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1.4 Vorgehensweise und Gliederung

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1 Einleitung

Als „Paukenschlag in der Symphonie der abendländischen Zivilisation“1 bezeichnete Wolfgang von Stromer pathetisch die Einrichtung der sogenannten Gleismühle bei Nürnberg durch den Kaufmann Ulman Stromer im Jahr 1390. Diese Gründung gilt der Forschung2 sowie der Papierindustrie3 heute als erste Papiermühlengründung im deutschsprachigen Raum. Die Vermutung der älteren Papiermühlenforschung, dass bereits um 1320 Papiermühlen bei Mainz und Köln in Betrieb waren,4 konnte Alfred Schulte glaubwürdig entkräften.5 Auch weitere Nachrichten über Papiermüh- lengründungen vor 1390 – beispielsweise in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in Ravensburg und im Jahr 1347 bei München – konnten nicht durch Quellenbelege bestätigt werden und werden daher in der aktuellen Forschungsliteratur kaum noch aufgegriffen.6 Mit einer Ausnahme konnten zudem keine neuen, stichhaltigen Indi- zien für einen vor 1390 im deutschsprachigen Raum etablierten Papiermühlenbe- trieb entdeckt werden. Hans Kälin wies in seiner Dissertation über die mittelalterli- che Papierverwendung und -herstellung in Basel auf eine mögliche Papiermühle bei Schopfheim hin, die bereits in den 1370er-Jahren in Betrieb gewesen sein könnte.7 Allerdings zieht er sogleich selbst in Zweifel, dass mit den Belegen in den Basler

1 Stromer 1990a, 15. Der gesamte Text findet sich bis auf wenige Veränderungen gleichlautend auch in Stromer 1990b, Zitat auf S.  91. Berechtigte Kritik an diesem „norimbergozentrischen Bild“ übt Irsigler 1999, 256.

2 Vgl. u. a. Bockwitz 1941a, 23; V. Thiel 1941, 48–50; Renker 1950, 40 f.; Santifaller 1953, 151; Sporhan- Krempel 1954a, 89; Sporhan-Krempel 1958/60, 161; Sporhan-Krempel/Stromer 1960, 81; Sporhan- Krempel/Stromer 1963, 188; Stromer/Sporhan-Krempel 1963, 67; Schlieder 1966, 86; Schlieder 1985, 14; Bayerl/Pichol 1986, 48; Sporhan-Krempel 1990b, 173; Sandermann 1992, 117; Stromer 1992, 297;

Stahlberg 2004, 173; Kämmerer 2009, 12; Rückert 2010, 113; P. Tschudin 2012a, 109. Das 600-jährige Jubiläum der Papierherstellung in Deutschland im Jahr 1990 wurde mit einer Ausstellung gefeiert, vgl.

den daraus hervorgegangenen Sammelband Franzke/Stromer 1990.

3 So wurde zum 600-jährige Jubiläum der Papierherstellung im Jahr 1990 ein Faksimile des Püchel von mein geslecht und von abentewr von Ulman Stromer durch den Verband Deutscher Papierfabri- ken (vdp) herausgegeben, vgl. Ulman Stromer 1990a; Ulman Stromer 1990b. Im Jahr 2015 feierte der Verband Deutscher Papierfabriken mit dem nicht ganz zutreffenden Motto „2015. 625 Jahre Papier in Deutschland. Eine Erfolgsgeschichte“ das 625-jährige Jubiläum der Papierherstellung – nicht des Papiergebrauchs – in Deutschland.

4 Vgl. Wattenbach 1896, 145; Kirchner 1909, 1935; Bretholz 1912, 17. Kritisch hingegen Santifaller 1953, 150.5 Vgl. Alfred Schulte 1932, 48f.; vgl. auch Gansen 1941, 21.

6 Zu Ravensburg vgl. K. D. Haßler 1844, 39; Gutermann 1845, 277; Hafner 1900, 8; Hafner 1908, 290 f.;

Hößle 1926a, 25–27. Vgl. dagegen Sporhan-Krempel 1953, 13; Piccard 1962, 90–95. Zu München vgl.

Rockinger 1872, 23; Bretholz 1912, 17, Anm. 8. Vgl. die Entkräftung dieser Annahme in Mitterwieser 1940, 25. Noch kritisch erwähnt in Santifaller 1953, 150.

7 Vgl. Kälin 1974, 83–87. Vgl. auch Vortisch 1983, 122 f.; Irsigler 1999, 258; Zaar-Görgens 2004, 23 f.;

Bayerl 2008, 176.

© 2018 Sandra Schultz, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110583717-001.

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Rechnungsbüchern, die den Einkauf von Papier aus Schopfheim verzeichnen, das Bestehen einer Papiermühle im Schopfheim sicher nachgewiesen ist. Denkbar seien, so Kälin, auch andere Interpretationen, beispielsweise die Deutung von Schopfheim als Beiname eines Papierverkäufers.8

1.1 Fragestellung

Wie dieses Beispiel zeigt, sind viele frühe Zeugnisse zur Geschichte der Papiermühlen nicht eindeutig zu interpretieren und werden es wohl auch künftig angesichts der dürftigen und fragmentarischen Quellenlage kaum sein. Daher kann auch die Existenz älterer Papiermühlen, zu denen Zeugnisse nicht entdeckt wurden oder gar fehlen, nie ausgeschlossen werden.9 Möglich ist allein die Feststellung, dass es sich – wie im Fall der Nürnberger Papiermühle – um den ältesten belegten Papierbetrieb handelt. Lenkt man das Augenmerk jedoch von der Jagd nach dem Erstbeleg hin zu einem Sammeln von Quellen, die eine Tiefenanalyse des Etablierungsprozesses ermöglichen, dann sind neue, fruchtbare Fragestellungen geboren. Diese Fragestellungen nehmen zum einen die Akteure der Papiermacherei in den Fokus. Wer gründete die für einen Ort älteste belegte Papiermühle? Wer betrieb die Papiermühlen, wer arbeitete darin, wie waren die Eigentums- und Besitzverhältnisse geregelt? Welche soziale und wirtschaft- liche Stellung hatten diese Personen? Konnten sie das Bürgerrecht erwerben? Waren sie mit ihrem Gewerbe in einer Zunft organisiert? Mit wem standen sie in geschäftli- cher Beziehung? Wie waren sie in das vielschichtige Beziehungsgeflecht einer Stadt eingebunden? Welche Rolle spielten Frauen in der Papierherstellung?10

Zu dieser sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Perspektive auf die involvierten Personen gehört zum anderen die Betrachtung ihrer Arbeitsmittel. Gerade im Fall der Papierherstellung, in der zur Rohstoffaufbereitung die größte mittelalterliche Maschine – das Wasserrad mit Nockenwelle – eingesetzt wurde, lohnt dieser Blick auf die Arbeitsausrüstung. Hier ist danach zu fragen, wie die Papiermühlen ausgestattet waren, welchen Wert sie auf dem Liegenschaftsmarkt hatten und welche Rechte und Pflichten mit der Nutzung der Wasserenergie einhergingen. Von der Betrachtung der Arbeitsmittel ist es drittens nur ein Schritt zu Fragen nach dem Produktionsprozess und damit zum handwerklichen Kern der Papiermacherei. Wie wurde Papier herge- stellt? Welche Arbeitsschritte umfasste die Fertigung des Produkts? Welches techni-

8 Vgl. Kälin 1974, 85. Während Kälin die Existenz einer Papiermühle bei Schopfheim letztlich in Zwei- fel zieht, ist Franz Irsigler von der Beweiskette Kälins überzeugt, vgl. Irsigler 1999, 258–260.

9 Vor diesem Hintergrund ist auch Fritz Wiedermanns Aussage, dass der Streit, welche Papiermühle die älteste auf deutschem Boden ist, noch nicht entschieden wurde, nicht korrekt, vgl. Wiedermann 1951, 58.

