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(1)Geheimdienste in der Weltge- schichte

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Geheimdienste in der Weltge- schichte. Spionage und verdeck- te Aktionen von der Antike bis zur Gegenwart. Hrsg. von Wolf- gang Krieger, München: C.H.

Beck 2003, 379 S„ EUR 24,90 [ISBN 3-406-50248-2]

Das Interesse des Lesers am Zweitälte- sten Gewerbe der Welt scheint unge- brochen. Tatsächlich verbindet es mit dem ältesten Gewerbe die Anzie- hungskraft des Verborgenen und An- rüchigen, die Mythen hervorbringt und sich von Mythen nährt. Mata Hari - deren tragische Geschichte offenbar in keinem einschlägigen Werk, so auch im vorliegenden, fehlen darf - belegt, daß beide Gewerbe bisweilen handfest zusammenarbeiten. Das historiogra- phische Interesse an Geheimdiensten profitiert ähnlich wie die Belletristik von der Faszination des Sujets. Eric Hobsbawm hat schon vor einem Jahr- zehnt in seinem Rückblick auf das Zwanzigste Jahrhundert unterstrichen, daß das verborgene Ringen der östli- chen und westlichen Geheimdienste das eigentliche Schlachtfeld des Kalten Krieges war. Kein Wunder also, wenn Historiker und der eine oder andere Ve- teran auch in Deutschland - nach an- gelsächsischem Vorbild (>Intelligence History<) - einen Arbeitskreis Ge- schichte der Nachrichtendienste ins Le- ben riefen. Die Geschichte von Ge- heimdiensten, Spionage und Spionen soll zum Gegenstand einer historischen Spezialdisziplin werden - nach dem Vorbild der Militär-, Verwaltungs- oder Verfassungsgeschichte. Diese oder be- liebig andere Zweige der Geschichts- wissenschaft leben von der Annahme, daß sich die Erscheinungsform, nicht jedoch das Wesen ihres Gegenstandes verändert, was allein die epochenüber- greifende Betrachtung rechtfertigt. Und um diese geht es dem Herausgeber des

vorliegenden Bandes, der zugleich Pro- tagonist des Arbeitskreises ist.

Läßt man die zahlreichen Beispiele des vorliegenden Bandes Revue pas- sieren, so erscheinen Geheimdienste, Spionage und Verrat gleichsam ebenso als anthropologische Konstanten wie insbesondere die schlechten menschli- chen Eigenschaften, die sie sich zunut- ze machen. Die Organisation von Spio- nage und verdeckten Aktionen durch dauerhafte Institutionen als Teil des staatlichen Herrschaftsapparates ist eher eine Erscheinung des 19. und 20. Jahrhunderts. Das Unterfangen des Herausgebers, die Ursprünge dieses Phänomens in einem »bunten Strauss von Beispielen und Perspektiven«

(S. 18) bis in die Antike zurückzuver- folgen, ist nicht ohne Risiko, wie erste Besprechungen in der Presse zeigten.

Hier wurde gelegentlich die Beliebig- keit der Themen, die Willkürlichkeit ih- rer Zusammenstellung und die man- gelhafte konzeptionelle Synthese kriti- siert. Vielleicht ist diese Heterogenität unvermeidlich, wenn die Beiträge der Fachleute für die jeweilige Epoche und/oder den jeweiligen Gegenstand in einem Sammelband mit derartiger Zeitspanne vereinigt werden. Hätte man den Versuch deshalb von vorn- herein unterlassen sollen?

Zunächst ist freilich der Obertitel ebenso mißverständlich wie der Unter- titel zutreffend. Denn es geht nicht et- wa nur um Dienste in der Weltge- schichte, sondern eben um Spionage, Spione, geheime Nachrichtenübermitt- lung, Kryptographie, Entschlüsselung, Funkaufklärung, verdeckte Aktionen und Geheimdienste mit fließenden Übergängen zu Militär und Diploma- tie. Bereits im alten China war unter der Devise »Seine Feinde kennen und sich selbst« das ganze Repertoire der Mi- litäraufklärung durch Kundschafter und (>umgedrehte<) Doppelagenten, der

Militärgeschichtliche Zeitschrift 63 (2004), S. 603-626 © Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam

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durch Agenten besorgten Täuschungs- manöver, aber auch der Spionageab- wehr, der Überwachung der eigenen Truppen und Bevölkerung sowie der Beobachtung ihrer Stimmung vorhan- den. Eine moderne Lehre von der Spio- nage hat die indische Staatslehre ca.

320 v. Chr. hervorgebracht; liest sie sich in ihren Grundaussagen doch beinahe wie die Anleitung z u m Aufbau einer totalitären Geheimpolizei des 20. Jahr- hunderts, welche der Herrschaftssiche- rung nach innen mindestens die glei- che Energie widmet wie der Bekämp- fung des äußeren Gegners. Die Kriege Alexanders des Großen und Hannibals wurden ebenfalls von militärischer Kundschaftertätigkeit und verdeckten Aktionen im Grenzbereich zur Diplo- matie begleitet. Allerdings können sie angesichts der dürftigen Quellenlage oft eher begründet vermutet als nach- gewiesen werden. Die Alliierten wur- den 1940 durch die deutsche Operati- onsführung und die Israelis 1973 durch den ägyptisch-syrischen Angriff voll- ständig überrascht, weil die Militärauf- klärung völlig versagt hatte - weniger bei der Beschaffung als vielmehr bei der Interpretation derjenigen Informatio- nen, welche technische und menschli- che Quellen lieferten.

Mit der im 20. Jahrhundert immer wichtigeren technischen Aufklärung will man nicht zuletzt in die Informa- tionsübermiftlung des Gegners einbre- chen, was dieser unter anderem durch Kryptographie zu verhindern sucht.

Letztere war schon in der Antike geläu- fige Praxis. Die Entschlüsselung der deutschen ENIGMA-Codiermaschine - freilich basierend auf Vorarbeiten des polnischen Nachrichtendienstes - gilt zu Recht als großer militärischer Erfolg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg. Im Zentrum der Geheimdienstmythologie steht jedoch der Spion u n d / o d e r Agent bzw. sein minderer Bruder, der Spitzel.

Nicht nur im 14. Jahrhundert waren es

insbesondere Kaufleute, Reisende, Frau- en, Kriegsgefangene und Kleriker, die als Informanten geworben (oder >abge- schöpft<) wurden. Die übernationale Katholische Kirche gilt dank einer jahr- hundertealten Diplomatie in Verbin- d u n g mit einem Klerus, der mit den Verhältnissen seines Heimatlandes ver- traut ist, seit jeher als gut informierte Organisation. Folgerichtig suchten die westdeutschen Dienste nach 1950 die Nähe zum Vatikan. Die Fälle Mata Ha- ri, Alfred Redl - beide längst zum My- thos verklärt - , Anthony Blunt und Günter Guilleaume werfen ein Licht auf die Gründe, aus denen Menschen zu Spionen und Verrätern werden. Mata Hari lebte von den kleinen Zuwendun- gen der Nachrichtendienstoffiziere wie von den etwas größeren Zuwendungen ihrer Liebhaber. Die Hinrichtung der Gelegenheitsinformantin 1917 stand in keinem Verhältnis zum Verratsumfang, beruhigte aber eine über die Mißerfol- ge der Kriegführung besorgte französi- sche Öffentlichkeit. Die Schwäche für einen aufwendigen Lebensstil ließ den renommierten Generalstabsoberst Redl vor dem Ersten Weltkrieg überlaufen.

Gravierend war die Aufdeckung des österreichischen Agentennetzes in Ruß- land, weniger der von ihm verratene Aufmarschplan. Seine Kenntnis wirkte auf die russischen Militärs eher als un- beabsichtigte Desinformation. Der So- wjetinformant Blunt steht für die Fas- zination, die der Stalinismus in den 1930er Jahren vor dem Hintergrund des aufkommenden Faschismus auf Teile der jungen Intelligenz Westeuropas aus- übte. Er war der Verräter aus Uberzeu- gung. Uberhaupt scheinen Uberzeu- gung und Habgier die Verratsmotive schlechthin zu sein. Den klassischen Agenten einer fremden Macht verkör- perte Guilleaume. Angesichts der eher mittelmäßigen Informationsausbeute war der durch seine Enttarnung 1974 ausgelöste Sturz des Bundeskanzlers

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Willy Brandt - dem man durch Beste- chung zweier Bundestagsabgeordneter eben noch über die Hürde eines kon- struktiven Mißtrauensvotums geholfen hatte - letztlich ein Eigentor des Staats- sicherheitsdienstes der DDR.

Eine beinahe moderne Form von Nachrichtendienst betrieb der Kapuzi- nerpater François-Joseph Le Clerc de Tremblay für Kardinal Richelieu im frühen 17. Jahrhundert. Er unterhielt ein Netz von Informanten, war gleichzei- tig auch außenpolitischer Berater und Diplomat des französischen Staats- mannes. Als Journalist versuchte er die Bildungseliten durch regierungsnahe Propaganda zu beeinflussen. Dagegen verkörperte Wilhelm Stieber, der in Preußen nach 1848 Demokraten und Kommunisten überwachte und ver- folgte, die für totalitäre Systeme der Ge- genwärt - etwa den Staatssicherheits- dienst der DDR - charakteristische Ver- bindung von geheimpolizeilicher Ver- folgung politischer Gegner mit Inlands- und Auslandsaufklärung. Bismarck be- diente sich seines Geheimdienstchefs namentlich in Kriegszeiten und hielt die eher fragwürdige Persönlichkeit an- sonsten auf Distanz. Gehlen betätigte sich ebenfalls als Zuträger des Bundes- kanzleramtes, wenn dieses Informatio- nen über den innenpolitischen Feind und nicht zuletzt den politischen Freund benötigte. Dank Adenauer und seines Staatssekretärs Hans Globke konnte Gehlen seine vom CIA unter- haltene Organisation 1956 zum Bundes- nachrichtendienst verwandeln. Gehlen inszenierte sich geschickt als geheim- nisvollen Schattenmann - der als einzi- ger die Sowjetunion und ihre Absich- ten durchschaute und dessen Exper- tenwissen bereits Hitler zu seinem ei- genen Schaden mißachtete -, um sich das Monopol der bundesdeutschen Auslandsaufklärung zu sichern. Geh- len verharrt auf dem selbst geschaffe- nen Sockel, an dem die Historiker nur

mehr oder minder spekulativ zu krat- zen vermögen, solange der Bundes- nachrichtendienst den Löwenanteil sei- ner Akten verschlossen hält.

