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Mit modernen Methoden in interdisziplinärer Kooperation erforschen Senckenberg- Wissenschaftler die Vielfalt des Lebens Integrative Taxonomie – eine Zukunftswissenschaft Forschung

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Forschung

Einer gern zitierten Schätzung zufolge sind 86 bis 91 Pro- zent aller auf dem Land und im Ozean lebenden Arten noch unbekannt (Mora et al. 2011). Nicht ganz so dramatisch ist die Sichtweise von Costello et al. (2013b), die vermu- ten, dass bereits zwei Drittel aller Arten entdeckt sind. So oder so, es stellt sich die Frage, wie und anhand welcher Merkmalskriterien Pflanzen- und Tierarten beschrieben und gegeneinander abgegrenzt werden. Die wissenschaftliche

Artdiagnose ist zum einen stark geprägt vom jeweiligen the- oretischen Artkonzept, das ihr zugrunde liegt (siehe Kasten 1: Artkonzepte). Zum anderen ist sie stets nur so verläss- lich wie die Merkmalssysteme, derer sie sich bedient. Weil Arten in der Natur jedoch höchst komplexe Gebilde sind, reicht ein einziger Merkmalskatalog mitunter nicht immer aus, um eine Art eindeutig zu bestimmen (Schlick-Steiner et al. 2010).

Das Aussehen kann täuschen

Unterschiede im Erscheinungsbild (dem Phänotyp) können beispielsweise auf Artverschiedenheit hinweisen, müssen dies aber nicht notwendigerweise (Abb. 1, 2). So sind die Landschildkröten aus der Verwandtschaft der Maurischen Landschildkröte (Testudo graeca) dermaßen variabel, dass manche Autoren sie einer Vielzahl von Arten zugeordnet hatten, bevor genetische Untersuchungen zeigen konn- ten dass dies nicht korrekt ist (Fritz et al. 2007). Offenbar

Integrative Taxonomie – eine Zukunftswissenschaft

Mit modernen Methoden in interdisziplinärer Kooperation erforschen Senckenberg-

Wissenschaftler die Vielfalt des Lebens

von Martin Päckert, Heiko Stuckas, Raffael Ernst, Michael Mende & Uwe Fritz

Wie viele verschiedene Arten von Organismen gibt es auf unserem Planeten? Wie viele davon kennen wir überhaupt und wie viele haben wir noch nicht einmal entdeckt? Hinter diesen Fragen verbirgt sich eine schier unlösbare Herausforderung für jene Wissenschaftler, welche die Vielfalt des Lebens auf der Erde beschreiben und beim Namen nennen, die Taxonomen. Die allerdings sind weltweit besorgt, ob sie tatsächlich in der Lage sind, all diese noch unbekannten Arten zu entdecken und zu benennen, bevor sie ausgestorben sind (Costello et al. 2013 a). Bei gleichbleibendem Output würde das nämlich etwa 15 000 Jahre dauern (Raupach 2010)!

Abb. 2

Bei zentralasiatischen Steppenschildkröten (Testudo horsfieldii-Komplex) wurden mehrere Arten und Unterarten beschrieben, die sich nicht mit den schwach differenzierten genetischen Linien decken (Fritz et al. 2009).

Foto: Markus Auer, Mazdavan, Nordost-Iran

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Abb. 1 a/b Landschildkröten (Testudo graeca) aus Syrien: Das hell gefärbte Exemplar mit der ausgeheilten Verletzung (rechts, b) stammt aus einer ariden Gegend im Windschat- ten des Antilibanon-Gebirges.

