und viele standen noch vor der Tür und unterhiel- ten sich. Es war mit großer Resonanz gerechnet worden, als die Interessengemeinschaft der Siedler Eichkamps und die Evangelische Versöhnungsgemeinde zu diesem Abend eingeladen hatten. In alle Briefkästen zwischen Dauerwald- weg und Waldschulallee waren Handzettel verteilt worden:

„Was wird aus dem Gemeindehaus? Einladung zum In- formations- und Diskussionsabend, Freitag, 19.00 Uhr, Zikadenweg 42.“ Aber dass so viele Eichkamper den Weg ins Gemeindehaus finden würden, das hatte wohl niemand erwartet, zumal ja noch Herbstferien waren und Berlin, wie immer, sobald die Schulferien ausbrachen, in einen tiefen Ferienschlaf versunken war, trotz der rückläufigen Zahl an Schulkindern.

Obwohl zwischen der Interessengemeinschaft und der Kir- chengemeinde eine Nachrichtensperre vereinbart worden war, war das Gerücht durchgesickert, das Gemeindehaus solle verkauft werden. Und obwohl ein nicht geringer Teil der heute Anwesenden das Gemeindehaus zuletzt zu Ju- gendzeiten betreten hatte, um dort an der Tischtennisgrup- pe oder einem anderen Angebot für Teenager teilzuneh- men, war die Empörung unter allen gleichermaßen groß.

Das Gemeindehaus, diese letzte sichtbare Bastion Eich- kamp’schen Zusammengehörigkeitsgefühls, durfte nicht geopfert werden.

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Vorn im Saal, wo sich die Bühne befand, hatte man zwei Tische aneinandergestellt, dahinter vier Stühle, und auf den Tischen vier Namensschilder verteilt: Ganz links sollte Jörg Leisegang sitzen, das war der neue Pfarrer der Gemeinde;

er war noch nicht allen bekannt, da ihm die Feuertaufe des Weihnachtsgottesdienstes noch bevorstand. Die Plätze ne- ben dem Pfarrer waren für einen Oliver Schönefeld und für die ebenfalls unbekannte Anja Liebenauer vorgesehen, und auf dem vierten Platz stand der Name von Micha Rödel, dem Vorsitzenden der Interessengemeinschaft.

Der Pfarrer war bereits gekommen und stand in angereg- tem Gespräch mit Dr. Antheil, einem der Rechtsanwälte, die in Eichkamp wohnten und praktizierten. Jetzt winkte er zwei jüngere Leute zu sich heran, die bisher ein wenig abseits gestanden hatten, eine junge Frau von Anfang 20, blonde Locken, leicht geschminkt, die Wangen vielleicht ein bisschen zu rosa. Sie trug weiße Hosen und weiße Ge- sundheitsschuhe, ein weißes T-Shirt und darüber einen bunt gemusterten Herrenpullover, der etwas zu groß war, aber richtig nett an ihr aussah. Eigentlich war es egal, was sie anhatte, denn das Auffälligste und Einnehmendste an ihr waren die wunderbaren, strahlend blauen Augen, die die ganze Zeit zu lächeln schienen. Ein Mädchen, das man immer gern in seiner Nähe haben möchte, dachte Dickau.

Sie betritt einen Raum, und die Atmosphäre verändert sich, wird freundlicher, heller. Man selbst wird auch freundli- cher, denn man möchte alles tun, damit dieses strahlende Lächeln erhalten bleibt.

Der junge Mann neben ihr, ein großer, durchtrainierter Typ, fiel im Vergleich zu ihr fast ab, obwohl er durchaus gut aussah, zumindest im Sinne allgemeiner Vorstellungen von Schönheit. Er trug Jeans, hellbraune Wildlederschuhe,

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einen hellbeigen Wollpullover mit V-Ausschnitt auf nackter Haut. Über einer Schulter hing eine hellbraune Lederjacke.

Das dunkelbraune Haar war perfekt geschnitten, der lan- ge Pony, den er zur Seite geföhnt hatte, verlieh ihm etwas Jungenhaftes. So, wie er da stand, hätte er in jedem Katalog posieren können. Ein schönes Paar, dachte Dickau etwas wehmütig, als der junge Mann der jungen Frau seinen Arm um die Schultern legte.