Daß gerade demokratische Gesell- schaften der Auslands- und Inlands- aufklärung sowie des polizeilichen Staatsschutzes bedürfen, bestätigt ab- schließend der Herausgeber mit seiner Betrachtung über das Versagen der amerikanischen Dienste im Vorfeld des 11. Septembers 2001. Zu Recht erwähnt er dabei, was dem Desaster voranging:

die offenkundige Unfähigkeit des Ham- burger Verfassungsschutzes und/oder der ihm vorgesetzten politischen In- stanzen, die örtliche islamistische Kon- spiration zu überwachen und zu un- terbinden. Womit dann der kühne Bo- gen von zweieinhalb Jahrtausenden Spionage und Nachrichtendienst bis in die unmittelbare Gegenwart geschlagen wäre.

Dieter Krüger

Helmut Pemsel, Weltgeschichte der Seefahrt. Band 4. Biographi- sches Lexikon. Admírale, See- helden, Kapitäne, Seeflieger, See- fahrer, Reeder, Ingenieure, Kar- tographen, Ozeanographen, Po- litiker und Historiker. Von der Antike bis zur Gegenwart, Ham- burg: Koehler 2003 [ISBN 3-7822- - 0836-6]; Wien: Neuer Wissen- schaftlicher Verlag 2003 [3-7083- 0024-6], 462 S., EUR 48,00 Die vorliegende Publikation fußt auf ei- nem Titel, den der Autor als Einzelband bereits 1985 vorgelegt hat. Für die Auf- nahme in die sechsbändige Reihe »Welt- geschichte der Seefahrt« wurde die An- zahl der Biographien von 265 auf 510 aufgestockt. Der zeitliche Rahmen er- gibt sich aus dem Untertitel »von den Antike bis zur Gegenwart«, umfaßt al-

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so die gesamte personengeschichtlich erfaßbare maritime Geschichte. Von der geographischen Provenienz der Expo- nenten her betrachtet, ist das Buch welt- weit angelegt. Das formelle Konzept be- inhaltet die alphabetische Reihenfolge nach Personennamen von Absalon von Roskilde bis Zheng He. Der Umfang der Kurzbiographien liegt im Durchschnitt bei der Hälfte bis zwei Drittel einer Sei- te. Vorangestellt ist jeweils ein Konter- fei des Betreffenden. Hierbei wurde ne- ben Fotos und Grafiken aus der jünge- ren Zeit auf Büsten, Standbilder sowie Abbildungen auf Siegeln und Münzen zurückgegriffen, zu deren Besorgung der Verfasser zweifellos große Mühe verwendete. Ebenfalls lückenlos finden sich, zwar kleinformatige, aber sehr ex- akt und historisch »stimmig« ausge- führte zeichnerische Seitenansichten der zur jeweiligen Person gehörenden Schiffstypen. Die Biographien schließen mit bibliographischen Angaben über weiterführende Literatur. Diese Quel- lenhinweise hätte man sich, insbeson- dere bei bedeutenden Seefahrern wie etwa James Cook, durchaus umfang- reicher vorstellen können.

Für den militärhistorisch Interes- sierten ist bedeutsam, daß, wie schon in der Ausgabe von 1984, ein deutlicher thematischer Schwerpunkt auf dem Seekriegswesen liegt. Von den 510 Ein- trägen lassen sich 224 zwanglos der mi- litärischen Schiffahrt zuordnen, betref-

— fen sie nun Flotten- oder Flottillenchefs, U-Boot- oder Hilfskreuzerkomman- danten oder Marineflieger. In 68 Fällen werden Seefahrer vorgestellt, die Epo- chemachendes auf den Gebieten Ent- deckung und Forschung geleistet ha- ben. Begrüßenswert ist, daß auch Per- sonen nicht vergessen werden, die selbst nicht zur See fuhren, aber Wich- tiges zur maritimen Entwicklung beitrugen. Hierunter fällt beispielswei- se der englische Uhrmacher John Har- rison, Erbauer des ersten brauchbaren

Chronometers und damit Wegbereiter der gerade für militärische Belange be- deutsamen geographischen Längenbe- stimmung. Nicht weniger epochema- chend auf dem Gebiet der Kriegsschiff- fahrt waren Wilhelm Bauer und sein

»Brandtaucher«, letzterer ein Meilen- stein in der Entwicklung der später von allen Seemächten eingesetzten Unter- wasser-Kampfschiffe. Für zivile wie militärische Schiffahrt gleichermaßen bedeutsam war die Entwicklung der meteorologischen Navigation durch Matthew Fontaine Maury, welche auf- grund langfristiger Beobachtung u n d Auswertung des Klimas die günstig- sten Routen für die transozeanische Fahrt ermittelte. Hermann Anschütz- Kaempfe ermöglichte durch die Erfin- dung des von magnetischen Einflüssen unbeeinträchtigten Kreiselkompasses die moderne U-Boot-Navigation. Eben- falls findet sich hier Alfred Thayer Mahan, amerikanischer Konteradmiral und Marinehistoriker, vielen durch sein auch heute noch geschätztes Werk »The Influence of Sea Power upon History«

bekannt.

Natürlich können die gestrafften Einzelbeiträge keine erschöpfende Aus- kunft über das Lebenswerk der darge- stellten Personen bieten, sehr wohl aber eine rasche Basisinformation, eben im Sinne eines lexikalischen Nachschlage- werks. Autor und Verlag haben von der insgesamt sechsbändigen Reihe drei Ti- tel der historischen Entwicklung der Kauffahrtei, zwei weitere der Ge- schichte des Seekriegswesens gewid- met. Diese sinnvolle Trennung ge- währleistet nicht nur eine inhaltliche Kontinuität der Darstellungen. Sie er- möglicht dem potentiellen Käufer die Bände seines Interessengebiets gezielt auszuwählen und erspart ihm, für teu- res Geld Fachfremdes mitzukaufen. Es hätte, neben diesem ökonomischen Ef- fekt vorliegendem biographischen Le- xikon auch vom Inhaltlichen sehr wohl

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angestanden, auch dieses folgerichtig zweibändig, nach Kriegs- und Han- delsmarine getrennt, anzulegen. Denn in Verbindung mit der alphabetischen Ordnung ergibt sich doch recht häufig ein buntes Nebeneinander auf vielen Doppelseiten, das den optisch sensiblen Betrachter irritieren muß. Ebenso wird der Historiker, der das chronologische Raster nun einmal zwangsläufig mit sich herumträgt, reagieren, wenn er auf der rechten Seite Pytheas aus dem 3. Jahrhundert vor Christus und sein antikes Wasserfahrzeug findet und ihm auf der linken Günther Prien und sein U-47 entgegentreten.

Wolfgang Bühling

AlfR. Bjercke, Norwegische Kät- nersöhne als königliche Drago- ner. Eine Abhandlung über den Dragonerdienst in Norwegen und die Grenzwache in Schles- wig-Holstein 1758-1762, Frank- furt a.M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien: Lang 1999, 243 S. (= Kieler Werkstücke. Rei- he A: Beiträge zur schleswig-hol- steinischen und skandinavischen Geschichte, 20) EUR 46,- [ISBN 3-631-34727-8]

Als der aus Dänemark, Norwegen, Schleswig und Holstein bestehende dä- nische Gesamtstaat während des Sie- benjährigen Krieges eine russische Mi- litäraktion befürchten mußte, wurden von 1758 an als präventive Maßnahme in größerem Umfang Truppen an die holsteinische Grenze verlegt. Zu ihnen zählten auch fünf Dragonerregimenter, die in ländlichen Regionen Norwegens beheimatet waren. Diese Reiterverbän- de und ihr weiterer Einsatz in Schles- wig und Holstein bis 1762 sind Gegen- stand der Untersuchung von Alf Bjercke, der, Jahrgang 1921, als Pen-

sionär Geschichte - vor allem die sei- nes Heimatlandes - an der Universität Oslo studierte. Mehrere seiner Vorfah- ren hatten einst als Dragoner in der nor- wegischen Armee gedient, und auch der Verfasser selbst gehörte dieser Waf- fengattung im Zweiten Weltkrieg noch an. Entsprechend eng fühlt er sich sei- nem Thema verbunden.

Im Mittelpunkt seiner Studie stehen die norwegischen Soldaten, genauer ih- re Ausbildung, ihr Alltag und ihre so- zialen Verhältnisse sowie zusätzlich ihr Pferdematerial. Dank einer ungewöhn- lich dichten Quellenüberlieferung in norwegischen, dänischen und deut- schen Archiven bietet die Arbeit eine Fülle aufschlußreicher Details zur So- zialgeschichte der fünf Dragonerregi- menter. Besonders die Ergebnisse zum Wandel der Rekrutierungspraxis in Kriegszeiten (starker Rückgang dès An- teils von Bauernsöhnen bei gleichzeiti- gem Anstieg des Kätneranteils) verdie- nen es, hervorgehoben zu werden. Al- lerdings hat die Studie auch unüber- sehbare Schwächen. Aufbau und Gliederung der Arbeit sind alles ande- re als stringent (so haben etwa manche Kapitel 20 und mehr Unterpunkte, an- dere dagegen nicht einen), und auch der Argumentationsgang ist keinesfalls im- mer schlüssig nachvollziehbar. Beson- ders die häufigen Rückgriffe auf späte- re militärische Entwicklungen erschei- nen problematisch. Die Quellenbelege werden zumeist in sehr pauschaler Wei- se gegeben, so daß in vielen Fällen eine Uberprüfung der Aussagen nur schwer möglich erscheint. Die herangezogene Literatur zur Sozialgeschichte einfacher Soldaten im 18. Jahrhundert entspricht keinesfalls dem aktuellen internationa- len Forschungsstand. Statt dessen fin- den sich im Literaturverzeichnis etwa Hinweise wie der auf (nicht näher spe- zifizierte) »Britische Marineliteratur über alte Schiffstypen sowie Biogra- phien der dänischen Seeverteidigung«

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in der Handbibliothek des Reichs- archivs Oslo. Unbefriedigend ist ferner der hohe Anteil nicht übersetzter nor- wegischer Quellenzitate, denn dadurch wird der Kreis potentieller Leser nicht unerheblich eingeschränkt. Insgesamt hätte ein stärker lenkendes Eingreifen der Reihenbetreuer der Veröffentli- chung sicherlich gut getan.