Das dunklere und wesentlich größere Tier (links, a) kommt aus einem wesentlich humi- deren Lebensraum mit mehr Futter in Nord-Syrien. Beide gehören zur selben geneti- schen Linie und lassen sich in allen bislang untersuchten Markersystemen nicht unter- scheiden. Fotos: Pavel Široký

a b

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schen Sammlungen. Die biologischen Objekte dokumentieren nicht nur die Vielfalt und Verbreitung von Arten inklusive der individuellen Variabilität. In den Sammlungen werden außerdem die sogenannten Typusexemplare aufbewahrt. Sie werden mit jeder Neubeschreibung einer Tierart quasi als deren „Urmeter“ nach den Regeln des Internationalen Codes für Zoologische Nomenklatur (ICZN 1999) festgelegt. Der Artname ist an das Typusexemplar geknüpft, das in Zweifels- fällen aufzuklären hilft, ob zum Beispiel versehentlich eine längst bekannte Art nochmals als „neu“ beschrieben wurde.

Gerade bei morphologisch schwierigen Gruppen liefert der Vergleich von DNA-Sequenzen der Typusbelege wichtige Information. Da mit fortschreitendem Alter der Belege das Erbmaterial in umso kürzere Abschnitte zerbrochen ist, sind oft viele kurze DNA-Stücke zur Rekonstruktion einer länge- ren und informativen Sequenz nötig. Grundsätzlich müssen dann die Extraktion von Erbgut und seine Vervielfältigung in einem Reinraum stattfinden, um Verunreinigungen und fehlerhafte Analysen zu vermeiden (Abb. 3, 4). Dass sich der Aufwand aber durchaus lohnt, zeigen Beispiele aus dem DNA-Labor von Senckenberg Dresden, das bei Schildkröten mehrere „harte Nüsse“ knacken konnte.

Ohne Namen kein Artenschutz

Anhand eines etwa 160 Jahre alten Typusexemplars aus dem Londoner Natural History Museum konnte der Artname für eine der seltensten Schildkröten der Welt, die Südliche Batagur-Flussschildkröte (Batagur affinis; Abb. 5), bestimmt werden (Praschag et al. 2008). Erst der genetische Vergleich von Populationen aus verschiedenen Teilen des Verbrei- tungsgebiets hat gezeigt, dass zwei verschiedene Arten Erlernte Verhaltensmerkmale

Schlussendlich gehören zu den artspezifischen Merkmalen tierischer Organismen mitunter auch hochkomplexe Ver- haltensmerkmale. Viele davon sind entscheidend bei der Verpaarung artgleicher Individuen und daher potenzielle Indikatoren für reproduktive Barrieren im Sinne des biolo- gischen Artkonzepts (siehe Kasten „Artkonzepte“). Hierzu gehören z. B. umfangreiche Lautrepertoires, wie die Revier- gesänge der Singvögel. Bei diesen stellt sich wiederum das Problem, dass die Singvögel ihren Gesang in seiner art- oder sogar populationsspezifischen Ausprägung (Dia- lekt) von Artgenossen erlernen, er ist also nicht zur Gänze in den Genen festgeschrieben. Erlernte Merkmale können im Laufe der Stammesgeschichte deutlich schneller in unab- hängigen Prozessen dieselbe Ausprägung entwickeln als angeborene Merkmale (konvergente Evolution) und daher die tatsächlichen Zusammenhänge der Stammesentwick- lung (Phylogenie) eher verschleiern als erhellen.

Ein wichtiges Fazit: Die solide wissenschaftliche Art- bestimmung sollte sich auf mehrere unabhängige Merk- malssysteme stützen, die sich optimal ergänzen. Dieser multidisziplinäre Ansatz hat unter dem Begriff „Integrative Taxonomie“ Schule gemacht.

Genetische Analyse der „Urmeter“ – Typusexemplare im Labor

Allein in Deutschland hüten zoologische, botanische, palä- ontologische und mineralogische Sammlungen einen Schatz von rund 140 Millionen Belegexemplaren. Davon liegen 38 Millionen – immerhin mehr als ein Viertel – in Senckenbergi- wird die morphologische Variabilität der Landschildkröten

durch unterschiedliche Umweltbedingungen hervorgerufen.