10 Ähnliche Fragen stellte Ende der 1930er-Jahre bereits Hans Heinrich Bockwitz, vgl. Bockwitz 1937, 930; Bockwitz 1938, 62.

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Fragestellung  3

sche Know-how wurde benötigt? Und schließlich: Wie war der Arbeitsablauf organi- siert?

Mit diesen Fragestellungen soll an die neuere Handwerksgeschichte ange- knüpft werden, die sich bereits vor einigen Jahrzehnten von dem Primat der Zunft- geschichte11 löste und bis dato vernachlässigte Aspekte des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Handwerks in den Fokus rückte. Damit erweiterte sie zudem das Spektrum der auswertbaren Quellen. Waren für eine zunftdominierte Handwerksge- schichte vor allem normative Texte wie beispielsweise Zunftstatuten von Bedeutung, wurden seit den 1970er-Jahren im Rahmen einer historischen Statistik auch serielle Quellen wie Steuerbücher und Rechnungsbücher ausgewertet.12 In jüngerer Zeit ist eine weitere Verschiebung der Perspektive zu beobachten: An die Stelle von Struktur- analysen tritt nun eine akteurszentrierte Untersuchung von Handwerk und Gewerbe, die den sozialen Stand der Handwerker, die Arbeitsbedingungen und Arbeitsmittel zu ihrem Gegenstand macht.13 Gefragt wird auch nach den für viele Handwerke kaum bekannten Produktionsprozessen sowie nach dem Lebenszyklus der Produkte.14 Diese neueren handwerksgeschichtlichen Studien beziehen dafür weitere Quellenty- pen wie Gerichtsprotokolle und Autobiographien ein und versuchen, das homogene Bild vom konservativen und innovationsscheuen Handwerk, wie es unter anderem durch Werner Sombart geprägt wurde, aufzubrechen.15 Deutlich tritt durch diese Her- angehensweise ein vielgestaltiges, heterogenes Bild des vorindustriellen Handwerks zutage. So ziale Ungleichheit innerhalb des Gewerbes und innerhalb der Zünfte, die fortgeschrittene Spezialisierung mancher Handwerke und die damit oft einherge- hende Arbeitsteilung sowie unterschiedliche Identifikation mit dem eigenen Hand- werk gehören ebenso zu diesem Bild wie die Vielfalt an Arbeitsbedingungen, -pro- zessen, -zeiten und -orten, die sich unter dem Begriff Arbeitspraxis subsummieren lassen.16 Diesen neuen Ansatz in der Handwerksforschung kann man daher als pra-

11 Vgl. hierzu Reininghaus 1986, 10; Ehmer 1998, 13–35; Reininghaus 2000, 8; Jeggle 2004, 20, 22, 29;

Brandt, 2008, 294.

12 Vgl. Abel 1978. Vgl. auch Elkar 1983, bes. 3–5; Brandt 2008, 295.

13 Vgl. Jeggle 2004, 22–33; Brandt 2008, 294–307.

14 Vgl. Reininghaus 1986, 16; Reith 1998, 12, 22–24; Jeggle 2004, 22f.

15 Vgl. Sombart 1916, 34, 36, 188–198, 211. Verkürzt dargestellt entwarf Sombart das Bild des nur für den Nahrungserwerb tätigen Handwerkers, der „in stiller Versunkenheit“ „einsame Werkschöpfung“

betrieb (Zitate auf S. 36). Vgl. auch Reininghaus 1986, 11; Ehmer 1998, 23 f.; Brandt 2008, 293; Jeggle 2004, 24.

16 Vgl. Brandt 2008, 294–307. Zur Erforschung der Arbeitspraxis vgl. Reith 1998; Reininghaus 1986, 12 f., 15–17; Ehmer 1998, 51. Die Handlungen der Akteure werden hierbei nicht als strukturalistisch- funktionalistisch festgeschrieben verstanden. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass Akteure er- gebnisoffen aus einem Repertoire an Handlungsmöglichkeiten schöpfen, somit ihre Umwelt durch ihre Handlungen verändern und ihr während und durch das Handeln Bedeutung zuschreiben, vgl.

Algazi 2000, 119; vgl. auch Algazi aufgreifend Jeggle 2004, 25.

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xeologisch bezeichnen, auch wenn er von den Autoren selbst oft nicht so genannt wird.17 Er schließt Aspekte aus der Frauen- und Genderforschung mit ein.18

Die Papierherstellung wurde bisher kaum aus der Perspektive einer allgemeinen Handwerksgeschichte betrachtet, sondern oftmals isoliert als besonderes Handwerk, ja als weiße Kunst dargestellt. Dies liegt zum einen darin begründet, dass die vormo- derne Papierherstellung bis auf wenige Ausnahmen von Papierhistorikern bearbeitet wurde, die das Papier, seine Herstellung und seinen Gebrauch zum Gegenstand einer eigenen, vergleichsweise abgeschlossenen Fachdisziplin machten. Zum anderen mag diese Isolierung mit der Geschichte der Gewerbeforschung selbst zusammenhängen.

Geht man – wie die ältere Handwerksforschung – bei der Untersuchung eines Hand- werks von seiner als umfassend angenommenen Repräsentation durch die betref- fende Zunft aus, dann muss dieser Weg für die Betrachtung der Papierproduktion versperrt bleiben, da die Papiermacher keine eigene Zunft bildeten und zudem im Mittelalter nicht zunftpflichtig waren. Deutlich voneinander zu trennen sind folg- lich – wie in der neueren handwerksgeschichtlichen Forschung üblich – die Begriffe Handwerk und Zunft.19

Weniger trennscharf werden in der Forschungsliteratur die Begriffe Handwerk und Gewerbe verwendet, auch wenn sie definitorisch durchaus voneinander unter- schieden werden.20 Die meisten Handwerksforscher verstehen unter einem Hand- werk direkt im Wortsinn eine Tätigkeit, bei der Produkte in Handarbeit hergestellt werden.21 Unter die Bezeichnung Gewerbe summiert Knut Schulz im Jahr 1999 alle Dienstleistungen; 2010 erweitert er den Gewerbebegriff um Handwerke mit stark

17 Die unter dem Begriff Praxeologie gebündelten theoretischen Ansätze, die sich mit dem Handeln von Akteuren befassen, gehen davon aus, dass das Handeln selbst seine Bedeutung hervorbringt, das heißt, dass Bedeutungszuschreibungen nur in actu vorgenommen werden, vgl. Reckwitz 2003, 282 f., 292 f.

18 So betont Christof Jeggle in seinem programmatischen Artikel, dass prinzipiell jede gewerbe- geschichtliche Studie das Potential biete, zu zeigen, wie in der Arbeitswelt durch Praktiken der Zu- gangsreglungen und Marktteilnahme die Kategorie Geschlecht hergestellt und immer wieder bestätigt werde, vgl. Jeggle 2004, 29. Vgl. auch Ehmer 1998, 44; Brandt 2008, 298.

19 Vgl. Schulz 2010, 14. Eine Gleichsetzung dieser Termini erscheint schon dann bedenklich, wenn man an die Agglomeration vieler verschiedener Handwerke in einer Zunft denkt, wie dies beispiels- weise in Basel bei der Krämerzunft der Fall war, oder an die zahlreichen Handwerke, die nicht zunft- pflichtig waren. Zur Basler Safranzunft vgl. Koelner 1935, 91 f.; Schulz 2010, 76.

20 Vgl. allgemein u. a. Reininghaus 1986; Jeggle 2004; Schulz 2010. Als konkrete Beispiele vgl. Titel und Untertitel der Dissertation von Doris Bulach: Handwerk im Stadtraum. Das Ledergewerbe in den Hansestädten der südwestlichen Ostseeküste (Bulach 2013).