Stefan Kroll

Wolfgang Schmidt, Historische Militärarchitektur in Potsdam heute. Hrsg. vom Militärge- schichtlichen Forschungsamt, Berlin: Trafo Verl. Weist 2001, 36 S„ EUR 7,80 [ISBN 3-89626- 340-4]

Das sogenannte Preußenjahr 2001 ist vorbei und hat einige bemerkenswerte Publikationen hinterlassen. Dazu gehört eine kleine, durchgängig illustrierte Schrift des Militärgeschichtlichen For- schungsamtes. Der bereits durch seine Dissertation über eine süddeutsche Gar- nison ausgewiesene Autor wendet sich den Potsdamer Bauten zu, die von der langen Verbundenheit der branden- burgisch-preußischen Metropole mit seinem Militär künden. In allen Phasen der Kasernierung von Friedenstruppen während dreier Jahrhunderte entstan- den dort auf ihre Art wegweisende Funktionsbauten. Die architektonische und städtebauliche Gestaltung von Ka- sernen läßt sich immer zeit- und orts- bezogen erläutern und interpretieren.

In Potsdam wie auch im angrenzenden Berlin war der Anspruch vor allem zu Zeiten des Gardekorps höher als in an- deren Garnisonsorten. Der besondere Stellenwert eines Regimentes war stets geeignet, sich im baulichen Erschei- nungsbild niederzuschlagen. In Pots- dam bedeutete dies, untereinander und in räumlicher Nähe zu konkurrieren.

Wolfgang Schmidt führt kurz und dabei sachkundig in die Baugeschichte überkommener Anlagen mit militäri- schem Hintergrund ein. Sein Text regt zu einem Rundgang im engeren und ei- ner Rundfahrt im weiteren Bereich an.

Die beigegebene Stadtkarte mit rück- seitigen aktuellen Bildern der 34 Ob- jekte erleichtert dies. Im Broschürentext wird der Bogen von der »Residenz- und Soldatenstadt im 18. Jahrhundert«, über die preußisch-deutsche Garnison im 19. Jahrhundert« bis zu »Militärarchi- tektur und Nationalsozialismus« ge- schlagen. Diese letzte Neubauphase - denn die Reichswehr kam mit dem al- ten Bestand aus, und eine erste Welle ziviler Umnutzungen setzte in der Wei- marer Republik ein - wird etwas zu stark mit grundsätzlichen Funktionser- klärungen und Planungsinterpretatio- nen verbunden. Abschließend werden die überwiegend sowjetische Nutzung bis 1994 angesprochen und die Be- mühungen zu Nachfolgenutzungen seit 1990. Liegenschaftsbezogene Einzelbe- schreibungen finden sich unter den Bil- dern. Soll man es symptomatisch und fortschrittlich finden, die Mutation des geschiehtsträchtigen, aber aus amtlicher Sicht nicht zugleich traditionsreichen Bornstedter Feldes vom Exerziergelän- de zur Bundesgartenschau wie folgt be- schrieben zu finden: »Statt exerzieren- der Soldaten stehen nun Blumen, Obst- gehölze und Stauden Spalier«? Wahr- scheinlich ist diese Etappe bereits Geschichte, wenn alte Bauwerke in Potsdam noch immer Anlaß geben, sich militärhistorisch bedeutsamer Verbän- de und vielleicht auch ihrer Soldaten zu erinnern. Die kleine Schrift ist dazu ein gut geeignetes Hilfsmittel.

Stephan Kaiser

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Biographisches Lexikon der Katho- lischen Militärseelsorge Deutsch- lands 1848 bis 1945. Hrsg. von Hans Jürgen Brandt und Peter Häger im Auftr. des Katho- lischen Militärbischofsamtes Berlin unter Mitarb. von Karl Hengst [u.a.], Paderborn: Boni- fatius 2002, LXXVIII, 1066 S., EUR 66 - [ISBN 3-89710-212-9]

Das Lexikon verzeichnet etwa 3300 Ein- träge über hauptamtliche Militär-, La- zarett· und Standortgeistliche, auch im weiteren Sinn Standortpfarrer im Ne- benberuf, und nebenberufliche Laza- rettpfarrer. >Exemplarisch< sind Kriegs- gefangenenseelsorger berücksichtigt (S. XI). Verzeichnet wurden nichtdeut- sche Militärseelsorger, soweit sie der deutschen Militärseelsorge unterstan- den. Selbst Päpste und Bischöfe wur- den erfaßt, wenn sie einen deutlichen Bezug (S. XII) zur deutschen Militär- seelsorge suchten. Als >Organisator der Militärseelsorge< wird Papst Johannes Paul II. aufgeführt (S. 371). Erfaßt wur- den Verfasser von Soldatengesang- büchern und kirchlichen Schriften über Krieg und Frieden. Berücksichtigt wur- den Lazarettschwestern, die bei der Mi- litärseelsorge karitativ tätig waren. Die Verzeichnung der Namen umfaßt Frie- dens- und Kriegszeiten. Ausgewertet wurden Quellen in Bistums-, Ordens-, Pfarr- und Klosterarchiven sowie Stücke in privaten und staatlichen, in- und ausländischen Archivstellen. Eine vollständige Aufnahme war bedingt durch Lücken in der Überlieferung nicht möglich. Unter den verzeichneten Namen werden, soweit feststellbar, aus- gewiesen: die Lebensdaten, die Ausbil- dung, der Dienstverlauf, Querverwei- se zu anderen Personen, die Verwen- dung nach einer Militärdienstzeit bis zum Lebensende. Es folgen Nachwei- se. In den meisten Fällen sind bei den Divisionspfarrern und den Lazarett-

geistlichen Versetzungsdaten und An- gaben von Einheitsnummern notiert.

Dem Biographieteil sind vorange- stellt Ausführungen von Hans Jürgen Brandt zur geistlichen Traditionspflege im Militär (S. XV-XXIII) und ein Beitrag von Konrad Zillober und Peter Häger über Recht und Organisation der ka- tholischen Militärseelsorge (S. XXV bis LXXVIII). In dem zweiten Beitrag wer- den die Grundlinien der Militärseel- sorge gezeichnet, die seit dem 19. Jahr- hundert zusammenliefen. Lange Zeit lag diese Aufgabe in den Händen der Königreiche Österreich, Bayern, Würt- temburg, Sachsen und Preußen. Im Deutschen Reich wurden den großen Bundesstaaten ab 1871 im Militärwesen besondere Rechte eingeräumt, denen zufolge auch die Seelsorge der Solda- ten geordnet wurde. Während des so- genannten Kulturkampfs erfolgte die katholische Militärseelsorge auf zivil- kirchlicher Basis. Noch im Ersten Welt- krieg lag die Militärseelsorge im Zu- ständigkeitsbereich der großen König- reiche in Deutschland.

Im Feld, in der Etappe, im Besat- zungsgebiet, bei den deutschen Schutz- truppen in Deutsch-Ostafrika und Deutsch-Südwestafrika wirkten auch viele Ordenspriester. Unter dem Blick- winkel der katholischen Militärseelsor- ge war naturgemäß mehr Bedarf bei den katholischen Landsmannschaften vorhanden, die zum Teil im Süden des Reiches lagen. Nach dem Ersten W e l t krieg wurde die Organisation der Mi- litärseelsorge in der Reichswehr ab 1919 nach preußischem Muster weiterge- führt. Gottesdienst und Seelsorge im Heer und bei der Marine, in Strafan- stalten und Krankenhäusern, sollten ge- währleistet werden. Die Teilnahme soll- te aber freiwillig erfolgen, und jeder Gruppenzwang wurde ausgeschlossen.

Wehrkreis- und Marinepfarrer über- nahmen die Militärseelsorge und wur- den durch einen Generalvikar geführt.

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Nach dem Reichskonkordat 1933 sollte ein Armeebischof ernannt werden, der durch den Papst in Abstimmung mit der Reichsregierung gefunden wurde.

Die Militärseelsorger kamen aus den Diözesen mit Zustimmung der je- weiligen Bischöfe, und sie erhielten Pfarrrechte für ihren militärischen Ein- satzbereich. 1939 gab es einschließlich Feldbischof und Feldgeneralvikar 309 Militärgeistliche. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs trat ein Fülle von Priestern als Wehrmachtpfarrer, Mari- nepfarrer und Lazarettpfarrer in den Dienst. Viele Priester wurden Sanitäter und konnten ohne eigentliche kirchli- che oder militärische Bestellung in den Einheiten neben ihrer dienstlichen Tätigkeit als Geistliche wirken. Nach dem Zweiten Weltkrieg engagierten sich viele Priester in den Gefangenen- lagern, offiziell oder verdeckt, für das Seelenheil der Soldaten. Viele deutsche Bistümer übernahmen Patenschaften für deutsche Soldaten in französischen Kriegsgefangenenlagern.

Bei der Durchsicht des Verzeichnis- ses der Nachweise: >Gedruckte Quellen und Litera tur < (S. 1033-1063) fällt auf, daß kaum militärhistorische Über- sichtswerke, Truppengeschichten und Abhandlungen zur Sanitätsgeschichte ausgewertet wurden, wie etwa Hubert Fischer, Der deutsche Sanitätsdienst 1921-1945,7 Bde, Osnabrück 1980-1999.