Nun trat auch noch Micha Rödel zu der Gruppe, nun ja, er trat nicht, er schlurfte wie immer; seit Dickau denken konnte, hatte er diesen schlurfenden Gang, diese langen, in der Mitte gescheitelten, mittlerweile ergrauten Haare, diese Umhängetasche aus grauem Stoff mit den Umrissen einer Hanfpflanze darauf. Ein Grüner, wie ihn das Klischee nicht besser hätte zeichnen können.

Seit 15 Jahren war er Vorsitzender der Interessengemein- schaft und würde es wohl bleiben, bis er eines Tages selbst endgültig abdankte. Nicht, dass die Eichkamper, die ihn immer wieder wählten, alle mit einem solchen Repräsen- tanten einverstanden gewesen wären, aber er hatte durch seine Tätigkeit als Bezirksverordneter Zugang zu vielen In- formationen, wusste in der Regel früher als andere, durch welches Vorhaben das beschauliche Leben in der Siedlung als nächstes gestört werden sollte, konnte, wenn es nötig war, beharrlich sein, bis er jedem auf die Nerven ging, und schien von seinen fünf Kindern immer mindestens eins im Kindergarten zu haben, eins in der Waldgrundschule, eins in der Oberschule, eins im Schwimmkurs, eins im Sport- verein und eins, das sich in der Gemeindearbeit engagierte, so dass er auch als Vater ein vitales Interesse daran hatte, drohenden Veränderungen, die er nicht selbst angeregt hat- te, den Riegel vorzuschieben.

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Der Pfarrer nickte Micha Rödel zu und die Gruppe begab sich auf das Podium.

Die Sitzung dauerte bis kurz nach halb elf. Zunächst ergriff Pfarrer Leisegang das Wort; es würde gemunkelt, das Ge- meindehaus solle verkauft werden, dem sei nicht so. Auf- atmen in der Zuhörerschaft. Aber, so fuhr er fort, die ab- nehmende Zahl von Gemeindemitgliedern, ja, auch in der Versöhnungsgemeinde, zwinge die Kirche zu dem Schritt, das Haus zu verpachten. Und hier habe man eine, wie er meine, wunderbare Lösung gefunden. Es würde kein Res- taurant und auch kein Indoorspielplatz oder ein Obdach- losenasyl – er ignorierte die Erregung, die daraufhin durch den Saal waberte –, das Gemeindehaus würde künftig als Altentagesstätte genutzt werden.

Nun musste Micha Rödel eingreifen, um die aufbranden- den Fragen, Einwände und Proteste, ja Beschimpfungen zurückzuweisen; er bat, erst einmal den künftigen Pächter zu Wort kommen, sein Konzept vorstellen zu lassen und dann Fragen zu stellen.

Oliver Schönefeld, der junge, gutaussehende Mann, hat- te sich offenbar gründlich vorbereitet. Sichtlich bemüht, Punkte zu machen, stellte er sich zunächst als einen Wahl- Eichkamper vor, brachte seine Oma ins Spiel, verwies auf seine Ausbildung zum Altenpfleger, führte den Eichkam- pern die Notwendigkeit und den Segen einer solchen Ein- richtung vor Augen, zeigte sich dankbar, für seine große Idee das Gemeindehaus Eichkamp pachten zu dürfen und spielte am Ende seinen, wie Dickau fand, größten Trumpf aus: Er wies auf seine blondgelockte Nachbarin und stellte Anja Liebenauer als seine erste und bisher einzige Mitarbei- terin vor, der natürlich weitere folgen würden, sobald es die Zahl seiner Gäste erforderlich machte. Schließlich verteilte

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er noch Handzettel, auf denen er das vorläufige Konzept seiner Tagesstätte skizziert hatte.

Die Reaktion war überwältigend. Micha Rödel, der eher unfreiwillig die Rolle des Diskussionsleiters übernommen hatte, ließ klug erst einmal alle durcheinanderrufen, notier- te dabei, was er verstand, und als sich die erste Aufregung gelegt hatte, ergriff er das Wort.

„Offenbar“, sagte er, und da noch niemand zuhörte, wie- derholte er noch einmal lauter: „Offenbar gibt es drei Sor- ten von Bedenken. Zum einen geht es um die Ästhetik.