21 Vgl. Schulz 1999, IX; Kaufhold 1978, 28. Kaufhold definiert Handwerk als „selbstständige gewerbli- che Tätigkeit, die a) mit der Person ihres Trägers unauflösbar verbunden ist und bei der auf der Grund- lage individueller, erlernter Handfertigkeit und umfassender Werkstoffbeherrschung produziert wird oder Dienstleistungen (unter Ausschluß von Verkehrs- und Bewirtungsleistungen) angeboten wer- den, b) eine Produktionstechnik anwendet, bei der Werkzeuge und Maschinen nur zur Ergänzung der Handarbeit eingesetzt werden“.

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Fragestellung  5

manufakturähnlichen bis protoindustriellen Zügen wie beispielsweise die Tuchpro- duktion oder die Metallverarbeitung.22 Tatsächlich kann der Begriff Gewerbe als ein Oberbegriff gebraucht werden: Jedes Handwerk ist ein Gewerbe, aber nicht jedes Gewerbe ein Handwerk.23 Die Papiermacherei, die sowohl die Fertigung eines Pro- dukts durch Handarbeit darstellt als auch manufakturähnliche Merkmale aufweist, kann somit sowohl als Handwerk als auch als Gewerbe bezeichnet werden.

Im Folgenden wird die spätmittelalterliche Papiermacherei daher nicht nur aus der Perspektive der Papiergeschichte, sondern auch aus dem Blickwinkel einer Hand- werksgeschichte untersucht. Die Besonderheiten sollen dabei selbstverständlich auch Beachtung finden, darunter vor allem, dass die Papierherstellung anders als viele andere Handwerke erstmals im 14. und 15. Jahrhundert im deutschsprachigen Gebiet in Erscheinung trat. Sie kannte im Gegensatz zu den neuen spezialisierten Handwerken, die durch eine Ausdifferenzierung beispielsweise des Metallgewerbes entstanden,24 keine Vorgänger, sondern war etwas prinzipiell Neues. Vor diesem Hin- tergrund ergeben sich folgende Fragestellungen: Wie, das heißt durch wen, kam die Papierproduktion an einen Ort? Welche Betriebsdauer, welcher ‚Erfolg‘ war den neuen Papiermühlen beschieden? Wie viele Papiermühlen entstanden in einer bestimmten Stadt? Wie waren oder wurden die Akteure in die städtische Gemeinschaft integriert?

Bei der Betrachtung der Papiermacherei als einer Novität ist jedoch immer zu beachten, dass sie nicht losgelöst von anderen Gewerbebereichen existierte. Ihre Maschinen sowie ihr Rohstoff Lumpen verbinden sie mit dem Textilgewerbe. Die Ver- wendung von tierischen Abfällen, unter anderem auch Leder- und Pergamentreste, sowie Alaun zur Leimbereitung rücken sie auf der einen Seite in die Nähe der Gerber und auf der anderen Seite in die Nähe der Pergamenter. Es ist daher auch nach dem Verhältnis der Papiermacherei zu den anderen, bereits etablierten Handwerken einer Stadt zu fragen. Welchen Anteil an Mühlwerken machten die Papiermühlen aus? In welcher Beziehung standen sie zu den anderen benachbarten Betrieben? Umfasste die Gruppe der Papiermacher vergleichsweise viele oder wenige Personen? In welche Arbeitsnetzwerke war der Papiermacher eingebettet, das heißt, wer waren seine

22 Vgl. Schulz 1999, IX; Schulz 2010, 14.

23 Ebenso versteht das Lexikon des Mittelalters das Verhältnis zwischen Handwerk und Gewerbe. Es verweist von Gewerbe direkt und ohne den Begriff zu definieren auf den Artikel Handwerk sowie auf den Artikel Handel, vgl. Lexikon des Mittelalters 1989, Bd. 4, 1420. Zum Handwerk vgl. Baum 1989b, 1910–1914.

24 Vgl. Reith 2008a, 12. Auch die vermehrte Nutzung von Wasserkraft in verschiedenen Gewerben stellte lediglich den Einsatz eines neuen Arbeitsmittels dar, vgl. Elmshäuser et al. 1993, 888–891;

Munro 2003, 234–242; Spieß 2010, 99. Nicht als neues Handwerk können beispielsweise die Drahtzie- herei, das Schleifen von Messern und Schwertern in der Schleifmühle oder das Sägen von Holz in der Sägemühle bezeichnet werden, da bereits zuvor mit Menschenkraft Draht gezogen, Messer geschlif- fen und Holz gesägt wurde.

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Zulieferer, wer seine Kunden? Welchen obrigkeitlichen Regelungen war die Papier- macherei unterworfen?

Spannend zu wissen, aber anhand der Quellenlage kaum zu ermitteln, wäre außerdem, ob das neue Gewerbe von den Betreibern der Hammer-, Schleif- und Walk- mühlen als Konkurrenz um Wasserrecht und Mühlenbesitz gesehen wurde. Bangten die Pergamenter um den Absatz ihrer Produkte? Nahm man Papiermacher gerne in das Bürgerrecht oder die Zunft auf? Spielte hierbei der Beruf überhaupt eine Rolle, solange er nicht unehrlich war? Wurden Papiermühlen und ihre Produkte überhaupt als etwas Neues angesehen? Erstaunlicherweise fehlen sowohl für den mittelalterli- chen Papiergebrauch als auch für die Papierherstellung Nachrichten, die das Urteil der Zeitgenossen über diesen zuvor unbekannten Beschreibstoff und das dazugehö- rige Handwerk spiegeln. Anders als der Buchdruck, der bereits in seiner Anfangszeit ein breites Echo der Zeitgenossen hervorrief, scheint die Papiermacherei ‚still und leise‘ etabliert worden zu sein.25 Zumindest fand eine Bewertung dieses neuen Gewer- bes keinen Widerhall in den auf uns gekommenen Zeugnissen. Aus diesem Grund ist die Frage nach der Wahrnehmung der Papierherstellung durch die anderen Hand- werke nur vereinzelt und durch indirekte Hinweise zu beantworten.

1.2 Allgemeiner Forschungsüberblick zur Papiergeschichte

Studien zur spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Papierherstellung im deut- schen Raum wurden – wie bereits erwähnt – hauptsächlich von Papierhistorikern vor- gelegt, wobei die Papiergeschichte eine eigene, außeruniversitäre Disziplin mit fach- spezifischen Arbeitsgemeinschaften, Konferenzen und Veröffentlichungen bildet.26

25 Vgl. hierzu die aktuell entstehende Studie von Carla Meyer-Schlenkrich, die sich mit Fragen des Papiergebrauchs und seiner allgemeingesellschaftlichen Auswirkungen befasst, wobei der Fokus auf dem Verwaltungsschrifttum in den beiden mittelalterlichen Großregionen Norditalien und Süd- deutschland liegt, und darin die Kapitel zur leisen Umwälzung des Papiers und zum Paukenschlag des Buchdrucks.

26 Vgl. F. Schmidt 1993; P. Tschudin 2012a, 3–14. Zu nennen ist hier unter anderem die Internatio- nale Arbeitsgemeinschaft der Papierhistoriker (IPH), die alle zwei Jahre eine internationale Tagung zur Papiergeschichte veranstaltet und das IPH Congress Book sowie die Zeitschrift IPH Paper History (vormals bis 1990 IPH Information, von 1991 bis 2001 International Paper History) herausgibt, vgl.

die Homepage der IPH: http://www.paperhistory.org (Stand 22.10.2017). Eine umfangreiche themati- sche, geographische und personelle Bibliographie zur Papiergeschichte mit Titeln bis einschließlich 1996 bieten Sobek/F. Schmidt 2003. Eine Online-Bibliographie mit 31.000 aufgenommenen Titeln bietet die Homepage des Bernstein-Projekts, vgl. http://www.memoryofpaper.eu/BernsteinPortal/

appl_start.disp (Stand 22.10.2017). Diese umfangreichen Bibliographien machen deutlich, dass das Feld der Papiergeschichte an dieser Stelle nicht einmal annähernd abgesteckt werden kann und soll.