Der Benutzer hätte gern etwas gewußt _ über die__Art und Weise der Auswer-

tung der Personalkarteikarten der Prie- ster in den Bistumsarchiven mit ihren Feldpostnummern und den Schwierig- keiten, die es dabei gab, und wie weit die Nummern abgeglichen wurden mit den publizierten Kriegsgeschichten und den Feldpostverzeichnissen. Bei der großen Fülle der vorgestellten Daten stellt sich die Frage, wieweit sie zuver- lässig sind. Eine kursorische Durchsicht ergab folgende Fehler oder Zweifel. Die 1. Gebirgsdivision befand sich 1939

nicht in Rußland (vgl. S. 485). Unver- ständlich ist die Zuweisung der Kriegs- lazarettabteilung (KLA) 604 für 1943 nach Brüssel mit dem Zusatz >Haupt- verwaltungsstab Clermont Ferrand<

(vgl. S. 537). Unverständlich ist der Ein- satz der KLA 615 im Januar 1941 >an der Ostfront (vgl. S. 319). Die KLA 613 be- fand sich im November 1943 nicht in Rußland (vgl. S. 810). Die 15. Armee sah 1943 nicht Toulon in ihrem Befehlsbe- reich (S. 272). Im Archiv des Erzbistums Köln gibt es Karteizuweisungen, die womöglich nicht ausgewertet wurden, über Josef Schlutz (im Werk vorhan- den, S. 713, ohne Hinweis auf das Erz- bistum), dazu über den Kölner Priester Josef Wessiepe, Wasserburg statt -burn am Inn (vgl. S. 538). Pfarrer Quecke dürfte schwerlich 1939 als Kriegspfar- rer in Brüssel gewesen sein (vgl. S. 631).

Die publizierte Datenfülle wird für ein- schlägige Forschungen Ansatzpunkte bieten.

Ludger Tewes

Frank Gösch, Festungsbau an Nordsee und Ostsee. Die Ge- schichte der deutschen Küsten- befestigungen bis 1918, Ham- burg, Berlin, Bonn: Mittler 2003, 200 S., EUR 49,90 [ISBN 3-8132- 0743-9)

Bekanntlich betrieb das Alte Reich mit den Kreistruppen eine eigene Verteidi- gung zu Land, jedoch keine Marinepo- Htik. Auch die Küstenverteidigung blieb eine Aufgabe für die Territorialstaaten wie Preußen. Oder es wurden Küsten- befestigungen durch ausländische Mächte geschaffen, wie im damals schwedischen Stralsund, durch die Dä- nen auf Rügen oder durch die Franzo- sen, wie etwa die Napoleonschanze auf Norderney während der Koalitions- kriege. Der Gedanke an eine deutsche

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Küstenbefestigung keimt erstmals in den Jahren nach 1815 und nimmt mit der Gründung des Norddeutschen Bun- des schärfere Konturen an. Aber erst das Deutsche Reich wird ab 1871, zu- sammen mit einer massiven Flottenrü- stung, enorme Anstrengungen auf die- sem Gebiet unternehmen. Der Autor steckt den zeitlichen Rahmen weiterhin dadurch ab, daß er seine Darstellung mit dem Jahr 1918 enden läßt, der Schwerpunkt der Ausführungen liegt somit auf der Epoche des Kaiserreichs.

Vorangestellt ist auf siebzehn Seiten eine Einführung, die auf internationa- ler Ebene Bemühungen in der Küsten- verteidigung ab dem Spätmittelalter darlegt. Der Bogen spannt sich vom Jo- hanniter Küstenfort St. Nikolaus auf Rhodos (1483) bis zur als »Beton- schlachtschiff« bezeichneten Philippi- neninsel El Fraile, amerikanischerseits 1908 zum Fort Drum umgewandelt.

Weitere sieben Seiten sind der Ent- wicklung der Marinepolitik gewidmet, beginnend mit sehr frühen Bestrebun- gen in Brandenburg. Am Ende dieses Abschnitts finden sich zwei anschauli- che Kartenskizzen mit der Position der kaiserlichen Küstenbefestigungen in Nord- und Ostsee.

Nachdem das Deutsche Reich hin- sichtlich seiner Bestrebungen nach »See- geltung« in direkte Konkurrenz zum Vereinigten Königreich getreten war und die russische Flotte noch 1914 am Beginn ihres Aufbaus stand, waren ma- ritime Wehrbauten im Nordseeraum vordringlich. Die Nord- und Westfrie- sischen Inseln wurden zusammen mit Helgoland zu einem vorgelagerten Ver- teidigungsgürtel ausgebaut, der einer- seits die befestigten Kriegshäfen Wil- helmshaven, Geestemünde und Cux- haven schützen, andererseits der im Kü- stenbereich operierenden Marine Rückhalt gewähren sollte.

Der Autor bietet zu jeder der Anla- gen neben historischen Fotodokumen-

ten exakte, selbst erarbeitete Kartenskiz- zen, sowie detaillierte textliche Anga- ben zu Baugeschichte, Bewaffnung und strategischer Bedeutung. Soweit die be- treffenden Plätze eine frühere militär- historische Vergangenheit aufweisen, wird diese ebenfalls detalliert und oft weit zurückreichend dargelegt. Anga- ben zum heutigen Zustand werden je- weils unter der Überschrift »Spurensu- che« beigestellt. Das gleiche Konzept liegt der Darstellung der Forts im Ost- seebereich zugrunde, wobei der geo- graphische Bogen vom heute dänischen Ärasund bis nach Memel reicht.

Einen Anmerkungsapparat wird der Historiker vermissen, es findet sich je- doch, neben einem Glossar fortifikato- rischer Termini und einem ausführli- chen Schrifttumsverzeichnis, im An- hang eine allgemeine Aufstellung der benutzten Quellen. Vorliegender Band ist zweifellos ein schöner Beitrag zu ei- nem bisher wenig beachteten Thema, in den viel akribische Recherche einge- flossen ist. Die Tatsache, daß der Autor von seiner Profession her Architekt ist, kommt den baugeschichtlichen For- schungen ebenso zugute, wie den zeich- nerischen Darstellungen.

Wolfgang Bühling

Birthe Kundrus, Moderne Impe- rialisten. Das Kaiserreich im Spiegel seiner Kolonien, Köln:

Böhlau 2003, VII, 339 S., EUR 34,90 [ISBN 3-412-18702-X]

Was Imperialisten sind, ist wohl allge- mein bekannt. Doch was an ihnen soll

»modern« gewesen sein? Auf die Be- antwortung dieser Frage muß der Le- ser lange warten. Nach 285 Seiten taucht der Begriff erstmals in der Schlußbe- trachtung auf. Um so erstaunter liest man dann dort die Einschätzung der Autorin, daß der Kolonialinteressierte

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»vielleicht antimodern, aber nicht un- modern gewesen« sei (S. 286). War der gemeine Imperialist also doch nicht so modern, wie es der Titel des Buches, der leicht überarbeiteten Version einer 2002 vom Fachbereich für Sozialwissen- schaften an der Carl von Ossietzky Uni- versität Oldenburg angenommenen Ha- bilitationsschrift, suggeriert? Ahnlich unglücklich ist der Untertitel gewählt.

Er verheißt eine Studie, in der alle deut- schen Kolonien gleichermaßen berück- sichtigt werden. Zwar schränkt der Klappentext schon vorsorglich ein, daß der Hauptfokus auf der wichtigsten deutschen Kolonie, auf Deutsch-Süd- westafrika, liege, aber bereits beim Le- sen der Einleitung wird schnell deut- lich, daß sich Birthe Kundrus in ihrem Buch ausschließlich mit dem »Schutz- gebiet« im Süden Afrikas beschäftigt.

Die wenigen Stellen, in denen sie auch auf die anderen Überseegebiete eingeht, lassen sich an einer Hand abzählen.

Doch worum geht es nun eigentlich, in dem Buch? Nach einer Phase, in der sich die Kolonialismusforschung immer mehr mit den Kolonisierten beschäftigt hat, rücken seit einigen Jahren wieder verstärkt die Kolonisierenden in den Blickpunkt des Interesses. Auch Kund- rus gehört zu den Vertretern des soge- nannten »post-kolonialen« Ansatzes:

Ihrer Meinung nach hat der Kolonialis- mus nicht nur in den deutschen Kolo- nien, sondern auch im damaligen Kai- serreich Spuren hinterlassen. Zwar sei- en die Auswirkungen auf den sozialen, wirtschaftlichen oder außenpolitischen Bereich gering gewesen, um so größer aber auf kulturellem Gebiet, wobei die Autorin »Kultur« als »die Wissens-, Be- deutungs- und die Sinnsysteme, in de- nen sich die Kolonialräsonierenden be- wegten bzw. die sie formten« (S. 17), de- finiert. Diese Auswirkungen will die Autorin sichtbar machen. Zwei Fra- genkomplexe stehen dabei im Mittel- punkt: »Wie und mit welchen Inhalten

lud eine kolonialinteressierte Öffent- lichkeit Deutsch-Südwestafrika mit na- tionaler Bedeutung auf« und »was sa- gen diese Entwürfe wiederum über das Selbst- und Nationverständnis und die Vorstellungswelten der Kolonialinter- essierten« aus (S. 10)?

Kundrus beginnt ihre Studie mit ei- nem Kapitel über die fast schon ver- zweifelte Suche nach d e m »idealen Siedler«. Mit dem Erwerb Deutsch-Süd- westafrikas im Jahr 1884 schien sich endlich die Hoffnung vieler Kolonial- enthusiasten auf eine eigene Sied- lungskolonie erfüllt zu haben, in der zu- mindest ein Teil der vielen auswande- rungswilligen Deutschen eine neue Hei- mat finden konnte. Doch Wunsch und Wirklichkeit klafften weit auseinander.

So blieb sowohl die Zahl der Siedler als auch ihre »Qualität« hinter den Erwar- tungen zurück. Zahlreiche Vorschläge wurden gemacht, wie dieser Zustand geändert werden könnte. Die einen fa- vorisierten die Ansiedelung ehemaliger Soldaten der Schutztruppe, während ändere zur Not auch Buren aus Süd- afrika ins Land locken wollten. Selbst Sträflinge oder Tuberkulosekranke wa- ren als »Kolonialpioniere« im Gespräch.

Doch alle Projekte, Pläne und Vor- schläge hatten letztendlich eines ge- meinsam: Sie verliefen »im heißen San- de von Süd west«.

Im dritten von insgesamt vier Kapi- teln beschreibt Kundrus eindrucksvoll die vielen Versuche, aus Deutsch-Süd- westafrika ein »zweites Deutschland«

in Übersee zu machen. Erreicht werden sollte das durch den Export deutscher Kultur. Dazu zählte nicht nur die Ein- führung von Pferderennen, Tanzaben- den oder Kegelbahnen, sondern auch die Übernahme des als typisch deutsch geltenden Vereinswesens. Zahlreiche Männergesang-, Turn-, Schützen- und Kriegervereine wurden im Land ge- gründet. Von besonderer Bedeutung war die Stellung der deutschen Spra-

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che, seit Johann Gottlieb Fichte der In- begriff deutscher Kultur, in der Kolo- nie, um die es zahlreiche Diskussionen gab. Vehement bekämpften einige die

»Verunreinigung« der Sprache durch manche Kolonialdeutsche, die immer mehr englische und afrikanische Be- griffe in ihren Wortschatz aufnahmen.