Einige haben die Befürchtung, dass unser Gemeindehaus nicht mehr wiederzuerkennen ist, wenn der Umbau, der ja zweifellos erforderlich ist, abgeschlossen sein wird. Da das Haus unter Denkmalschutz steht, können die Verände- rungen, jedenfalls an der Außenansicht, gar nicht so groß sein. Ob es überhaupt möglich ist, eine Rollstuhlrampe zu bauen, das muss Herr Schönefeld mit seinem Architekten und dem Denkmalschutzamt klären.“

Oliver Schönefeld nickte eifrig, machte sich eine Notiz und nahm einen Schluck Wasser.

„Der zweite Einwand fragt danach, was aus den Gruppen werden soll, die das Gemeindehaus regelmäßig nutzen.

Wenn man sich alles zusammen mal ansieht“, hier lächelte er zufrieden, denn viele der nicht-kirchlichen Aktivitäten im Gemeindehaus gingen auf seine Initiative zurück, „ist das doch eine ganze Menge, was wir hier in Eichkamp auf die Beine gestellt haben. Die Filmabende, die Weinproben, der Gesprächskreis pubertierender Eltern – Entschuldi- gung, wir nennen das immer so, es muss natürlich heißen:

der Eltern Pubertierender –, der Salsa-Kurs, der philosophi- sche Salon, die Kochgruppe für den Kindergarten, die Initi- ative Eintrittskarten für die Philharmonie, die Arbeitsgrup-

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pe Fliegenbinden, der Brettspielabend, der Tauschmarkt, der Chor, die Stillgruppe, die Schweigegruppe. Und die Krabbelkinder. Habe ich was vergessen? Ich glaube nicht.“

„Den Tortentreff!“, rief jemand aus dem Publikum.

„Ja, richtig“, sagte Micha Rödel.

„Und die Diätgruppe. Die fehlt auch noch.“

„Längst aufgelöst!“, schallte es ihm entgegen. „Ziel erreicht.“

Micha Rödel blickte durch seine runde Brille irritiert in die Zuhörerschaft. Er hatte nichts gegen Scherze, aber sie mussten von ihm kommen.

„Wer mich kennt“, sagte er dann, „ – und das dürften die meisten sein –, weiß, wie sehr ich es bedauere, wenn diese Gruppen hier nicht mehr stattfinden können.“

Als gelerntem Deutschlehrer war Dickau die kleine gram- matische Unstimmigkeit nicht entgangen. Rödel hätte

„dass“ statt „wenn“ sagen oder den Konjunktiv verwenden müssen, je nachdem, wie entschieden die Angelegenheit schon war. Vielleicht war das Absicht. Rödel fuhr fort:

„Ich muss aber fairerweise sagen, dass uns die Kirchenge- meinde damals jede Nutzung des Hauses mit dem Hinweis gestattet hat, es sei eine Übergangsregelung, bis die Kirche das Haus selbst braucht. Strenggenommen dürfen wir uns also nicht empören, dass es uns weggenommen wird, son- dern wir müssen uns bedanken, dass wir es so lange mitbe- nutzen durften.“

Sturm der Entrüstung. Orkan der Empörung. Micha Rödel gab das Wort an Pfarrer Leisegang weiter, der aber weder die Autorität besaß, den Protest zum Schweigen zu bringen, noch die Stimmgewalt, die Protestierer zu übertönen. Da stand der Grüne auf, ging zum Eingang und knipste das Licht aus. In die überraschte Stille hinein sagte er: „So, Herr Leisegang, jetzt können Sie ihr Angebot unterbreiten.“

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Der Pfarrer räusperte sich und kündigte mit monotoner Stimme an, wenigstens einige der obdachlos gewordenen Gruppen könnten eventuell Räume im neuen Gemeinde- haus nutzen. Und vielleicht wäre es ja auch möglich, abends in den Kindergarten nebenan auszuweichen.

„Und dann solln wir vom Tortentreff auf die kleenen Stüh- le da sitzen? Ick gloob’s nich!“, rief aufgebracht eine Frau in die Dunkelheit und erntete schallendes, anerkennendes Gelächter.

Es gab noch zahlreiche weitere Einwände, „das bei einem Vorhaben übliche Begleitgegrummel“, wie Rödel sich ausdrückte; sie richteten sich gegen den Baulärm in der Umbauphase, gegen den Verkehr, der durch das Bringen und Abholen der Tagesstättengäste verursacht würde, gegen den Parkplatzbedarf der Mitarbeiter in der ohnehin schon angespannten Parksituation, ja, ein Anwohner führte sogar eine drohende Geruchsbelästigung durch Essensreste und

„andere Abfälle“ ins Feld.