Zu den Charakteristika und Schwierigkeiten der Papierforschung, darunter die sehr große qualitative Heterogenität der Beiträge, vgl. Bayerl 1987, 32–35.

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Allgemeiner Forschungsüberblick zur Papiergeschichte  7

Zahlreiche Überblickswerke mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung ermöglichen einen schnellen Einstieg in das Thema Papier, das mit der zunehmenden Digitalisie- rung aktueller denn je scheint.27

Beschäftigten sich bereits im 18. Jahrhundert Autoren mit der Frage, wann und von wem das Papier aus Leinenlumpen erfunden wurde,28 so liegen die Anfänge der modernen Papiergeschichtsforschung im ausgehenden 19. Jahrhundert.29 Neben der allgemeinen Geschichte des Papiers waren vor allem die Papiermühlengeschichte bestimmter Territorien30 sowie die in vormodernen Papieren enthaltenen Wasserzei- chen Gegenstand des Interesses.31 Der Schwerpunkt lag hierbei auf dem Sammeln und Zusammenstellen von Informationen.

Besonders verdient um die Katalogisierung von Wasserzeichen machte sich der Schweizer Papierhändler Charles-Moïse Briquet, der in seinem 1907 veröffentlichten Werk Les filigranes Wasserzeichen aus zahlreichen europäischen Archiven klassifi- zierte.32 Briquets Arbeiten legten den Grundstein für die Wasserzeichenforschung, wie sie im deutschen Raum von Karl Theodor Weiss in den 1920er- und 1930er-Jahren und von dessen Sohn Wisso Weiss sowie Theodor Gerardy und Gerhard Piccard seit den 1950er-Jahren weiterentwickelt wurde.33 Mit seiner im Hauptstaatsarchiv Stutt- gart aufbewahrten und in 17 Findbüchern publizierten Wasserzeichensammlung schuf Gerhard Piccard den bis heute umfangreichsten Katalog für Papiermarken.34 Seit den 1990er-Jahren werden für die Systematisierung von Wasserzeichen zuneh- mend die Möglichkeiten der Informationstechnologie genutzt und damit vormals nur im Druck zugängliche Sammlungen digital über das Internet bereitgestellt.35 Galt die

27 Zur Aktualität des (Medien-)Wechsels von Pergament zu Papier in der Forschung vgl. C. Meyer/

Schneidmüller 2015; Schneidmüller 2015, 1 f. Zu den Überblickswerken, die meist sowohl die asi- atische, die arabische als auch die europäische Papiermacherei behandeln, vgl. u. a. Hunter 1978;

Bayerl/Pichol 1986; Polastron 1999; Biasi/Douplitzky 1999; P. Tschudin 2012a. Zum Weg des Be- schreibstoffs von Asien über die arabische Halbinsel nach Europa vgl. beispielsweise Basanoff 1965;

C. Meyer/Sauer 2015. Auch essayistisch-literarische Werke widmen sich dem Thema Papier, vgl. L.

Müller 2012; Orsenna 2014.

28 Vgl. beispielsweise Beyer 1735, 90–102; Hering 1736/1937; Wehrs 1779; Breitkopf 1784; Wehrs 1788.

Vgl. auch Bockwitz 1941b, 111 f.

29 Vgl. Bockwitz 1941b, 112; F. Schmidt 1993, 10.

30 Vgl. Marabini 1894; Marabini 1896; Kirchner 1909; Kirchner 1910b; Kirchner 1911; Kirchner 1912;

Hößle 1924–1927; Hößle 1926a. Vgl. auch F. Schmidt 1993, 10–13.

31 Vgl. beispielsweise Wiener 1893; Heitz 1902; Heitz 1904; Zonghi/Zonghi/Gasparinetti 1953.

32 Vgl. Briquet 1968; Briquet 1955d.

33 Vgl. K. Th. Weiss 1926; K. Th. Weiss 1957; K. Th. Weiss 1962; W. Weiss 1962; W. Weiss 1967b; Gerardy 1956; Gerardy 1959; Gerardy 1974b; Gerardy 1984; Piccard 1952; Piccard 1956.

34 Vgl. Piccard 1961–1997. Vgl. auch Stromer 1989; Bannasch 1990, sowie die Sammelbände Rückert/

Godau/Maier 2007; Rückert/Frauenknecht 2011.

35 Für frühe Bestrebungen, Datenbanken zur Papiergeschichte und Wasserzeichenforschung anzu- legen, vgl. Muzerelle/Ornato/Zerdoun Bat-Yehouda 1989, 16; Manecke 1993. Das umfassendste Projekt ist das von 2006 bis 2009 geförderte Bernstein-Projekt, das verschiedene Wasserzeichendatenbanken

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Wasserzeichenforschung lange Zeit einerseits als Selbstzweck und andererseits als Hilfswissenschaft für das Datieren von Handschriften, so konnte sie in den letzten Jahrzehnten für neue Fragestellungen fruchtbar gemacht werden. Während Monique Zerdoun Bat-Yehouda und Evamarie Bange Papierzeichen auf den Herstellungspro- zess eines Codex beziehungsweise auf die Verwaltungspraxis von mittelalterlichen städtischen Kanzleien hin befragten, wertete Maria Zaar-Görgens die Wasserzeichen- kartei Piccards nach Distributionsräumen von lothringischem Papier aus.36

Eine auf Archivstudien basierende Erforschung der Papiermühlen und damit auch der Papiermacher setzte verstärkt in den 1950er-Jahren ein.37 Viele dieser Studien beweisen eine profunde Kenntnis der Quellen, verzichten jedoch sowohl auf eine serielle Auswertung sowie auf eine breitere Kontextualisierung und Systematisierung der Zeugnisse. Sozialgeschichtliche Fragen werden daher nur vereinzelt für manche Papiermühlenstandorte angesprochen.38 Dieses Desiderat thematisierte bereits 1961 Wolfgang Schlieder.39 In seiner 1966 veröffentlichten Arbeit über die Papierherstel- lung in Deutschland trug er die Ergebnisse der Einzelstudien daher unter wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Gesichtspunkten zusammen, betrieb selbst jedoch weitest- gehend kein Quellenstudium.40 Noch 1993 hielt Frieder Schmidt fest, dass die von Wolfgang Schlieder gestellten Fragen nur zum Teil von Papierhistorikern aufgenom- men wurden.41 Zuletzt widmete sich Maria Zaar-Görgens in zwei Aufsätzen und in ihrer Dissertationsschrift wirtschaftshistorischen Fragestellungen.42 Sie betrachtete zum einen die Verdichtung von Papiermühlenstandorten in der Champagne, Bar und Lothringen und zum anderen den Handel mit dem dort produzierten Papier. Mit Loth- ringen und den daran angrenzenden rechtsrheinischen Gebieten nahm sie neben der französischen Champagne auch den Südwesten des Reichs in den Blick.

Mit technikhistorischen Aspekten der vorindustriellen Papierherstellung im deutschen Raum befasste sich Günter Bayerl eingehend in seiner 1987 publizierten Dissertation.43 Frieder Schmidt betrachtete in seiner 1994 veröffentlichten Doktorar- beit die Papierproduktion in der württembergischen und badischen Frühindustriali-

aus mehreren Ländern vereint, vgl. http://www.memoryofpaper.eu/BernsteinPortal/appl_start.disp (Stand 22.10.2017); Stieglecker/Wenger 2009.

36 Vgl. Zerdoun Bat-Yehouda 1989; Bange 2009; Bange 2015; Zaar-Görgens 2004, 122–158.

37 Vgl. F. Schmidt 1993, 19, und den instruktiven Überblick in Zaar-Görgens 2004, 5f. Zu Forschungen über mittelalterliche Papiermühlen im südwestdeutschen Raum vgl. Kapitel 3.1.2.

38 So interessiert sich beispielsweise Gerhard Piccard für die Zunftzugehörigkeit der Basler Papier- macher, vgl. Piccard 1967.