Andere forderten ebenso lautstark die Eindeutschung aller geographischen Namen. Besonders umstritten aber war die Einführung von Deutsch als Unter- richtssprache für Afrikaner in den Mis- sionsschulen. Während die Befürwor- ter der Meinung waren, daß dies gera- de der Herrschaftssicherung diene, fürchteten die Gegner genau das Ge- genteil.

Die beiden übrigen Kapitel befassen sich mit der Faszination, die die afrika- nische Nalui auf viele Deutsche aus- übte, und die heftigen Debatten über die Rechtmäßigkeit von Ehen zwischen Europäern und Afrikanern, die schließ- lich zu einem völligen Verbot von

»Mischehen« führten. Im Gegensatz zu einigen anderen Historikern sieht die Autorin darin aber keinen Vorläufer des

»Blutschutzgesetzes« vom 15. Septem- ber 1935, das Teil der »Nürnberger Ge- setze« war. Es ist schon erstaunlich zu lesen, über welche teilweise recht skur- rilen Themen damals im Deutschen Reich diskutiert wurde und wer sich daran alles beteiligte, auch wenn letzt- endlich offen bleiben muß, wie tief die Spuren waren, die diese Diskussionen in der deutschen Gesellschaft hinter- lassen haben. Birthe Kundrus gebührt jedenfalls das Verdienst, diese Themen in den zahlreich von ihr eingesehenen veröffentlichten und unveröffentlichten Quellen entdeckt zu haben. Alles in al- lem ist ihr ein Buch mit einem originel- len Ansatz gelungen, das zudem noch spannend zu lesen ist - bei Habilitati- onsschriften leider immer noch eher die Ausnahme als die Regel.

Thomas Morlang

Peter Winzen, Reichskanzler Bernhard Fürst von Bülow. Welt- machtstratege ohne Fortune.

Wegbereiter der großen Kata- strophe, Zürich: Muster-Schmidt 2003, 185 S. (= Persönlichkeit und Geschichte, 163), EUR 14,00, [ISBN 3-7881-0154-7]

Bernhard von Bülow war kein Mann, der Eindeutigkeiten oder Nebenrollen liebte. Vielen galt er als Einzelgänger, der sich mit Freunden schwer tat und sie oft genug mied, möglicherweise um sich selbst nicht zu sehr öffnen zu müs- sen. Diese Eigenschaften hatte er schon in seiner Jugend. Meist reiste er allein, einsame Spaziergänge oder Ausritte prägten seinen Alltag. Bülow liebte Bücher und notierte akribisch, was ihm nützlich schien. Zu seiner Lieblingslek- türe gehörten historische und natio- nalökonomische Werke, vor Romanen schreckte er nicht zurück, seine Lei- denschaft waren sie aber wohl nicht.

Dem »prallen Leben« (Peter Winzen) war er abhold: »Wer ins Leben eintritt«, schreibt er in seinen Denkwürdigkei- ten, »lernt, wie ich glaube, für Men- schenbehandlung, für das praktische Leben mehr aus Romanen, wird durch sie weltkundiger und weltläufiger als durch das Studium der gelehrtesten Kompendien.« Das Verbindungswesen änderte den jungen Mann nicht, ja es stieß ihn regelrecht ab: »Der übermäßi- ge Biergenuß«, heißt es in seinen Erin- nerungen, »widerte uns an, die Kneip1"

witze sagten uns nichts, der banausi- sché Ton mißfiel uns, wir sind nicht wie- dergekommen.« Das letzte Wort. Seine Freizeit verbrachte er mit Sport, Fech- ten, langen Spaziergängen, die Aben- de, läßt er den Leser wissen, habe er mit Lektüre und Reflexionen verbracht. All das und mehr ist vielfach erörtert wor- den, eine Begründung für das faszinie- rende Interesse, das dieser Reichskanz- ler in der Forschung gefunden hat, lie-

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Annotationen fern diese Gedanken aber nicht, zumal

seine Selbstzeugnisse häufig genug fragwürdig sind. Als Persönlichkeit ist der spätere Kanzler mit diesen Worten nicht zu greifen.

Bernhard von Bülow repräsentierte gleichwohl das Kraftgefühl seiner Zeit, dazu gehörten Großmannssucht und das Gefühl, anderen Nationen in nichts nachzustehen. Viele Stereotypen jener Jahre lassen sich ihm zuschreiben.

Bülow war in seinen programmatischen Zielen nicht ängstlich, zumal er sich.der Unterstützung Kaiser Wilhelms II. zeit- weilig sicher sein konnte. Am Ende scheiterte er dennoch an seinem Ehr- geiz - ohne Einsicht. Ist er konsequent und kompromißlos immer derselbe ge- blieben? Wahrscheinlich. Sein Name und seine Zeit standen für den »Platz an der Sonne«. Diese ungenaue und nichtssagende Metapher ist immer wie- der zitiert worden, um den deutschen Weltmachtanspruch der Vorkriegszeit zu beleuchten, um die Rüstungsan- strengungen zu erklären. Bülow war al- les andere als ein Staatsmann. Außen- politisch blieb er ungeschickt, seine Mit- arbeiter taten wenig, um den Wider- spruch zwischen den ambitiösen Zielen und seinem tatsächlichen Vermögen auszugleichen. Bülow ließ sich kata- strophale Fehleinschätzungen zuschul- den kommen - mit gravierenden Kon- sequenzen für die Stellung des Reichs im internationalen Gefüge. Dennoch stand Bülow in der Debatte über die Kriegsschuld nie an erster Stelle, da hat- ten ihm Bethmann Hollweg und Kaiser Wilhelm II. den Rang abgelaufen. Die- se Sicht, fordert Winzen, muß korrigiert werden. Bernhard von Bülow wollte ein zweiter Bismarck werden und spielte die Rolle eines Versagers, der sich zwi- schen Anspruch und Wirklichkeit hin und her bewegte. Auch ohne detaillier- te Fachkenntnisse versteht der Leser die Probleme, das spricht für das Buch.

Die Frage nach den Zielen deutscher Weltpolitik stand lange unter dem Ein- druck der konzeptionslosen Prestige- politik des Kaisers und seiner Umge- bung. Keine Richtung habe sich durch- setzen können; Bülow, Tirpitz und Wil- helm II. hätten sich gewissermaßen die Rollen geteilt. Volker Berghahn war ei- ner der ersten, der gegen die geläufige Auffassung Sturm lief und auf die Be- deutung des Tirpitz-Plans verwies. Die- ser wurde der Leitstern einer Außen- politik, die das Reich über die Gefah- renzone der Aufbauphase hinüberret- ten sollte. Winzen sieht Bülows Ziel in der Vorbereitung der Auseinanderset- zung mit Großbritannien um die wirt- schaftliche und koloniale Vorrangstel- lung in der Welt. Deutschland und Ruß- land zusammen würde das Empire am Ende unterliegen. Doch Deutschland dürfe sich nicht zu früh an Rußland bin- dep, sollte verhindert werden, daß Eng- land eine Koalition mit Japan, den USA und/oder Frankreich einginge. Die um die Jahrhundertwende proklamierte

»Politik der freien Hand« ist für Berg- hahn, Winzen u.a. ein Provisorium, das eine effektivere Ausgangsposition schaffen sollte, um den britisch-russi- schen Antagonismus ausnutzen zu kön- nen.

Die neue Darstellung von Winzen informiert über die Person, die wissen- schaftlichen Debatten und das aktuelle Bild. Am Ende steht ein eigenes Resü- mee über Bülow. Ob die »homophilen,.

Neigungen« - so der Autor - in der Darstellung einen derart großen Raum einnehmen müssen, ist fraglich. Und die ernstzunehmende wissenschaftliche Konkurrenz z.T. als »populärwissen- schaftlich« abzutun, hat noch nie über- zeugt. Dennoch gehört Winzen zu dem Kreis der Forscher, die das Bild über den Wilhelminismus und seine Reprä- sentanten mit geprägt und tiefergehen- de Wißbegier ausgelöst haben.

Michael Fröhlich

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The Origins of World War Two - the Debate continues. Ed. by Robert Boyce and Joseph A.

Maiölo, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2003, 397 S., £ 16.99 [ISBN 0-333-94526-3 (hdb), ISBN 0-333-94539-5 (ppb)]

Die Frage, ob die Deutschen an einem Täterkomplex leiden, ist in den letzten Monaten in der Presse im In- und Aus- land diskutiert worden. Es ist nicht oh- ne Reiz, in diesem Zusammenhang auf drei Phänomene zu verweisen:

- die generelle Tendenz vieler Reli- gionen, einschließlich des Juden- tums, und nach seinem Modell des Christentums, den Grund für Na- turkatastrophen - von der Sintflut bis zur Pest - und von Kriegen in den eigenen Sünden zu suchen und nicht in komplexen Zusammenhän- gen äußerer Art;

- vielleicht damit verbunden das von Psychologen identifizierte Phäno- men der Schuldgefühle von Uberle- benden von Katastrophen;

- und schließlich die auf Anhieb dem Außenstehenden völlig absurd er- scheinende Selbstzerfleischung der Briten (und zu einem geringeren Grade der Franzosen) im Hinblick auf die Schuldfrage des Zweiten Weltkriege.

Dieses dritte Phänomen, von dem hier die Rede sein soll, ist ebenfalls eng ver- bunden mit der Judäo-Christlichen Kul- tur in der der Westen wurzelt. Es ist auch bekannt als »Mythos München«, ein Thema, zu dem Fritz Taubert den einfallsreichsten und maßgeblichsten Band vorgestellt hat (Mythos München, München 2002). Statt zu konstatieren, daß der Zweite Weltkrieg in der Hemi- sphäre, die von Palästina bis Amerika reicht, völlig und einzig auf Hitler und die von ihm verführten Deutschen zurückgeht (wie Christian Leitz in die- sem Band beschreibt), konzentriert sich

dieser Mythos auf die erleichternden Umstände, die Schwäche, Dummheit und Kurzsichtigkeit sowie um Egois- mus der anderen Spieler, und stilisiert alle diese Fakten zur Schuld hoch.

