9 Funktionenreihen
Die wichtigsten, in den Anwendungen auftretenden Funktionen lassen sich alsPo- tenzreihen der Form P∞
n=0an(x−x0)n, den sog. Taylor-Reihen darstellen. Diese Entwicklung liefert eine M¨oglichkeit, um Funktionen wie z.B.ex, sinx, tanx,√
x, lnx oder arctanxexplizit zu berechnen, indem nur die Grundrechenoperationen +− ∗/ angewendet werden. Dar¨uber hinaus ist es f¨ur die Anwendungen wichtig, dass f¨ur gegebene, gegebenenfalls komplizierte Funktionen N¨aherungsformeln zur Verf¨ugung stehen.
Anwendungsbeispiel 9.1 (Scheinwerferregulierung).
Bei der Einstellung von Scheinwerfern muss die H¨ohe des Abblendlichts laut Gesetz ¨uber eine Entfernung von10mum eine vorgegebene H¨oheHopt= 0.1m abnehmen. Aus dieser Vorgabe ergibt sich f¨ur die Hell-Dunkel-Grenze eine Zielneigung der Scheinwerfer durchβab= arctanH10opt ≈0.009999=0.5729b ◦ .
Abb. 9.1.Geometrische Anordnung der beiden Messstrahlen
Da der aktuelle Neigungswinkel β der Scheinwerfer nicht direkt ermittelbar ist, wird er optisch ¨uber die Messung zweier Distanzen d1 undd2 bestimmt.
Die beiden gemessenen Distanzend1 undd2 ergeben sich in Abh¨angigkeit des aktuellen Scheinwerferwinkelsβ durch
d1= H0
sin(α1+β) ,d2= H0 sin(α2+β) ,
wennα1undα2die baubedingt, vorgegebenen Neigungswinkel sind. Geht man zum Quotienten ¨uber, ergibt sich die Formel
d1
d2
=sin(α2+β)
sin(α1+β) =q(β),
Um vom Quotienten der beiden Distanzwerte auf den aktuellen Neigungswinkel βder Scheinwerfer einfach schließen zu k¨onnen, wird eine N¨aherungsformel von q(β) gesucht, die sich anschließend nach β aufl¨osen l¨asst (→Taylor-Polynom 2. Ordnung).
344 9. Funktionenreihen
9.1
9.1 Zahlenreihen
Bevor wir allgemein auf Potenz- und Taylor-Reihen zu sprechen kommen, werden zu- n¨achst Zahlenreihen und deren Konvergenzkriterien behandelt. Die Konvergenzkriterien ben¨otigen wir dann bei der Diskussion der Konvergenz der Taylor-Reihen.
Nach Kap. 6.1 bezeichnet man eine geordnete Menge reeller Zahlen (an)n∈IN=a1, a2, a3, . . . , an, . . .
alsreelle Zahlenfolge.Eine Zahlenfolge heißtkonvergent, wenn eine reelle Zahl a∈IR existiert, so dass es zu jedemε >0 einn0∈IN gibt mit
|an−a|< ε f¨ur n≥n0.
Beispiele 9.2:
Folge allgem. Glied Konvergenz
(an)n= 1,2,3, 4, . . . an=n nein (an)n= 1, 12, 13, 14, . . . an= 1
n ja: an →0
(an)n=q0, q1, q2, q3, . . . an=qn−1
f¨ur |q|<1 : an→0 f¨ur |q|>1 : divergent f¨ur q= 1 : an→1 f¨ur q=−1 : divergent (an)n= 1, 2!1, 3!1, 4!1, . . . an= 1
n! ja: an →0
(an)n=−1, 12,−13, 14, . . . an= (−1)n 1
n ja: an →0
Ubergang zu Reihen.¨ Wir betrachten die Zahlenfolge (an)n= 1, 1, 1
2!, 1 3!, 1
4!, . . . , 1 (n−1)!, . . .