39 Vgl. Schlieder 1961, 13.

40 Vgl. Schlieder 1966.

41 Vgl. F. Schmidt 1993, 21.

42 Vgl. Zaar-Görgens 1995; Zaar-Görgens 2001; Zaar-Görgens 2004. Zum Papierhandel vgl. auch Irsigler 2006.

43 Vgl. Bayerl 1987. Vgl. auch Anm. 179.

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Quellen  9

sierung.44 Während diese beiden Arbeiten hauptsächlich auf schriftlichen Zeugnissen basieren, führen seit den 1980er-Jahren vornehmlich italienisch-, französisch- und englischsprachige Papierforscher Materialstudien durch, die den Herstellungspro- zess vom Produkt ausgehend beleuchten.45

1.3 Quellen

Für eine sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Betrachtung der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Papierherstellung muss eine Vielzahl unterschiedlicher Quellen eingesehen werden, da Hinweise auf Papiermühlen und Papiermacher verstreut in verschiedenen Dokumenten der jeweiligen örtlichen Verwaltung enthalten sind.46 Editionen oder Regestenwerke, die für die Untersuchung der Papiermacherei relevant sind, gibt es kaum.47 Daher ist die hauptsächliche Quellenarbeit in den betreffenden Archiven zu leisten. Die Hinweise auf die Papierherstellung belaufen sich häufig nur auf eine kurze Notiz, sodass erst die Zusammenschau etlicher dieser Quellen- stellen ein Bild ergibt. Die Durchsicht möglichst vieler unterschiedlicher Archivalien ist daher zum einen nötig, um überhaupt zu Informationen über Papierer zu gelan- gen. Zum anderen ist die Analyse unterschiedlicher Quellengattungen aber auch für die Beantwortung spezifischer Fragen erforderlich. Die Kenntnis, ob und wann ein Papiermacher beispielsweise das Bürgerrecht erwarb, ist am leichtesten durch städ- tische Bürgerbücher zu gewinnen. Informationen zur Zunftzugehörigkeit lassen sich naturgemäß am ehesten in den betreffenden Zunftakten greifen. Für eine Untersu- chung der Vermögensverhältnisse bietet sich die Auswertung von Steuerbüchern an.

Der Kauf einer Papiermühle sowie Rentengeschäfte lassen sich in Fertigungsurkun- den finden. Diverse Hinweise auf Papiermacher, ihre geschäftliche und soziale Ver- netzung – vor allem jene, die problematisch wurden – liefern Gerichtsbücher. Für die vorliegende Arbeit wurden vor allem die Bestände des Staatsarchivs des Kantons Basel-Stadt und des Stadtarchivs Ravensburg herangezogen. Auf die Überlieferungs- situation in diesen beiden Archiven wird in Kapitel 3.1.1.1 und 3.1.2 näher eingegan- gen.48

44 Vgl. F. Schmidt 1994.

45 Vgl. Kapitel 2.1.1 und 2.1.2.

46 Vgl. Staehelin 1982.

47 Am ehesten wurden Quellen zu Papiermachern in Editionen zum Buchdruck aufgenommen. Vgl.

für Basel Stehlin 1888; Stehlin 1889; Stehlin 1891; Die Amerbachkorrespondenz 1942. Eine von Hans Kälin 1974 angekündigte Quellenedition zur Basler Papiergeschichte wurde bisher nicht publiziert, vgl. Kälin 1974, 289.

48 Für die Transkriptionen gilt: (1) Großbuchstaben finden sich lediglich am Satzanfang und bei Ei- gennamen, (2) Abkürzungen werden aufgelöst, (3) kurzes und langes i sowie rundes und spitzes u werden nach ihrem Lautwert unterschieden, das heißt i und u nur vokalisch, j und v nur konsonan-

(10)

Mittelalterliche und frühneuzeitliche Herstellungstechniken von Papier wurden im europäischen Raum hingegen selten schriftlich festgehalten.49 Es gibt daher kaum Beschreibungen, die Genaueres über den Produktionsprozess und die einzelnen Arbeitsschritte verraten. Die Papiermacher sahen wohl nicht nur keine Notwendig- keit, ihre Handwerkstechniken schriftlich festzuhalten, sondern haben in Hinblick auf mögliche Konkurrenten sogar versucht, sie geheim zu halten.

1.4 Vorgehensweise und Gliederung

Da es für das europäische Mittelalter und bis hinein in die Frühe Neuzeit kaum zeit- genössische Beschreibungen des Herstellungsprozesses gibt, muss sich der Blick auf das Material selbst richten. Die direkten Zeugen ihrer Herstellung sind zweifellos die Papiere selbst. Durch die vergleichsweise guten Überlieferungschancen von Papieren in Archiven und Bibliotheken ist die Materialbasis deutlich reicher als beispielsweise diejenige für eine Untersuchung des Schuhmacher- oder gar des Bäckerhandwerks.50 Eine Untersuchung des Beschreibstoffs anstatt des Texts stellt jedoch die meisten klassisch ausgebildeten Historiker vor einige Hindernisse:51 Mit welchem Ansatz und mit welchem methodischen Vorgehen kann eine solche Untersuchung gelingen?

Die Fokussierung auf das Material haben die Restaurierungswissenschaften den Geschichtswissenschaften voraus.52 Mit dem Ziel, Kulturgut zu erhalten und gegebe-

tisch verwendet, (4) die Zahlzeichen wurden gemäß der Vorlage, also entweder römisch oder ara- bisch, übernommen.

49 Vgl. Ornato et al. 1999a, 166. Für den arabischen Raum sind zwei Texte zur Herstellung von Papier bekannt, die von der Forschung in das 11. beziehungsweise 13. Jahrhundert datiert werden. Im elften Kapitel der dem ziridischen Prinzen Ibn Bādīs (1007–1061) zugeschriebenen Abhandlung über die Schreib- und Handschriftenkunde Umdat al Kuttāb wird beschrieben, wie man Papier aus Hanf her- stellt. Das Werk, das in der Papierforschung seit der Edition des entsprechenden Auszugs und seiner Übersetzung ins Deutsche bei Karabacek 1888, 84–112, viel beachtet wurde, liegt auch komplett ins Englische übersetzt vor, vgl. Levey 1962, 13–50, hier 39–41. Auf dem aktuellen Forschungsstand ist die Übersetzung des Kapitels über die Papierherstellung ins Französische bei Irigoin 1993, 277–280. Der zweite Text stammt aus dem Jemen des 13. Jahrhunderts. Das Werk al-Mukhtard fî funûn min al-ṣunà, das dem Rasuliden-Herrscher al-Malik al-Muzaffar zugeschrieben wird, berichtet von der Papierher- stellung aus dem Rindenbast des Feigenbaums. Für den kommentierten arabischen Text und eine Übersetzung ins Englische vgl. Gacek 2002. Für weitere Informationen aus Schriftquellen über die Rohstoffe und Techniken der Papierherstellung im islamischen Einflussbereich vgl. Humbert 2001, 45 f., sowie die im Entstehen begriffene Studie von Carla Meyer-Schlenkrich zum Papiergebrauch mit einem Kapitel zur Aufmerksamkeit für das Papier in der islamischen Welt des Mittelalters (s. Anm. 25).

50 Peter Tschudin gibt an, dass Papiere zusammen mit Keramik die am häufigsten überlieferten Re- alien sind, vgl. P. Tschudin 2012a, 3.