»Guilty Men« hieß schon das 1940 ano- nym veröffentlichte britische Pamphlet, daß mit Premierminister Chamberlain und Außenminister Halifax zu Gericht ging. Und in dieser Tradition ist die De- batte zu verstehen, die in Großbritan- nien noch heute zum Thema Zweiter Weltkrieg und »Appeasement« geführt wird.

Sicherlich ist auch eine Parallele der Diskussion zum Ursprung des Zweiten Weltkrieges darin zu finden, daß die Schuldfrage des Ersten Weltkrieges von Anfang an zu einem heftigen Politikum wurde - und bis heute zu Recht debat- tiert wird. Aber vorwiegend spielt sich die Diskussion in der Deutung von Schuld und Versagen ab.

So stellt sich dieser Band in die Tra- dition von zwei früheren Bänden zum selben Thema; der erste wurde von Esmonde Robertson von der London School of Economics (LSE) veröffent- licht (Origins of the Second World

War: Historical Interpretations, 1971), der zweite von Robertson, zusammen mit Robert Boyce, ebenfalls von der LSE, der auch Herausgeber des vorliegen- den Bandes ist (Paths to War: New Essays on the Origins of the Second World War, 1989). Alle drei Bände werfen aber zweifelsohne ein aufklärerisches Licht auf die verschiedenen Umstände, die es letztlich einer einzigen Regierung er- möglicht haben, ganz Europa in ein Schlachtfeld und eine Trümmerland- schaft zu verwandeln. Die Schwäche, die Kurzsichtigkeit, die Phantasielosig- keit und auch der Egoismus anderer Re- gierungen spielten dabei eine enorme Rolle. Dies wird im vorliegenden Band überzeugend und kompetent in den Beiträgen zur Politik der rabiat natio- nalistischen polnischen Regierungen

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(eine exzellente Kurzanalyse von Anita Prazmowska), der wankenden demo- kratischen Führer der Tschechoslowa- kei (Igor Lukes), der egoistischen »Neu- tralen«, die fast alle mit Deutschland kollaborierten (Neville Wylie) darge- stellt. Phantasie und unrealistische Vor- stellungen waren dabei auf allen Seiten weit gestreut. Chinas Schwäche, so John Garver, hat bei den Japanern den Traum vom Asiatischen Reich entfacht, aber ihre Unfähigkeit, die amerikanische Re- aktion auf den Angriff auf Pearl Har- bor vorauszusehen, hat ihn zum Schei- tern verdammt. John Ferris zeigt in sei- nem Beitrag zu den Nachrichtendien- sten, daß sie trotz guter Arbeit bei den strategischen Entscheidungen wegen der inflexiblen Weltsicht Hitlers und Stalins dann doch keine Rolle spielten.

John Gooch beschreibt die Debatte in der Forschung um Mussolini, die sich auch um die Frage nach dem Realismus von dessen Einschätzungen der welt- politischen Lage dreht. Und die Ein- schätzung Hitlers und seiner Anhänger durch die Briten, Franzosen, Amerika- ner, Niederländer usw. steht natürlich im Mittelpunkt der Frage, warum Deutschland nicht früher und mit größerer Vehemenz entgegengetreten wurde, als es einen Punkt nach dem an- deren seiner vertraglichen Verpflich- tungen brach und nach allen Seiten ex- pandierte.

Verschiedene Ideologien waren da- bei Prismen, die die Weltsicht der un- terschiedlichen Seiten verschieden ver- formten, wie Alan Cassels zeigt. Man hätte aber noch einen Schritt weiterge- hen können, um aufzuzeigen, wie dann doch alle Seiten gemeinsam hatten, daß sie bis 1939 respektive 1941 eine hohe Toleranz gegenüber dem Mißgeschick anderer hatten: die einen als Angreifer, die anderen als Sich-Heraushalter. Mit dem Versagen des Völkerbundes hatte man sich auf der ganzen Welt einge- stimmt auf eine »Kismet«-Haltung, was

das Schicksal anderer anging, ein Achselzucken, daß traurigerweise von den guten Absichten der Friedensbe- wegungen in Großbritannien und Frankreich gespeist wurde, wie P.M.H.

Bell zeigt. Der Zweite Weltkrieg und die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands haben ein für alle Mal ge- zeigt, daß das Hinhalten der anderen Wange nicht immer zum Triumph des Guten über das Böse führt, womit die Lehren Christi durch die Gandhis ab- gelöst werden müssen, der selbst zuge- geben hat, daß sein passiver Widerstand nur bei einem humanen Gegner zum Erfolg führen konnte.

Strukturelle Faktoren haben ihre Rolle gespielt, wie die der Lukrativität des Wettrüstens (siehe die Beiträge der Herausgeber Joe Maiolo vom Depart- ment of War Studies, King's College London, und Robert Boyce) und die dé- formation professionelle der Diplomaten, die allzu leicht geneigt waren, nicht nur ihre Gastgeber zu verstehen, sondern auch mit ihnen zu sympathisieren (wie der Doyen der Diplomatiegeschichte dieser Epoche, Donald Cameron Watt, zeigt). Propaganda hat dem kleinen Bürger auf der Straße das Verständnis vernebelt, nicht nur in den totalitären Staaten, sondern auch in den demokra- tischen, wo ihn allerdings die Propa- ganda aus verschiedeneren Quellen umwaberte (Philip Taylor).

Es ist dieser strukturelle Teil, in dem einzelne Themen in bezug auf mehrere oder alle Protagonisten untersucht wer- den, der in diesem Band die frischesten Erkenntnisse bringt und der von der Aneinanderreihung von Regierungs- fallstudien wegführt. Das Fazit ist dann aber klar. Diese thematischen Analysen zeigen immer neue Aspekte des Ge- samtbildes auf, stellen dagegen keine monokausale Alternativantwort nach dem Primitivprinzip: »die Rüstungsin- dustrie allein ist schuld« vor, wie der amerikanische »IR«-Guru Robert Jervis

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selbst politologische Erklärungsansätze bewertet. Ein gut lesbares Buch, das be- sonders durch seine kurzen, pointier- ten Beiträge dem Leser die Arbeit er- leichtert.

D.B.G. Heuser

Kathrin Engel, Deutsche Kultur- politik im besetzten Paris 1940-1944: Film und Theater, München: Oldenbourg 2003, VII, 477 S. (= Pariser Historische Stu- dien, 63), EUR 49,80 [ISBN 3-486- 56739-X]

Bei der Betrachtung der Ambitionen der deutschen Kulturpolitik und Kultur- propaganda gewinnt man einen beson- ders scharfen Einblick in die Ziele der nationalsozialistischen Vorherrschaft gegenüber anderen Völkern. Deutsche und Franzosen kannten mancherlei Berührungspunkte im Kunst- und Kul- turschaffen, doch setzte sich beides in der deutschen Besatzungszeit von 1940 bis 1944 in eigenartiger Weise in Szene.

Es ist bekannt, daß nicht nur gegensei- tige Ablehnung zwischen Deutschen und Franzosen beobachtet wurde, wie Jean Bruller sie 1942 literarisch in >Le Si- lence de la mer< verarbeitete, wo ein deut- scher Offizier, der Frankreichs Literatur liebte, erst allmählich erkannte, daß Deutschland den künstlerischen Geist Frankreichs vernichten wollte. Mancher deutsche Besatzungsangehörige be- wunderte Frankreichs Kultur, und das wiederum spiegelte sich mitunter in französischen Filmproduktionen (S. 2).

Es ist zu konstatieren, daß es keine umfassende wissenschaftliche Bearbei- tung der deutschen Kulturpolitik im be- setzten Paris von 1940 bis 1944 für Film und Theater gibt. Mit zu dem For- schungsdefizit beigetragen hat sicher der Umstand, daß viele deutsche und französische Künstler, abgesehen von

den besonders herausragenden Prota- gonisten, deren Rolle politisch öffent- lich diskutiert wurde, nach 1945 kein großes Interesse daran zeigten, ihre En- gagements in der Zeit des Nationalso- zialismus zu kommentieren. In Frank- reich bewerteten zu Ende der vierziger Jahre Politik und Gerichte das Verhal- ten zahlreicher französischer Künstler, die bei deutschen Produktionen mit- wirkten.

Die Verfasserin des vorliegenden Bandes geht von zwei Beobachtungen aus: Einmal strebten die deutschen Be- satzungskräfte an, das französische Kul- turleben vornehmlich in Paris ab dem Waffenstillstand 1940 für eine befriste- te Zeit weiterarbeiten zu lassen. Sie wollten die französische Bevölkerung beruhigen sowie Ruhe und Ordnung stabilisieren. Schriftsteller, Regisseur und Schauspieler bei Theater und Film, Sänger und Komponisten sowie bil- dende Künstler sollten im französischen Kulturleben in bestimmten Grenzen ar- beiten dürfen und Variétés, Modehäu- ser und Restaurants ihre Dienste an- bieten. Diese kurzfristige Politik stand allerdings im Dienste einer längerfri- stigen Strategie, wonach die deutsche Kultur in Frankreich ständig mit eige- nen Produktionen nachsickern sollte, einmal für die Besatzungssoldaten im Sinne der Truppenbetreuung, zugleich aber auch zunehmend als Angebot für französische Kulturinteressierte. Diese deutsche Politik war ausgelegt im Sinn einer Kulturpropaganda und dem ge- nau kalkulierten Ziel, mit der Zeit die Überlegenheit der deutschen über die französische Kultur herzustellen, eine Überlegenheit, die ja von den Natio- nalsozialisten für ganz Europa, beson- ders in seinen östlichen Teilen ohnehin vorausgesetzt wurde (S. 22). Gerade ge- genüber den Franzosen allerdings, die in Propagandainszenierungen für be- stimmte Lebensbereiche unterschwel- lig mitunter als >dekadent< karikiert

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wurden, bestand deutscherseits tatsäch- lich ebenso ein gewisses Gefühl der Un- terlegenheit, nämlich angesichts einer manifesten >geistigen Vorherrschaft französischen Kulturschaffens mit be- deutender Ausstrahlungskraft auf vie- len Gebieten.