Für alle Argumente hatten die vier, nein, drei, – Anja Liebe- nauer verfolgte die Diskussion zwar aufmerksam, beteiligte sich aber nicht aktiv –, mehr oder weniger plausible Gegen- argumente und Lösungsvorschläge, was die Akzeptanz des Gesamtplans aber keineswegs steigerte. Im Gegenteil. Nach- dem Anja Liebenauer sich um kurz nach neun verabschiedet hatte, weil sie zur Nachtschicht ins Altenheim fahren musste, wo sie noch bis zum Ende der Umbauphase arbeitete, kippte die Stimmung ins offen Aggressive. Micha Rödel musste sich die Frage gefallen lassen, auf welcher Seite er eigentlich stehe.

Der Pfarrer, der beschwichtigend versuchte, die Tagesstätte als ein großartiges Angebot, auch und vor allem für die Eich- kamper, zu preisen, erntete nur Hohngelächter.

„Wenn wir unsere Gruppen behalten können, bleiben wir

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fit und brauchen das nicht!“, rief einer und ein anderer brummte deutlich vernehmbar: „Also ich werde meine Mut- ter da auf keinen Fall hinschicken.“

Am schlimmsten aber traf es Oliver Schönefeld.

„Herr Schönefeld, ich weiß nicht, ob Sie das mitbekommen haben, aber“ – jedes Wort betont – „wir Eichkamper wol- len das einfach nicht. Und es wird Ihnen nicht gelingen, Ihre Geschäftsidee, und nichts anderes ist es ja wohl, gegen unseren Willen durchzusetzen.“

„Berlin ist groß, alte Leute gibt es überall, suchen Sie sich doch ein anderes Haus!“

„Das kriegt er aber nicht zu so guten Konditionen!“

„Wir waren zuerst da!“

„Wir sammeln einfach in jeder Gruppe einen kleinen Bei- trag. Dann kriegt der Pfarrer von uns die Pacht.“

Und als Oliver Schönefeld für all diese Zurufe nur noch ein hilfloses Lächeln bereithielt, tönte es aus der letzten Reihe:

„Jetzt grinsen Sie doch nicht so dämlich!“

Da beendete Micha Rödel die Versammlung.

„Ich glaube, jetzt sind alle Argumente ausgetauscht“, sagte er. „Ich muss euch leider sagen, der Pachtvertrag ist bereits unterschrieben, wir können das Rad nicht zurückdrehen.

Wir können nur versuchen, konstruktiv das Beste daraus zu machen. Ich habe alle Einwände von euch notiert und schlage vor, dass wir eine kleinere Arbeitsgruppe bilden, mit je einem Vertreter aus jeder Gruppe, die das Haus nutzt, und mit allen, die sonst noch Interesse haben. Ihr könnt euch bei mir per E-Mail melden. Und wenn wir alles ge- klärt haben, treffen wir uns wieder.“

„Verrat!“, rief jemand, und in aufgebrachter Stimmung ver- ließen die Eichkamper das Gemeindehaus.

Ihr Gemeindehaus. Noch.

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Dickau war es, der ihn fand. Das hing damit zusammen, dass Dickau der erste war, der morgens mit dem Hund hi- nausging, noch vor allen anderen. Und das hing wiederum damit zusammen, dass Dickau seinen Hund noch nicht so lange hatte und er Begegnungen mit anderen Hunden vermeiden wollte. Ein bisschen lag es natürlich auch an Dickaus Schlaflosigkeit, unter der er litt, seit seine Frau ausgezogen war. Und an seiner Schaufel. Dickau hatte sich nämlich zusammen mit dem Hund eine Schaufel besorgt, mit der er die Exkremente des Hundes, sofern dieser vor Er- reichen des Waldes sein Geschäft verrichtete, aufnahm und in eine Plastiktüte entsorgte. Das machte man eigentlich nicht in Eichkamp, allen Appellen der Interessengemein- schaft zum Trotz. Als Dickau seinen Hund ganz neu hatte, hatte ihm sein Nachbar einmal vorgeschlagen, sie könnten morgens zusammen gehen, und auf dem Weg in den Wald, im Lärchenweg, hockte sich der Boxer des Nachbarn plötz- lich hin und setzte einen Riesenhaufen auf den schmalen Bürgersteig.