51 Vgl. Keupp/Schmitz-Esser 2012, 1–8.

52 Wenn hier von Restaurierungswissenschaften die Rede ist, dann ist ausdrücklich nur die Restau- rierung von sogenannter ‚Flachware‘ gemeint, das heißt Papyrus, Pergament und natürlich vor allem

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Vorgehensweise und Gliederung  11

nenfalls den Originalzustand wieder herzustellen,53 müssen Restauratoren zunächst feststellen, wie das Artefakt beschaffen ist und welche späteren Veränderungen oder Schäden zu konstatieren sind.54 Seit kurzem rücken aber auch in den Geschichtswis- senschaften die Dinge unter einem neuen Blickwinkel wieder in den Fokus. Mit dem 2012 publizierten Vorschlag für eine „Objektgeschichte in drei Schritten“ wenden sich Keupp und Schmitz-Esser von der bloßen Beschreibung der Sachüberlieferung, wie sie die Realienkunde des 19. Jahrhunderts betrieb, ab und reihen sich in eine rezente kulturwissenschaftliche Strömung ein, die mit Andreas Reckwitz als „Materialisie- rung der Kultur“55 beschrieben werden kann.56 Weit davon entfernt, ein homogenes Theorieangebot zu präsentieren, versammelt sie unter dem Schlagwort material turn57 verschiedenste Ansätze. Gemein ist ihnen allen, dass sie das Primat des Immateriel- len – Ideen, Repräsentationen, Vorstellungen – zugunsten des Materiellen brechen.

Im Fokus stehen damit – inzwischen bereits seit knapp drei Jahrzehnten – die Dinge.58 Diese neue Perspektivierung bedeutet jedoch keine Rückkehr zum klassischen Materi- alismus: Noch immer eingefasst in ein kulturwissenschaftliches Paradigma versucht die Hinwendung zu den Sachen, den Gegensatz zwischen Materialismus und Kultu- ralismus aufzuheben.59 Sie wehrt sich daher gegen die Vorstellung eines Unter- und

Papier. Vgl. beispielsweise die Zeitschrift Journal of Paper Conservation, hg. von der Internationalen Arbeitsgemeinschaft der Archiv -, Bibliotheks- und Graphikrestauratoren, die sich mit der Restaurie- rung von Papierartefakten beschäftigt. Vgl. auch allgemein Trobas 1980; Trobas 1987.

53 In den letzten Jahren ist jedoch ein Wandel eingetreten: Wichtiger als die Wiederherstellung des Urzustands ist die Konservierung des Objekts mit seiner ‚Patina‘, das heißt mit den Spuren, die die Zeit und die Verwendung hinterlassen haben, vgl. hierzu Klinke/C. Meyer 2015, 135, 169 mit Anm. 104.

54 Für die Bewertung von Gebrauchsspuren beziehungsweise Gebrauchsschäden existiert seit 2012 ein Katalog der Schadensbilder, der in mehrjähriger Arbeit von der Hochschule der Künste in Bern entworfen wurde. Dieser in Fächerform angelegte Katalog soll Restauratoren in ihrer praktischen Ar- beit beim Bewerten, Beschreiben und möglicherweise Beheben von Schäden an einem papierenen Objekt helfen, vgl. Dobrusskin/Mentzel 2012. Vgl. auch Klinke/C. Meyer 2015, 146.

55 Reckwitz 2014.

56 Vgl. Keupp/Schmitz-Esser 2012, 9.

57 Zur Verwendung des Schlagworts material turn vgl. Reckwitz 2014, 20. Dem Begriff material turn, nicht aber der Hinwendung zu den Dingen skeptisch gegenüber stehen Elias et al. 2014a, 7, und H. P.

Hahn/Eggert/Samida 2014, 1.

58 Die Untersuchung der materiellen Kultur stellt nur einen Bereich kulturwissenschaftlicher Forschung dar, allerdings einen aktuell stetig wachsenden. Vgl. hierzu u. a. Appadurai 1986; Kohl 2003; Tietmeyer et al. 2010; Balke/Muhle/Schöning 2011; H. P. Hahn 2014; Samida/Eggert/H. P. Hahn 2014; H. P. Hahn 2015. Deutlich wird diese Entwicklung zudem an zwei im Jahr 2011 in Heidelberg respektive in Hamburg eingerichteten Sonderforschungsbereichen. Während sich der Hamburger SFB 950 von materiell-praktischer Seite Manuskriptkulturen in Asien, Afrika und Europa nähert, versucht der Heidelberger SFB 933, die Bedeutung der Materialität für die Rezeption schrifttragender Artefakte zunächst theoretisch zu greifen. Vgl. hierzu den grundlegenden Sammelband des SFB 933 Meier/Ott/

Sauer 2015.

59 Vgl. Reckwitz 2014, 13.

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eines Überbaus, gleich ob in klassisch-marxistischer Sicht die Kultur der Überbau und die materielle Welt der Unterbau ist oder – umgekehrt – die Kultur das Eigentli- che darstellt und die Dinge nur materialisierte Repräsentationen des Geistes sind.60 Um diese Dichotomie aufzulösen, soll die Interaktion von Menschen und Dingen, das heißt das Handeln an, mit und durch Artefakte in den Blickpunkt rücken. Der mate- rial turn ist daher eng mit der Idee eines practice turn verbunden.61 Dieses Konglome- rat theoretischer Ansätze geht generell davon aus, dass Bedeutungszuschreibungen nur in actu und dort häufig unbewusst vorgenommen werden.62

Geht man davon aus, dass Artefakte und damit auch Papier Kristallisations- punkte vergangener Praktiken sind, dann können sie zu ‚sprechenden Zeitzeugen‘

werden. Da jedes Blatt Papier eine „praktisch hergestellte Materialität“63 aufweist, stellt sich die Frage, ob, und wenn ja, wie die Handlungen, die zur Entstehung eines Papierbogens beigetragen haben, in diesem eingeschrieben sind. Als Mittel der Befra- gung bietet sich hierzu die Artefaktanalyse an.64 Sie stellt einen Zugang zur mate- riellen Überlieferung dar, indem sie zunächst Daten zum Erscheinungsbild und zu den physischen Eigenschaften eines Gegenstands sammelt. In einem nächsten Schritt wird versucht, die sich über Zeit und Raum wandelnden Herstellungspraktiken, Ver- wendungsweisen und Bedeutungszuschreibungen nachzuvollziehen.65 Für die vor-

60 Vgl. Reckwitz 2014, 15 f.; H. P. Hahn/Eggert/Samida 2014, 8.

61 Vgl. Reckwitz 2003; Hörning 2004; Hörning/Reuter 2004; Reichardt 2007; Elias et al. 2014; Reck- witz 2014.

62 Vgl. Reckwitz 2003, 292.

63 Hörning/Reuter 2004, 12.

64 Jeder Bogen Papier hat ein erstaunlich wechselreiches Leben hinter sich. Seine Ursprünge hat er in frischen Flachs- oder Hanffasern, die erst vermittelt über Textillumpen zu Papier werden. Auch ein bereits beschriebenes Blatt kann in andere Nutzungskontexte geraten, indem es beispielsweise als Makulatur verwendet wird. Vgl. zur Objektbiographie und zum häufig festzustellenden Wandel der Nutzung Henning 2014, 234. Für den langen Weg der Flachsfasern zum Schreib- und schließlich zum Toilettenpapier siehe auch die literarische Verarbeitung dieses Themas in Grimmelshausen 1984, 514–522, vgl. auch Anm. 340. Die Artefaktanalyse, auch Artefakt- oder Objektbiographie, stellt die umfassendste Herangehensweise dar, da sie der Material(itäts)analyse die Topologie und die Praxeo- graphie zur Seite stellt, vgl. Focken et al. 2015, 132 f. Während Markus Hilgert diese Form der metho- dischen Herangehensweise nur kurz erwähnt, vgl. Hilgert 2010, 115–117, bietet Manfred Lueger eine detaillierte Vorgehensweise, vgl. Lueger 2000, 140–186. Auch die Untersuchung der „Geschichte des Objekts“, wie sie Keupp und Schmitz-Esser anregen, hat dieselbe Stoßrichtung, vgl. Keupp/Schmitz- Esser 2012, 11. Zur Problematik eines Materialitäts-Profilings, wie es Markus Hilgert vorschlägt (vgl.

Hilgert 2010, 115) siehe Meier/Focken/Ott 2015, 27 f. Die Autoren wenden ein, dass der Begriff Profiling den Anspruch evoziere, sämtliche Daten zu einem Objekt zu erfassen. Diesem Anspruch zu genügen sei nicht möglich, wie Erfahrungen aus der Archäologie zeigen. Vgl. auch Gosden/Marshall 1999.