Die Verfasserin stellt sich die Frage, wie die verschiedenen, mit den skiz- zierten Aufgaben befaßten deutschen Dienststellen handelten. Reichsaußen- minister Ribbentrop und Propaganda- minister Goebbels verfolgten in der Auslands-Propaganda offenbar unter- schiedliche Ziele. In Frankreich standen sich deshalb die Deutsche Botschaft und das Deutsche Institut Paris sowie die Propaganda Abteilung Frankreich beim Militärbefehlshaber Frankreich gegen- über. Hinzu kam die deutsche Conti- nental Films in Paris unter Leitung von Alfred Greven. Greven war Goebbels' Reichsbeauftrager für das Filmwesen nicht nur in Frankreich. Die Regierung in Vichy, französische Berufsorganisa- tionen und das Heer der französischen Intellektuellen und Künstler standen in diesem Feld als weitere Akteure, und die Verfasserin möchte darstellen, wie sie zusammenwirkten, wie (S. 23) sie konkurrierten und wie sie von ihren an- visierten Zielen abwichen. Sie fragt, welche konkreten Kriterien die deut- sche Kulturpropaganda bestimmten, ei- ne damals junge Institution, die erst seit der Zeit des Ersten Weltkrieges ent- wickelt worden war. Die Festlegung auf die Medien Film (300 Lichtspielhäuser in Paris, 2500 in Frankreich) und Thea- ter (40 Theater in Paris) wird damit be- gründet, daß hier eine öffentliche Re- aktion zu erwarten stand, die freilich nicht immer gleich oder heute noch nach Quellenlage bemessen werden kann. Das Medium Film hat für die Pro- paganda den Vorteil, daß eine fertige Produktion einer sehr großen Anzahl von Zuschauern vorgeführt werden kann und unter Synchronisation auch

ausländischen Interessenten. Bei beiden Medien Film und Theater spielt Musik eine große Rolle, und die Vertreter der deutschen Kulturpolitik waren geneigt anzunehmen, daß die deutsche Musik, nicht zuletzt die Oper, bei den Franzo- sen die höchste Beliebtheit erzielte.

Die vorliegende Arbeit gliedert sich in drei Teile. Zunächst werden Koope- ration und Kontakte deutsch-französi- scher Kulturpolitk in den dreißiger Jah- ren, dann die Arbeit der deutschen Dienststellen in der Kulturpolitik und schließlich die Aufführungen deutscher Opern- und Theatergaststpiele in Paris sowie die Vorführung von Filmpro- duktionen untersucht.

Inwieweit gelang das deutsche Vor- haben, die nationale Expansion der Macht durch die Werbung für die eige- nen Kulturgüter in Frankreich effektiv zu begleiten und den Einfluß des fran- zösischen Kultureinflusses zurückzu- drängen? Das Urteil fällt negativ aus.

Die gezeigten Gründe dafür lösen man- che Forschungsfrage. Ende 1942 wur- den die Eingriffe in das französische Kulturleben härter, die sogenannte End- lösung der Judenfrage zeigte den Fran- zosen, daß die Deutschen unerbittlich alle ihre Ziele gegenüber französischen Interessen durchzusetzen suchten. Die wirtschaftliche Ausbeutung Frankreichs wurde vorangetrieben.

Eine andere sehr wichtige Frage be- traf die Wirtschaftlichkeit der Kunst- produktionen angesichts knapper wer- derider Mittel. Man wollte die Kosten für die Produktionen wenigstens teil- weise wieder einspielen. Unter diesem Gesichtspunkt w u r d e auch der be- schränkte Export von französischen Fil- men genehmigt. Die schrumpfende deutsche Arbeitsbasis in Paris w u r d e verursacht durch die Einziehung vieler deutscher Mitarbeiter zum Wehrdienst.

Andererseits versuchten die noch zunickbleibenden Mitarbeiter um jeden Preis, einen günstigen Eindruck über

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ihre Arbeit zu vermitteln, um ihrer Ab- ziehung vom angenehmen Aufenthalts- ort Paris entgegenzuwirken. Die deut- sche Kulturpolitik wurde nie nach ei- nem einzigen Plan konzipiert, die Strei- tigkeiten zwischen Deutscher Botschaft und dem Deutschen Institut Paris ei- nerseits sowie der Propaganda Abtei- lung Frankreich beim Militärbefehlsha- ber Frankreich andererseits wurden nie grundsätzlich ausgeräumt. Doch im Sommer 1942 ging die Federführung an die Deutsche Botschaft über. Man warb um die Gunst des Franzosen, aber die- se Faustformel ließ alles weitere offen.

Die deutschen Farbfilme >Die goldene Stadt< und >Miinchhausen< waren die ein- zigen mit herausragendem Erfolg, wahrscheinlich wegen des neuen Me- diums der Colorfilme. Im Theater wur- den >Rose Bernd< (G. Hauptmann) und

>Don Carlos< (F. Schiller) offenbar mit be- scheidenem Erfolg gekrönt.

Die Deutschen rechneten sich die recht hohe Zahl der eigenen Filmpro- duktionen in Frankreich als Erfolg an, doch zeigten die erzielten Umsätze das gegenteilige Bild. Die französische Be- völkerung war nicht grundsätzlich aus politischen Gründen den Themen der Filme abhold, vielmehr lehnten sie die schlechte Qualität der Produktionen ab.

Die Franzosen liebten die eigenen Stars, auch wenn sie von Willi Forst, Heinrich George, Hans Albers, Heinz Rühmann, Marika Rökk und Zarah Leander hör- ten.

Die vorliegende nützliche Arbeit zeigt einen sehr wichtigen Ausschnitt im Leben der Besatzungspolitik zwi- schen 1940 und 1944. Sie berichtigt die Phrase, Künstler seien international und verständen sich auch in schwierigen Zeiten. Sie weist wiederum auf ein grundsätzliches, bekanntes Quellen- problem, denn die Haltung der franzö- sischen Bevölkerung ist nur ungenü- gend darstellbar. So steht auch die un- gelöste Frage ohne Antwort, wie weit

die Parole vom >dekadenten Erbfeind<

(S. 2) 1940 noch galt, da kunstinteres- sierte Franzosen nicht grundsätzlich deutschem Filmschaffen fernstanden.

Ludger Tewes

Hartmut Nöldeke, Volker Hart- mann, Der Sanitätsdienst in der deutschen Flotte im Zweiten Weltkrieg. Schwere Seestreit- kräfte. Organisation, Medizini- sche Wissenschaft, Erfahrungen und Lehren, Hamburg, Berlin, Bonn: Mittler 2003, 231 S„

EUR 34,00 [ISBN 3-8132-0803-6]

Das vorliegende Buch schließt als drit- ter Band die Arbeit der Autoren über den Sanitätsdienst in der deutschen Flotte im Zweiten Weltkrieg ab; er- schienen waren bereits 1996 >Der Sa- nitätsdienst in der deutschen U-Boot- Waffe und bei den Kleinkampfverbän- den< sowie 1999 >Der Sanitätsdienst in der deutschen Flotte im Zweiten Welt- krieg. Leichte Seestreitkräfte<. Der vor- liegende Band, trotz vieler Querver- weise für sich lesbar, beschäftigt sich über die eigentlichen schweren See- streitkräfte (Schlachtschiffe, Linien- schiffe, Panzerschiffe und Kreuzer) hin- aus auch mit den Hilfskreuzern. Dies ist eine sinnvolle und wertvolle Zuord- nung, weil für beide Gruppen mit dem Einsatz in entfernten Seegebieten über längere Zeiträume bei hohen Besat- zungsstärken ähnliche Grundbedin- gungen vorlagen.

Die Autoren haben sich vorgenom- men, »über Erlebnisse, Erfahrungen und Ergebnisse des Sanitätsdienstes an Bord deutscher Kriegsschiffe im Zwei- ten Weltkrieg so umfassend zu berich- ten, wie die Quellenlage dies zulässt«.

Die Quellenlage ist schwierig, ärztliche Kriegstagebücher und Kriegssanitäts- berichte sind nur sehr lückenhaft er-

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halten. Um so bemerkenswerter ist es, daß es den Autoren gelang, relevante Zeitzeugen zu befragen und private Be- stände zu erschließen.

In der von ihnen gewählten Gliede- rung wird zunächst eine Überblicks- darstellung geboten, die auf die Ent- wicklung des Sanitätsdienstes an Bord im Gefecht, grundsätzliche Weisungen zur ärztlichen Tätigkeit an Bord, sa- nitätsdienstliche Kriegserfahrungen und die Ausstattung der Schiffe mit Sa- nitätsmaterial eingeht. Neben viel Or- ganisatorischem finden sich in diesem Abschnitt auch die zusammenfassen- den Aussagen zu besonders wichtigen Sachthemen. An diese Darstellung schließt sich ein erster >biographischer<

Teil an, in dem für alle 18 schweren Ein- heiten der Kriegsmarine an Hand ihrer Lebensläufe über Erlebnisse, aber auch erneut zu Organisation, Ausstattung und Erfahrungen berichtet wird. Ein dritter, wiederum grundsätzlicher Teil behandelt das Themenspektrum für die besonderen Bedingungen der Hilfs- kreuzer. Auch für diese schließt sich ei- ne biographische Darstellung an, er- gänzt durch Aussagen zu >Versorgern und Begleittankern<. Im Anhang findet sich eine Stellenbesetzungsliste der Sa- nitätsoffiziere für die behandelten schweren Einheiten, Hilfskreuzer und einen Teil der Troßschiffe und Tanker.

Vom Umfang her liegt der Schwer- punkt des Buches auf den Erlebnissen der schweren Einheiten der Kriegsma- rine. Die Orientierung an den Lebens- läufen der einzelnen Schiffe führt aller- dings zu sehr unterschiedlichem Infor- mationsgehalt; von den behandelten 18 schweren Einheiten bleibt es zu einem Drittel bei Erlebnissen ohne Relevanz für den Sanitätsdienst, wohl nicht nur eine Folge der schwierigen Quellenla- ge. Nicht ganz improblematisch ist auch die unkommentierte Wiedergabe zeit- genössischer Berichte in ihrer überaus positiven Färbung. N u r ganz selten

taucht dabei auch einmal Versagen auf (z.B. Blücher, S. 97); vielleicht war doch nicht alles perfekt, nicht jeder ein Held.