„Na, das hat sich aber gelohnt!“, sagte Boxers Herrchen zu- frieden, pfiff nach seinem Tier, kraulte es am Kopf, zwinker- te Dickau zu: „Schnell weg hier!“, und ging so beschwingt weiter, als habe gerade er sich erleichtert und nicht der Hund.

Dickau war zu lange hundelos gewesen. Als er Kind war, hatte es in der Familie einen Hund gegeben, aber der war schon vor vielen Jahren gestorben.

Oder sein neuer Status als Hundebesitzer war noch zu un- gewohnt für ihn: Es ekelte ihn an. Seitdem sah er zu, dass er von seinem Gang mit dem Hund vor seinem Nachbarn

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wieder zurück war, denn er wollte nicht erwischt werden mit der Schaufel.

Es war halb sechs, als Dickau und sein Hund den Wald erreichten, der Uhr nach eine halbe Stunde früher als sonst. Aber Hunde können ja die Uhr nicht lesen, und für Dickaus Hund, für den sein Herr noch immer keinen pas- senden Namen gefunden hatte, war es eine halbe Stunde später, denn heute war der letzte Sonntag im Oktober, der Tag der Umstellung auf die Winterzeit. Dickau wagte es, die Leine vom Halsband zu lösen, nachdem er sich umge- sehen hatte, ob wirklich noch niemand unterwegs war, und der Hund rannte ein Stück vor, wartete, lief zurück, rannte wieder vor und lief weiter, bis er ununterbrochen bellend neben einer ungewohnten Erhebung auf dem Waldboden stehen blieb, die Dickau in der Dunkelheit zunächst nicht einordnen konnte. Erst als er näher kam, sah er, was es war.

Da lag ein Mann im Jogginganzug auf dem Waldboden, unmittelbar vor dem Eingang zum Vereinsgelände eines Schützenvereins. Dickau dachte zuerst, er habe vielleicht einen Herzanfall erlitten und bräuchte Hilfe, er beeilte sich mit den verhalten schnellen Schritten eines Menschen, der weiß, dass er helfen muss, aber nicht weiß wie. Aber als er den Mann erreicht hatte, sah er, dass er tot war. Nein, das stimmt nicht ganz. Dickau war kein Arzt und er wagte es nicht, den Mann anzufassen, obwohl dessen linkes Hand- gelenk gut erreichbar auf dem Bauch des toten Körpers lag.

Aber unter der Hand hatte sich ein riesengroßer dunkler Fleck gebildet – es war wie im „Tatort“ und doch wieder ganz anders.

Woher wussten Sie, dass er tot war, würde ihn später der Kriminalbeamte fragen, und Dickau würde verlegen wer- den, denn er konnte dem Mann ja schlecht sagen, der am

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Boden Liegende habe die Ausstrahlung eines Toten gehabt oder es habe ihm die Ausstrahlung eines lebendigen We- sens gefehlt. Er habe es einfach angenommen, antworte- te Dickau deshalb dem Kommissar, und man muss wohl korrekterweise sagen, Dickaus Annahme stimmte in diesem Fall mit den Tatsachen überein, ohne dass aus dem einen das andere zwingend gefolgt wäre.

Dickau, obwohl sonst eher bedächtig und ein wenig zöger- lich in seinen Handlungen, tat ohne weiteres Nachdenken das, was wohl die meisten in seiner Situation getan hätten:

Er nahm den Hund wieder an die Leine, zog sein Handy aus der Tasche und wählte den Notruf.

Erstaunlich schnell war die Polizei zur Stelle, dazu ein Not- arztwagen. Viel eher hätte Herr König beziehungsweise ein Nachfolger es aus dem Kiefernweg auch nicht geschafft, dachte Dickau, den hätte man ja erst noch wecken müssen.

Im Kiefernweg gab es früher, als Dickau noch Kind war, eine Ein-Mann-Polizeistation, und soweit Dickau sich erin- nerte, war es immer nur Herr König, der dort seinen Dienst tat. Vermutlich war die Station dann mit dessen Pensionie- rung geschlossen worden.

Sie waren zu dritt gekommen, zwei Uniformierte und ein etwa 45-Jähriger in Zivil, mit grauen Locken und sym- pathischen Augen. Dickau nannte ihn bei sich sofort den Kommissar, und dieser benahm sich auch, als sei er derjeni- ge, der das Sagen hatte.