Hier spielen Faktoren wie Nahrungs- und Wasserangebot, Substratfeuchte, aber auch die Beschaffenheit und Färbung des Bodens eine Rolle. Gerade Landschildkröten zeigen oft eine Ähnlichkeit mit der Bodenfärbung – man spricht hier von Substratrassen (vgl. Fritz et al. 2007; Daniels et al. 2010). Ganz im Gegensatz dazu können sich hinter mor- phologisch weitgehend einheitlichen Wasserschildkröten manchmal genetisch tief divergente Linien verbergen, die sehr wahrscheinlich verschiedenen Arten entsprechen (Var- gas-Ramírez et al. 2010; Fritz et al. 2011).

Auch DNA-Analysen können in die Irre führen Die schnelle und vermeintlich sichere Diagnose genetischer Linien im Labor und deren Klassifizierung in Abstammungs- gemeinschaften im Sinne des phylogenetischen Artkonzepts (siehe Infokasten „Artkonzepte“) hat hingegen auch ihre Tücken. Die häufig zur Artbestimmung, wie dem genetischen Barcoding, herangezogene mitochondriale DNA (mtDNA) erzählt in Wirklichkeit nur die Abstammungsgeschichte der Weibchenpopulationen, denn sie wird bei den meisten Tie- ren nur über die Mütter weitervererbt. Manchmal werden die Mitochondrien aber auch durch Hybridisierung über Artgrenzen hinweg ausgetauscht, sodass der Blick nur auf die mtDNA allein ein falsches Bild vermittelt (Currat et al.

2008). Zur sicheren genetischen Artdiagnose sollte daher in der Regel auch Kern-DNA untersucht werden (nukleäre DNA, aus dem Zellkern), die von beiden Elternteilen vererbt wird. Nur durch solche Analysen lassen sich beispielsweise Hybridphänomene verlässlich nachweisen und damit das Ausmaß von Genfluss zwischen Populationen bestimmen.

von Batagur-Flussschildkröten existieren und dass sich die südliche Art sehr deutlich von der nördlichen (Batagur baska) unterscheidet (Praschag et al. 2007). Da nationale wie inter- nationale Schutzmaßnahmen und Gesetze jedoch nur für wissenschaftlich benannte Arten gelten, konnten die Schutz- strategien erst angepasst werden, nachdem die Namen der beiden Spezies geklärt waren – beide gehören leider zu den 25 am stärksten vom Aussterben bedrohten Schildkrötenar- ten der Welt (Turtle Conservation Coalition 2011).

Typusexemplar mit falschem Fundort

Ein erfreulicheres Ergebnis erbrachte die Untersuchung des Typusexemplars einer vermeintlich ausgestorbenen Schild- krötenart, der Seychellen-Klappbrustschildkröte (Pelusios seychellensis). Von dieser Art waren nur drei Exemplare über- haupt bekannt, die angeblich Ende des 19. Jahrhunderts auf der Seychellen-Insel Mahé gesammelt worden waren. Man hielt die Art deswegen für ausgestorben. Wie nun jedoch

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Abb. 3/4 Links: Blick in den Reinraum

des Dresdener Molekular- labors zur Analyse histori- scher DNA aus Museumsbe- legen. UV-Licht-Bestrahlung

zerstört DNA-Spuren nach jeder Analyse und verhindert so Verunreinigungen bei Folgeanalysen.

Foto: Robert Sommer Rechts: Von Museumsex- emplaren, z. B. Vogelbälgen (hier ein Klippenkleiber, Sitta tephronota, aus Afghanistan) kann Gewebematerial zur DNA-Analyse gewonnen werden. Foto: Heidi und Hans-Jürgen Koch, www.

heidihanskoch.com

Artkonzepte

Die Phylogenetik betrachtet eine Art als Abstammungsgemeinschaft von einem gemeinsamen Vorfahren (monophyletische Einheit). Das aus dieser Sichtweise begründete phylogenetische Artkonzept bedient sich daher zur Diagnose und Klassifizierung von Arten Stammbaumhypothesen, die sowohl von genetischen als auch morphologischen, ja sogar akustischen Merkmalen abgeleitet werden können.