mit dem allgemeinen Gliedan = (n−1)!1 .Aus den Gliedern dieser Folge bilden wir sog.Teilsummen(=Partialsummen), indem wir jeweils die ersten Glieder aufsummieren:
S1= 1 = 1
S2= 1 + 1 = 2
S3= 1 + 1 +2!1 = 2,5
S4= 1 + 1 +2!1 +3!1 = 2,66666 S5= 1 + 1 +2!1 +3!1 +4!1 = 2,70833 S6= 1 + 1 +2!1 +3!1 +4!1 +5!1 = 2,71666 S7= 1 + 1 +2!1 +3!1 +4!1 +5!1 +6!1 = 2,71804 S8= 1 + 1 +2!1 +3!1 +4!1 +5!1 +6!1 +7!1 = 2,71823
9.1 Zahlenreihen 345
Wir fassen die Partialsummen zu einer Folge(Sn)n∈INzusammen. Diese Folge gen¨ugt dem Bildungsgesetz
Sn = 1 + 1 + 1 2!+ 1
3!+. . .+ 1 (n−1)! =
n
X
k=1
1 (k−1)!. (Sn)n bezeichnet man alsReihe.
Definition: (Reihen).Sei (ak)k∈IN eine Zahlenfolge. Dann heißt
Sn=a1+a2+a3+. . .+an=
n
X
k=1
ak
einePartialsummeund die Folge der Partialsummen(Sn)n∈INheißtun- endliche Reihe(kurz:Reihe):
(Sn)n∈IN=
n
X
k=1
ak
!
n∈IN
= (a1+a2+. . .+an)n∈IN.
Bemerkungen:
(1) Oftmals beginnt die Summation einer Reihe beik= 0.
(2) Der Name des Summationsindex kann beliebig gew¨ahlt werden:
∞
X
k=0
ak =
∞
X
i=0
ai.
Beispiele 9.3:
allgem. Folgenglied Partialsumme
an =n Pn
k=1k= 1 + 2 + 3 +. . .+n an = 1
n
Pn k=1
1
k = 1 + 12+13 +. . .+n1
an =qn Pn
k=0qk = 1 +q+q2+. . .+qn an = 1
n!
Pn k=0
1
k! = 1 + 1 +2!1 +. . .+n!1 an = (−1)n 1
n
Pn
k=1(−1)kk1 =−1 + 12−13±. . .(−1)n 1n
Eine Reihe ist also die Folge der Partialsummen(Pn
k=1ak)n∈IN. Es stellt sich die Frage, ob diese Folgen konvergieren, d.h. ob
n→∞lim Sn=
∞
X
k=1
ak
einen endlichen Wert besitzt.
346 9. Funktionenreihen
Definition:
(1) Eine Reihe(Pn
k=1ak)n∈INheißtkonvergent,wenn die Folge der Par- tialsummen Sn:=Pn
k=1ak eine konvergente Folge ist. Liegt Konver- genz vor, so bezeichnet man den Grenzwert
n→∞lim Sn = lim
n→∞
n
X
k=1
ak=
∞
X
k=1
ak
als Summe der unendlichen Reihe.
(2) Eine Reihe (Pn
k=1ak)n∈IN heißt divergent, wenn sie keinen Grenz- wert besitzt.
(3) Eine Reihe(Pn
k=1ak)n∈INheißtabsolut konvergent,wenn die Par- tialsumme der Betr¨age Sn:=Pn
k=1|ak| konvergiert.
Bemerkungen:
(1) Eine konvergente Reihe besitzt stets einen endlichen, eindeutig bestimmten Summenwert.
(2) Eine absolut konvergente Reihe ist stets konvergent. Die Umkehrung gilt allerdings nicht (→Beispiel 9.14)!
(3) Eine Reihe heißt bestimmt divergent, wenn P∞
k=1ak entweder+∞ oder
−∞ist.
(4) Die Auswertung der Partialsumme als geschlossener Ausdruck ist in man- chen, seltenen F¨allen m¨oglich. Dann ist der Summenwert berechenbar. I.a.
jedoch ist der Grenzwert unbekannt und man muss Konvergenzkriterien anwenden, um die Konvergenz der Reihe zu zeigen.
Wir behandeln zun¨achst Reihen, bei denen sich die Partialsummen auswerten lassen und lernen dann wichtige Konvergenzkriterien kennen.
9.1.1 Beispiele
Beispiel 9.4.Diegeometrische Reihe
∞
X
k=0
qk= 1 +q+q2+. . .+qk+. . .
konvergiertf¨ur|q|<1 und divergiert f¨ur|q| ≥1.