Dickau mochte keine Toten, jedenfalls nicht an Stellen, wo sie nicht hingehörten. Gegen Friedhöfe hatte er nichts einzuwenden, im Gegenteil. Das waren glückliche Stunden gewesen, wenn er mit Barbara über einen Friedhof ging und sie gemeinsam die Bepflanzungen und die Grabstei- ne betrachteten und gemeinsam ihre Schlüsse zogen über

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die Toten und die Hinterbliebenen. Einmal, nicht auf dem Friedhof an der Heerstraße, sondern in Spandau hatten sie ein Grab entdeckt, deren Bewohner ihre Vornamen trugen;

Manfred und Barbara, sie waren am selben Tag gestorben.

Dickau und seine Frau waren berührt, aber nüchtern ge- nug, sich nicht zu grausigen Spekulationen über ihr eigenes Ende hinreißen zu lassen. Der Nachmittag war Dickau so- gar rückblickend in besonders schöner Erinnerung, weil er damals eine tiefe Vertrautheit und Zusammengehörigkeit zu Barbara empfunden hatte. Um ehrlich zu sein, Dickau war seit dem Auszug seiner Frau schon einige Male wie- der auf dem Friedhof „In den Kisseln“ gewesen, hatte das Grab aufgesucht und sich davor auf eine Bank gesetzt. Vor wenigen Wochen erst hatte er den Efeu auf dem Grab vom herabgewehten Laub der umstehenden Bäume befreit, und an seinem Hochzeitstag hatte er sich nur mühsam zurück- halten können, dort einen Strauß Rosen abzulegen.

Niemals hätte er jemandem von diesen Ausflügen erzählt, aber die Besuche bei den beiden fremden Toten verschaff- ten ihm Frieden, ohne seinen Schmerz zu verleugnen, heil- samer als an so vielen anderen mit guten Erinnerungen behafteten Orten aus der Zeit mit Barbara, da sie beide glücklich miteinander gewesen waren.

Die Polizisten begannen, mit rot-weißem Plastikband eine weiträumige Absperrung um den am Boden liegenden Kör- per vorzunehmen; sie knüpften sie am Zaun zum Sport- platz an und mussten das Band dann, mangels einer an- deren Befestigungsmöglichkeit, über die ganze Breite des Weges führen, um es um zwei Bäume auf der anderen Sei- te zu wickeln. Wer nun hier entlang wollte, musste durch den Wald ausweichen. Dickau stand unschlüssig außerhalb

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der Absperrung und wartete. Ihm wurde langsam kalt und er wollte nach Hause; nachdem er nun das Nötige in die Wege geleitet hatte, hätte er doch eigentlich wieder gehen können. Aber gleichzeitig fühlte er sich, so lächerlich ihm das selbst vorkam, in gewisser Weise verantwortlich für das Geschehen, einzig und allein deshalb, weil er den Toten ge- funden und die Polizei gerufen hatte. Als nun aber auch der Hund begann unruhig zu werden, beschloss Dickau, sich beim Kommissar abzumelden. Er fasste die Leine kürzer und überlegte gerade, ob er über das Band steigen – was sicher besser aussah – oder sich bücken und es unterqueren sollte – was den Vorteil gehabt hätte, die Leine weiter hal- ten zu können und nicht umgreifen zu müssen –, da kam der Kommissar auf ihn zu. Er stellte sich mit Brinkmann vor und notierte sich Dickaus Namen und Adresse.

„Kannten Sie den Toten?“, fragte er dann beiläufig. Kann man einen Toten kennen, schoss es Dickau durch den Kopf, aber wie hätte die Frage sonst lauten müssen? Kann- ten Sie den Inhaber dieses Körpers, als er noch darin wohn- te? Dickau riss sich zusammen.

„Kennen ist zu viel gesagt. Er heißt Oliver Schönefeld, wohnt im Dauerwaldweg und hat vorgestern Abend auf einer Versammlung im Eichkamper Gemeindehaus seine Pläne vorgestellt, daraus eine Altentagesstätte zu machen.

Abgesehen von diesem Freitagabend hatte ich ihn noch nie gesehen, obwohl er auch in Eichkamp wohnt und hier zu joggen scheint.“

Der Kommissar hob ein wenig die Augenbrauen.

„Sie wollen jetzt sicher nach Hause gehen“, sagte er mit Blick auf den Hund, der an der Leine zu zerren begann.

„Ich komme nachher noch einmal bei Ihnen vorbei. Es kann zehn werden.“

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