Es besteht jedoch selbst für einzelne Organismengruppen keine allgemeingültige Einigkeit darüber, wie hoch das Ausmaß an Merkmalsverschiedenheit sein muss, um phylogenetische Artgrenzen zu begründen (z. B. 2 % Sequenzunterschied des mito- chondrialen Cytochrom-b-Gens bei Vögeln). Der integrative taxonomische Ansatz führt deswegen die Ergebnisse mehrerer unabhängiger Merkmalsanalysen (z. B.

Genetik, Morphologie, Verhalten) in einer Synthese zusammen und zieht daraus Rückschlüsse auf Artgleichheit bzw. Artverschiedenheit.

Das maßgeblich von Ernst Mayr begründete biologische Artkonzept betrach- tet eine Art als reproduktive Einheit, die sich gegenüber anderen Einheiten durch reproduktive Isolationsmechanismen abgrenzt. Diese können sowohl vor als auch nach der Verpaarung wirksam sein. Vor der Paarung (präzygot) wirken z. B. Ver- haltensunterschiede. Sind die Nachkommen beispielsweise nicht fortpflanzungsfähig (Hybridsterilität), wie bei Paarungen von Esel und Pferd, so spricht man von postzy- goten Isolationsmechanismen.

Das sehr vereinfacht zusammengefasste Hauptkriterium des Biospezieskonzepts für die Forschung ist: Innerhalb einer Art herrscht Genfluss, zwischen Arten nicht.

a

b

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Abb. 5 a/b

Batagur baska (a) und Batagur affinis (b), zwei akut von der Ausrottung bedrohte Flussschildkrötenarten, die Panzerlängen bis zu 60 cm erreichen können. Foto oben:

S. M. A. Rashid, unten: Brian Horne

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es herrscht dort relativ kleinräumiger mitochondrialer Gen- fl uss und sogar großräumiger nukleärer Genfl uss (Abb. 9).

Alles weist darauf hin, dass sich auf dem europäischen Kontinent Individuen beider Linien miteinander paaren und fruchtbare Nachkommen zur Welt bringen. Ganz anders die südlichsten Populationen in Nordafrika und auf Zypern. Sie sind nicht nur räumlich und offenbar auch genetisch von den Festlandpopulationen isoliert, ihre Gesänge werden von deutschen Tannenmeisen im Playback-Experiment seltener und weniger aggressiv beantwortet. Die deutschen Vögel sehen die südeuropäischen Verwandten also nicht mehr als Artgenossen an, der Gesang stellt somit eine potenzielle reproduktive Barriere nach dem Biospezies-Konzept dar.

Klimawandel und Besiedlungsgeschichte erklären komplexe Verbreitungsmuster

Wolfsmilchschwärmer sind aufgrund ihrer extremen Vari- abilität in der Farbmusterung des Raupenkleids sowie der Vorderfl ügel des Falters in eine Vielzahl von Taxa auf der Gattungs- bis zur Unterartebene eingeteilt worden, den Hyles euphorbiae-Artenkomplex (Abb. 10). In Zusammen- arbeit mit dem Projektbereich C von BiK-F verglich man im DNA-Labor Dresden die morphologischen mit den geneti- schen Verbreitungsmustern. Die geografi sche Verbreitung der Raupenmorphen unterstützte zunächst die Hypothese einer großräumigen Hybridisierungszone zweier Taxa im Die Reviergesänge der Singvögel wiederum sind um eini-

ges komplexer als Amphibienrufe und daher noch besser zur Artdiagnose geeignet, z. B. bei den südostasiatischen Timalien der Gattung Pnoepyga (Päckert et al. 2013). In den temperaten und subalpinen Gebirgswäldern Südostasiens unterscheiden sich die beiden Schwesterartenpaare sowohl genetisch und bioakustisch als auch in ihrer Einnischung in Waldhabitate eng umrissener Höhenstufen (Abb. 8). Die Chinesischen Schuppentimalien trennten die Senckenberg- Wissenschaftler aufgrund ihrer unerwartet deutlichen genetischen und akustischen Eigenständigkeit unter dem revalidierten Artnamen Pnoepyga mutica von der westli- chen Schwesterart P. albiventer.