65 Vgl. Focken et al. 2015, 132.

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Vorgehensweise und Gliederung  13

liegende Arbeit stellt sich folglich die Frage, welche Informationen ein Blatt Papier über die Papierherstellung als kulturelle und historische Praktik preisgibt.66

Unabdingbare Voraussetzung für eine Artefaktanalyse ist die Kontextualisierung des Gegenstands. Ohne ein In-Beziehung-Setzen zu anderen Objekten, zu Abbildun- gen, aber auch zu Texten über das Objekt, können längst vergangene Praktiken nicht eruiert werden. Daher bietet sich auch für die Betrachtung von Herstellungsspuren im Papier eine Kombination von Materialanalyse und Texten über das Material an.67 Für die Handpapiermacherei ist dies vor allem die technologische Literatur des 18. Jahr- hunderts.68 Von der Rohstoffauswahl bis hin zum Leimen und Glätten des Papiers sollen aus diesen Texten die Informationen gefiltert werden, die etwas darüber verra- ten, welcher Arbeitsschritt welche Spur im Papier hinterlassen haben könnte. Neben diesen Interpretationsangeboten sollen auch die Materialanalyseverfahren vorgestellt werden, mit deren Hilfe die Spuren im Papier überhaupt ermittelt werden können.

Im ersten Hauptteil dieser Arbeit soll demnach das theoretische Rüstzeug für eine praktische Materialanalyse historischer Papiere bereitgestellt werden, mit dem Ziel, technikgeschichtliche Fragen zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Papierher- stellung zu beantworten.

Die Suche nach Herstellungsspuren und ihre anschließende Interpretation ent- sprechen einer wissenschaftlichen Herangehensweise, die nach Carlo Ginzburg dem Indizienparadigma69 unterliegt: So wie ein Jäger von einer Fährte auf das Tier schließt, das diese Spuren hinterlassen hat, so schließt beispielsweise der Kunsthistoriker von einem kleinen malerischen Detail auf die Autorschaft eines bestimmten Malers.70 Die Geschichtswissenschaft kann ebenfalls als Indizienwissenschaft bezeichnet werden, die von heute noch erhaltenen Spuren auf vergangene Ereignisse schließt. Selbst- verständlich kann es sich dabei immer nur um eine Annäherung handeln, um eine mögliche und plausible Interpretation dessen, was man als Spur klassifiziert hat.

66 Die Betrachtung beschränkt sich dabei auf den Herstellungsprozess und umfasst daher nicht das gesamte Leben eines Objekts, das auch seinen Gebrauch umfassen würde.

67 Vgl. auch Meier/Focken/Ott 2015, 27. Auch wenn nicht davon auszugehen ist, dass Texte über Ob- jekte eins zu eins das physische Ding widerspiegeln, kann bei der kombinierten Analyse und Interpre- tation das eine als Korrektiv des anderen fungieren.

68 Vgl. Kapitel 2.2. Anders als bei der Analyse von Gebrauchsspuren, die in Texten ungleich schwie- riger zu greifen sind und bei denen daher das Papier als Ausgangspunkt dienen muss, bietet sich hier diese Vorgehensweise an. Vgl. zu den Gebrauchsspuren Klinke/C. Meyer 2015, 137–148. Der von Klinke und Meyer vorgeschlagene Dreischritt (1) sehen lernen – (2) beschreiben – (3) interpretieren ist für eine Analyse von Herstellungsspuren in dieser Reihenfolge nicht gangbar. Um sehen zu lernen, muss ein gewisses Vorwissen vorhanden sein. Dieses kann jedoch nur entweder aus eigenen langjährigen praktischen Erfahrungen oder aber aus Texten über die Papierherstellung gewonnen werden. Dieses Vorgehen wurde bereits erfolgreich von anderen Papierhistorikern erprobt, vgl. beispielsweise Zer- doun Bat-Yehouda 1991, 227.

69 Ginzburg 1983, 84.

70 Vgl. Ginzburg 1983, 62.

(14)

Die Gleichung, dass eine bestimmte Spur immer auf ein einziges Phänomen zurück- zuführen ist, kann allein dann schon keine Gültigkeit beanspruchen, wenn man die Kontingenz von Erkenntnis und Erfahrung im Allgemeinen bedenkt.71 Bei der Spuren- suche im Papier ist daher immer zu beachten, dass ein Phänomen mehrere Ursachen haben kann und die Suche nach Indizien nicht zu einem Wissen darüber führt, wie es gewesen ist, sondern darüber, wie es gewesen sein könnte.

Doch wie könnte es gewesen sein? Wie lässt sich anhand von Spuren im Papier der Herstellungsprozess rekonstruieren? Was sagen beispielsweise die Kett- und Ripplinien über das Sieb aus? Woran erkennt man, ob das Papier geleimt wurde? Wie lässt sich die Beschaffenheit des Rohstoffs überprüfen? Und welche Fehler können beim Papierschöpfen unterlaufen?

Auch wenn diese Fragen als zentral für die Kenntnis der Papierherstellung erscheinen, so sind Materialanalysen in der Papiergeschichtsforschung keineswegs allgemein etabliert.72 Zum einen sind oftmals schlichtweg die technischen Voraus- setzungen für eine Materialanalyse nicht gegeben.73 Zum anderen fehlt es jedoch teil- weise an Interpretationsangeboten, die es ermöglichen, die erhobenen Daten (kultur-) historisch zu deuten. Dennoch haben bereits mehrere Papierhistoriker versucht, unterschiedliche Aspekte der Materialität von Papier zu untersuchen und zu inter- pretieren – und das Interesse an den materiellen Eigenschaften des Papiers wächst beständig. Die Studien, die für die vorliegende Arbeit besonders instruktiv waren, werden zusammen mit bereits existierenden Beschreibungsformularen und den Methoden der Materialanalyse im ersten Abschnitt vorgestellt (Kapitel 2.1). Es folgt im zweiten Abschnitt eine Einführung in die Texte, die zur Analyse von Herstellungs- spuren herangezogen wurden (Kapitel 2.2). Der dritte Abschnitt erläutert schließlich der Chronologie des Produktionsprozesses folgend, welche Merkmale im Papier auf einen bestimmten Arbeitsschritt schließen lassen (Kapitel 2.3). Die Ergebnisse dieses Kapitels finden sich in einer tabellarischen Zusammenfassung und in einem Entwurf für ein Beschreibungsprotokoll im Anhang wieder (Anhang III und IV).

Während der erste Hauptteil der Arbeit einen Ansatz zur Beantwortung von technikhistorischen Fragen an die Papierherstellung liefert, befasst sich der zweite Hauptteil mit sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Fragestellungen. Hierfür soll die Etablierung der Papiermacherei als ein neues Gewerbe in einer Stadt anhand der

71 Zum Kontingenzbegriff vgl. Luhmann 2008, 152: „Der Begriff wird gewonnen durch Ausschlie- ßung von Notwendigkeit und Unmöglichkeit. Kontingent ist etwas, was weder notwendig noch un- möglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist.“ Für einen konzisen Überblick über den Begriff der Kontingenz vgl. auch das Vorwort in Graevenitz/Mar- quard 1998, XI–XVI.

72 Vgl. Bresc/Heullant-Donat 2007, 345.

73 Auch diese Arbeit bleibt aus mehreren Gründen in weiten Teilen eine Trockenübung, da sie lediglich auf die zu untersuchenden Spuren aufmerksam machen, jedoch selbst keine serielle Materialanalyse leisten kann.