Insgesamt gelingt jedoch eine sehr ein- dringliche Darstellung extremer Situa- tionen, die dem Leser ein Vorstellung davon vermitteln kann, unter welch schwierigen Bedingungen der Sanitäts- dienst im Gefecht seine Leistungen er- brachte. Und darüber hinaus auch ein Bild davon, in welch hohem Maße der Bordsanitätsdienst mit der Besatzung in wechselseitigem Vertrauen ver- wachsen war und sein mußte, etwas, was nach langen Friedensjahren man- chem Organisator (und Berater) zu feh- len scheint.

Erfahrungen und Ergebnisse finden sich eher in den beiden Uberblickstei- len des Buches. Hier ist insbesondere hinzuweisen auf die zusammenfassen- den Aussagen zur Chirurgie und Nar- kose an Bord, zu Verbrennungen, zu Unterkühlungen und zu Gas- u n d Rauchvergiftungen. Während der Sa- nitätsdienst auf die (nicht eintretende) Schädigung durch Giftgas eingestellt war, wurden andere Verletzungsbilder erst während des Krieges erkannt (Hit- zeschädigung der Atemwege und Lun- gen, Schäden durch Gefahrstoffe) oder einer abschließenden Meinungsbildung zugeführt (Unterkühlung). Bemer- kenswert auch die Ausführungen zu Gesundheitsvorsorge und Ernährung während der Langzeiteinsätze der Hilfskreuzer.

Die Autoren zitieren zum Abschluß den konzeptionellen Grundsatz des heutigen Sanitätsdienstes der Bundes- wehr, wonach die medizinische Ver- sorgung der Soldaten, wo auch immer, im Ergebnis nicht schlechter sein dürfe als in der Heimat. Das legt die Frage na- he, ob die Kriegsmarine für ihren Sa- nitätsdienst eine Konzeption (oder et- was Vergleichbares) gehabt hat, und ob auch damals eine Orientierung am Stan- dard des zivilen Gesundheitswesens an-

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gestrebt wurde. Der wiederholte Hin- weis auf fast >friedensmäßige Chirur- gie< an Bord von Hilfskreuzern reißt das Spannungsfeld an, klärt es aber nicht.

Auch wenn manche Frage, nicht zu- letzt wegen der schwierigen Quellenla- ge, offen bleibt, ist den Autoren ein in- formatives Werk über den Bord-Sa- nitätsdienst der deutschen Marine im Zweiten Weltkrieg gelungen. Seine Ver- breitung, auch über das Fachpublikum hinaus, kann nur empfohlen werden.

Uwe Dirks

Marcello La Speranza, Bomben auf Wien. Zeitzeugen berichten, Wien: Ibera 2003,327 S., EUR 25,- [ISBN 3-85052-169-9]

Jörg Friedrich hat mit seinem Buch »Der Brand« die Maßstäbe gesetzt, an denen sich die wissenschaftliche Auseinan- dersetzung mit dem Luftkrieg über Deutschland im Zweiten Weltkrieg zu orientieren hat. Friedrich klammerte al- lerdings die Geschichte des Luftkriegs über der »Ostmark« aus (warum ei- gentlich?). Die Arbeit von La Speranza ist ein Baustein, um diese Lücke zu fül- len. Wien geriet erst relativ spät ins Vi- sier der alliierten Bomberflotten. Der er- ste Großangriff erfolgte am 10. Sep- tember 1944, dem schwersten Angriff war die Stadt am 12. März 1945 ausge- setzt, als die Bomberverbände der 15. US-Luftflotte ihr Hauptziel, die Flo- ridsdorfer Ölraffinerie, verfehlten und statt dessen Teile der Wiener Innenstadt zerstörten. Daß Wien im Vergleich zu anderen Städten des »Dritten Reiches«

noch relativ glimpflich davonkam, hat die Stadt der Intervention des sowjeti- schen Oberkommandos zu verdanken, das der Roten Armee einen weiteren Häuserkampf in den Ruinen einer zer- störten Großstadt ersparen und die be- vorstehende Besatzungsherrschaft nicht

auf einem Trümmerhaufen antreten wollte.

La Speranza streift viele interessan- te Details, etwa die gefährlichen Flak- splitter, die die Zivilbevölkerung noch zusätzlich zu den Bomben bedrohten, oder das Hinauszögern des Alarms bis zur letzten Minute, um die Arbeiten in den Rüstungsbetrieben so lange wie möglich fortzusetzen. Die in die Bun- ker geflüchtete Bevölkerung befand sich dann in einer fragwürdigen Sicherheit, da sie Gefahr lief, bei unbedachten Äußerungen von Spitzeln an die Ge- stapo verraten zu werden. Erwähnt werden auch die Einsätze der »Me 109«, die von ihren Einsatzflughäfen in As- pern, Bad Vöslau, Deutsch-Wagram und anderen Orten in der Umgebung Wiens erfolgten, in der Regel allerdings ohne die Bomberflotten zu erreichen, da sie vorher von den Begleitjägern in Luftkämpfe verwickelt wurden.

Einen besonders bemerkenswerten Aspekt stellen die von Friedrich Tamms entworfenen Flaktürme dar, die freilich nur einen kleinen Teil des Luftkriegs- szenariums darstellen und daher in dem Buch nur peripher behandelt wer- den. Diese nach ästhetischen Gesichts- punkten errichteten »Schießdome«

(Tamms) sind eine Besonderheit der Städte Berlin, Hamburg und Wien, die in der österreichischen Hauptstadt noch heute zur Gänze sichtbar und teilweise der Öffentlichkeit zugänglich sind. Die halbautomatischen 12,8-cm-Z Willings-- Flakgeschütze auf den Flaktürmen hat- ten gegen Luftziele eine Reichweite von 15 km. In ihrem Inneren boten die Tür- me nicht nur der Schutz suchenden Zi- vilbevölkerung, sondern auch Rü- stungsbetrieben Platz. Das Leben in ei- nem dieser riesigen Bauwerke und die damit verbundene psychische Bela- stung wird z.B. in dem folgenden Be- richt einer damals 22jährigen Zeitzeu- gin anschaulich: »Der Raum war luftig, man bekam Wasser oder Baldriantrop-

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fen zur Beruhigung. Frauen bemühten sich, die vielen Menschen zu versorgen, was kaum gelang. Auf dem Dach dieses Bunkers war die Flak aufgestellt. Ihre Kanonen schössen aus allen Rohren. Es dröhnte, die Leute schrien, doch wir wußten, daß nichts passieren konnte bei diesen dicken Betonmauern. Damals lernte ich Menschen kennen. Jeder war sich selbst der Nächste. Ich schwor mir, nie wieder in Bunker zu gehen« (S. 105).

Der Großteil des Buches ist solchen Zeitzeugenberichten gewidmet, es han- delt sich um eine Sammlung von Primärquellen. Das Thema ist breiter gefaßt, als es der Buchtitel vermuten läßt, da auch das Kriegsende bzw. die Konfrontation der Zivilbevölkerung mit der Roten Armee miteinbezogen wird.

In der Einleitung fehlen die Quellenbe- lege im Text, weil der Autor eine po- puläre, »lebhafte« und gewissermaßen journalistische Darstellungsweise der detaillierten historischen Aufarbeitung vorgezogen hat. Der methodische Zu- gang zur Befragung der Zeitzeugen wird nicht ausreichend erläutert. Den- noch bietet das Buch auch für Historiker interessante Informationen und eröff- net damit einen wichtigen Zugang zur Problematik des Luftkriegs über Wien.

Michael Thöndl

Reinhild Gräfin von Hardenberg, Auf immer neuen Wegen. Erin- nerungen an Neuhardenberg und den Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Berlin: Lu- kas 2003,202 S., EUR 19,80 [ISBN 3-96872-02-3]

Ist über den militärischen Widerstand gegen Hitler nicht schon alles gesagt?

Gibt es noch etwas, das man der For- schung hinzufügen könnte?

Über allen akademischen Untersu- chungen zu politischer Programmatik,

Struktur und behaupteter Beteiligung des Widerstands am Unrecht des NS- Regimes sind in den letzten Jahren ge- legentlich die beteiligten Menschen et- was aus dem Blick geraten. Eine der we- nigen noch lebenden Beteiligten, »Won- te« Hardenberg, trägt jetzt das Ihre dazu bei, dies wieder etwas zurechtzurücken.

»Wonte« ist der familieninterne Spitz- name für Reinhild Gräfin von Harden- berg, Nachfahrin des Staatskanzlers Graf Hardenberg und Tochter des letz- ten Schloßherren auf Neu-Hardenberg, Carl-Hans Graf von Hardenberg, eines Hitlergegners der ersten Stunde. Mehr noch, die Zweitälteste Tochter war ihrem Vater Gutssekretärin und rechte Hand.

Carl-Hans Graf von Hardenberg war kein Politiker, vielleicht nicht ein- mal ein politisch denkender Mensch.

»Offizier aus Leidenschaft« nennt sei- ne Tochter den jagdbegeisterten Groß- grundbesitzer und Oberstleutnant der Reserve. Aber er war in klaren Katego- rien von Gut und Böse aufgewachsen - Kategorien übrigens, die er offensicht- lich seinen Kindern weiterzuvermitteln wußte. Der vorliegende Band läßt die Welt des schloßgesessenen Adels der Vorkriegszeit wieder aufleben, jener Monarchisten und Deutschnationalen, für die Kritik an den Hohenzollern und sogar an ihrer Abdankung tabu, und für die dagegen der greise Hindenburg vor allem »der Feldmarschall« und weni- ger »der Reichspräsident« war. Da ist die Rede von Kutschfahrten durch son- nenumflutete Felder der Mark, von ei- nem Herrenhaus zum nächsten Schloß (die Mutter der Autorin stammte aus der Familie der Grafen von der Schu- lenburg), von den engen verwandt- schaftlichen Verbindungen und Verwo- benheiten. Auch die selbstverständli- che Bindung an den traditionellen Pro- testantismus tritt hervor - mit der Konfirmation wird aus dem Mädchen die »Komteß Wonte«, die von der zahl-

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