Merkmalsdifferenzierung in geografi scher Isolation Die geografi sche Verbreitung von Artmerkmalen bildet Artgrenzen nicht immer scharf auf der Landkarte ab. Die großräumige Vermischung zweier Phänotypen inklusive ihrer Zwischenformen kann in derselben Verwandtschaftsgruppe sogar einhergehen mit Separation und Differenzierung am Rand des Verbreitungsgebiets, wie bei der Tannen- meise (Periparus ater). Diese Art tritt in Europa in vier klar getrennten mitochondrialen Linien auf, die aus taxonomi- scher Sicht vier Unterarten-Gruppen entsprechen (Tietze et al. 2011; Abb. 9). In Mitteleuropa überschneiden sich die Verbreitungsgebiete zweier Gruppen (Pentzold et al. 2013), anhand von DNA-Sequenzen aus dem Typusexemplar gezeigt

werden konnte, war bei der Artbeschreibung Anfang des 20.

Jahrhunderts der Fundort verwechselt worden: In Wirklichkeit gehört das Typusexemplar von Pelusios seychellensis zu einer weit verbreiteten westafrikanischen Art, Pelusios castaneus, die auf den Seychellen gar nicht vorkommt. Die Umstände, die zu diesem Irrtum geführt haben, lassen sich nicht mehr mit Sicherheit rekonstruieren, doch das beruhigende Ergebnis der Forschungen ist, dass eine Schildkrötenart weniger aus- gestorben ist (Stuckas et al. 2013).

Tierlaute verraten die Stammesgeschichte

Vögel kann man an ihrem Gesang erkennen, die Arten sind – wie Wissenschaftler sagen – bioakustisch zu unter- scheiden. Etwas weniger bekannt mag es sein, dass diese Methode auch bei Amphibien als Standardverfahren einge- setzt wird. Es gibt nämlich in der Tat eine Ordnung – die Froschlurche (Anura) –, bei der die Lautäußerungen heran- gezogen werden müssen, um einzelne Arten voneinander zu unterscheiden – ein echtes Alleinstellungsmerkmal inner- halb der Amphibien!

Damit bei der Beschreibung einer neuen Art (Alpha-Taxono- mie) mit dem Originalbeleg alle Merkmale nachvollziehbar hinterlegt werden können, müssen diese Laute aufgezeich- net werden – die Wissenschaftler nehmen also neben

Zollstock und Kamera auch Mikrophone mit ins Gelände und veranschaulichen die Froschlaute anschließend in Form von Diagrammen (Sonagrafi e, Abb. 6). Die Herpetologen am Dresdner Standort von Senckenberg verwendeten diese bioakustische Information bei der Beschreibung eines süd- amerikanischen Pfeilgiftfroschs (Allobates spumaponens), der als bislang unerkannte „kryptische“ Art noch auf seine Entdeckung gewartet hatte (Abb. 7, Kok & Ernst 2007). Die- ser integrative taxonomische Ansatz führte zudem noch zu überraschenden Ergebnissen bei der Aufklärung der Ver- wandtschaftsbeziehungen von Fröschen des Guianaschilds in Südamerika. Die winzigen Glasfroscharten der Gattung Hyalinobatrachium sind zwar anhand von Größenmerk- malen und Farbunterschieden nicht gut zu unterscheiden, ihre Paarungsrufe sind jedoch extrem artspezifi sch. Zudem stimmen die molekularen Daten so gut mit der akustischen Abgrenzung überein (Abb. 7 a), dass sogar zwei bisher nicht identifi zierte, kryptische Arten neu beschrieben werden konnten (Castroviejo-Fisher et al. 2011).