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Vorgehensweise und Gliederung  15

spätmittelalterlichen Papiermühlengründungen im südwestdeutschen Raum unter- sucht werden. Unter diesem Raumbegriff wird mit Jürgen Sydow der schwäbisch-ale- mannische Raum gefasst, das heißt die Oberrheinregion mit dem Elsass, die heutige deutschsprachige Schweiz, das heutige Baden-Württemberg und der heutige bayeri- sche Regierungsbezirk Schwaben zwischen Iller und Lech.74 Dieser Raum weist für das 15. Jahrhundert im Vergleich zu anderen deutschsprachigen Gebieten, aber auch im Vergleich zu anderen Regionen des Reichs nördlich der Alpen mit 17 Orten eine große Dichte an Papiermühlenstandorten auf: Knapp ein Viertel der Orte im Reich, in denen vor 1500 Papierbetriebe errichtet wurden, lagen im deutschen Südwesten.75 Auch Viktor Thiel verortet einen Großteil der spätmittelalterlichen Papiermühlen- gründungen im alemannischen Raum.76 Der gesamte südwestdeutsche Raum gilt – mit Ausnahme von Nürnberg – in der deutschen Papierforschung zudem als die Region, in der sich die Papierherstellung zuerst und auch am nachhaltigsten etab- lierte.77 Weitere Schwerpunkte der Papierproduktion im nordalpinen Reich sind in den linksrheinischen französischsprachigen Gebieten sowie in der Umgebung von Brüssel zu lokalisieren. Die Geschichte der dortigen Papiermühlen wurde jüngst bereits von Maria Zaar-Görgens beziehungsweise Inge Van Wegens aufgearbeitet.78 Einige wenige Papiermühlengründungen vor 1500 konzentrierten sich in norddeut- schen Gebieten, im heutigen Bayern, in der heutigen französischsprachigen Schweiz sowie – vor allem gegen Ende des 15. Jahrhunderts – in Böhmen und Schlesien.

74 Vgl. Sydow 1987, 10 f. Dieser erweiterte Raumbegriff vom deutschen Südwesten bietet die Mög- lichkeit einer heutige Staatsgrenzen übergreifenden Untersuchung. Dieses Vorgehen besitzt gegen- über anderen Definitionen vom deutschen Südwesten den Vorteil, dass sie nicht von den Grenzen des heutigen Bundeslands Baden-Württemberg ausgeht, sondern einen durch Sprachgrenzen kons- tituierten Kulturraum annimmt. Vgl. hierzu auch den Sammelband von Fleith/Wetzel 2009, mit der Karte auf S. 468 f.; Kleinschmidt 1982, 11–17. Die Gleichsetzung vom deutschen Südwesten mit Baden- Württemberg in einer engen Definition findet sich beispielsweise in Bader 1978, 9; Amelung 1979, XV;

Steck 1994; Redies/Wais 2004. Peter-Johannes Schuler hingegen wählte für seine Studie zum süd- westdeutschen Notariat im Mittelalter die Bistümer Konstanz und Basel als Untersuchungsraum, vgl.

Schuler 1976, 9. Zur Papierherstellung, allerdings dezidiert mit der Bezeichnung Südwestdeutschland vgl. Sporhan-Krempel 1956.

75 Für einen Überblick über die bislang bekannten Papiermühlenstandorte vor 1500 im Reich mit Ausnahme von Reichsitalien vgl. Anhang I.

76 Vgl. V. Thiel 1941, 37. Vgl. auch Anhang I.

77 Vgl. V. Thiel 1941, 42 f.; Schlieder 1966, 99; Bayerl 1987, 165. Einen für den deutschen Raum leider nicht vollständigen, aber kartographisch ansprechenden Überblick über die Papiermühlengründun- gen bis 1500 bietet die interaktive Karte The Atlas of Early Printing, die von Greg Prickman an der University of Iowa entwickelt wurde, vgl. http://atlas.lib.uiowa.edu/ (Stand 22.10.2017). Weitere Zu- sammenfassungen zu den Gründungen von Papierwerken finden sich in Bockwitz 1935, 94–101; V.

Thiel 1941, 32–43; Schlieder 1966, 86–101, 113–116; Bayerl 1987, 79, 598 f., Graphik auf S. 603. Vgl. auch die Vorbemerkung zu Anhang I.

78 Vgl. Zaar-Görgens 2004; Van Wegens 2015.

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Das Ende des Untersuchungszeitraums wurde auf das Jahr 1550 festgesetzt. Zwar geht diese Einteilung über die klassische Epochengrenze zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit hinaus, doch rechtfertigt sie sich durch die ungleich detaillierteren Quellen zur Papiermacherei aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, die weitere Einsichten in die Etablierung des Papiergewerbes bieten.

Die Einführung und Durchsetzung der Papiermacherei soll an einem Fallbei- spiel in der Tiefe untersucht werden. Für diese Fallstudie wurde Basel ausgewählt, zum einen wegen der vergleichsweise frühen erstmaligen Erwähnungen des Papier- gewerbes vor Ort. Mit dem von der Papiergeschichtsforschung nachgewiesenen Gründungsdatum vor 1440 gehörte Basel zusammen mit Ravensburg zu den ersten Städten im süddeutschen Raum, die eine oder mehrere Papiermühlen besaßen. Zum anderen wurde Basel ausgewählt, weil der ersten Papiermühle noch im 15. Jahrhun- dert weitere folgten, von denen einem Großteil ein langes Bestehen beschieden sein sollte. Diese Kontinuität ermöglicht eine nahezu lückenlose Darstellung der frühen Basler Papiergeschichte. Vor allem ist jedoch drittens die sehr gute Quellenlage ent- scheidend, sodass nicht nur Papiermühlen vage zu fassen sind, sondern sie und die Papiermacher tiefergehend studiert werden können.

Ergänzt wird diese Fallstudie durch die Analyse weiterer Papiermühlenstand- orte im deutschen Südwesten, die die Basler Befunde stützen oder kontrastieren. Bei der Auswahl der Standorte galt die Bedingung, dass die erste Papiermühle vor Ort eine mittelalterliche Gründung ist, das heißt, dass sie vor 1500 die Produktion auf- genommen haben muss. Während für das Fallbeispiel Basel eigene Quellenrecher- chen unternommen wurden, basiert die Darstellung der Vergleichsbeispiele – bis auf zwei Ausnahmen: Ravensburg und Straßburg – auf einer Auswertung der For- schungsliteratur.79 In die Untersuchung aufgenommen wurden folgende Papiermüh- lenstandorte nach Regionen geordnet: im Oberschwäbischen Ravensburg, Augsburg, Kempten, Memmingen und Söflingen, in der heutigen deutschsprachigen Schweiz Bern und Zürich, im Württembergischen Urach und Reutlingen, im Badischen Ett- lingen, Lörrach, Gengenbach und Offenburg und im Elsässischen Straßburg sowie Vieux-Thann und Cernay.

Dieser zweite Hauptteil der vorliegenden Arbeit unterteilt sich in zwei themati- sche Großkapitel. Das erste Kapitel betrachtet die Papiermühlen und nimmt dabei ihre Lage, ihre Ausstattung, die Eigentumsverhältnisse, ihren Wert und die Wasser- rechte in den Blick. Das zweite Kapitel nähert sich der Papiermacherei im deutschen Südwesten mit dem Fokus auf den Papiermachern und untersucht die sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Aspekte dieses neuen Gewerbes. Daher werden Fragen nach der handwerklichen Organisation, der Herkunft, dem Bürgerrecht, der Zunftzu-

79 Ein Beispiel für eine statistische Auswertung der Papiermühlenliteratur samt Fragebogen findet sich in Bayerl 1987, 635–637.

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Vorgehensweise und Gliederung  17

gehörigkeit, der Vermögensstruktur sowie den Netzwerken und Beziehungen in den Mittelpunkt gerückt. Dieser thematischen Untersuchung ist ein Überblickskapitel zu der Fallstudie Basel vorangestellt, in dem die Quellenlage sowie der Forschungsstand diskutiert werden. Zudem werden die Forschungstraditionen zu den weiteren in die Untersuchung aufgenommenen Papiermühlenstandorten beleuchtet.

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