Die Harlekinfröschchen der Gattung Atelopus wiederum weisen speziell in den Tiefl andregionen des Guianaschilds einen ausgeprägten Polymorphismus hinsichtlich Färbung, Musterung und Hautstruktur auf. Aufgrund von Rufmerkma- len und molekularer Daten müssen alle diese Morphotypen jedoch klar der nominellen Art Atelopus fl avescens zugeord- net werden (Abb. 7b).

SpektrogrammOszillogrammSpektralschnitt Ruf

Noten

Fundamentale Frequenz Dominante Frequenz

Harmonien

1. Harmonie 2. Harmonie 2. Note

FrequenzAmplitude Lautstärke

=

= =

Oszillogramm und Spektrogramm des Rufs von Allobates spumaponens (Aromobatidae). Einige quantitative Parameter sind bei wechselwarmen Organismen wie Fröschen von der jeweiligen Umge- bungstemperatur abhängig. Daher sollte eine Rufbeschreibung immer eine Temperaturangabe enthalten (im Bsp.: aufgenommen bei 25 °C Umgebungstemperatur). Eine Note entspricht der kleinsten Einheit eines Rufs, der aus einer oder mehreren Noten (im Bsp.: 7 Noten). Die Variation der Lautstärke (Amplitude) eines Rufs wird mithilfe eines Oszillogramms, die Variation der Frequenz im Spektro- gramm dargestellt. Zur Ermittlung der Amplitude einzelner Harmonien dient ein Spektralschnitt. Hier ist die zweite Note des Rufs dargestellt. Der Pfeil weist auf den Messpunkt für die dominante Frequenz.

Vereinfachte schematische Darstellung der integrativen taxonomischen Analyse zweier neotropischer Froschgattungen – a. Glas- frösche der Gattung Hyalinobatrachium aus dem Guianaschild als Beispiel signifi kanter genetischer Divergenz (hier mitochondri- ale 16S rRNA Sequenz als Standardmarker für Amphibien) bei gleichzeitig geringer phänotypischer Differenzierung und klarer bioakustischer Abgrenzung. – b. Harlekinfrösche der Gattung Atelopus, ebenfalls aus dem Guianaschild als Beispiel ausgeprägter phänotypischer Differenzierung bei gleichzeitig geringer genetischer Divergenz (hier zwei Kerngene, POMC und Rag-1 sowie zwei mitochondriale Gene 16S und 12S rRNA) und fehlender bioakustischer Abgrenzung. Fotos: Raffael Ernst

2 4 6 8 10

2 4 6 8 10 kHz

0.5 1.0 1.5 2.0 2.5 3.0 3.5 4.0 4.5 s

0.5 1.0 1.5 2.0 2.5 3.0 3.5 4.0 4.5 s

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♂ 1 ♂ 2

♂ 1 ♂ 2

♂ 1 ♂ 2

kHz

kHz Pnoepgya albiventer

Pnoepgya formosana

Pnoepgya immaculata

Pnoepgya pusilla

China Nepal Myanmar

Taiwan

Nepal

China Myanmar SE-Asien 4%

7– 8%

6%

1500 – 3100 m 2400 – 4000 m

Pnoepgya mutica

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Abb. 8

Multidimensionale phylo- genetische Analyse südost- asiatischer Timalien der Gattung Pnoepyga (nach Päckert et al. 2013).

Links: Stammbaum basierend auf zwei mitochondrialen und drei Kerngenen, 3457 Basen- paare; gelbe Doppelpfeile:

zwischen- und innerartliche paarweise genetische Unter- schiede der mitochondrialen Cytochrom-b-Sequenzen zwischen genetischen Linien;

grüne Kästchen: Höhenver- breitung der Arten in den Gebirgswäldern des Himalaya.

Rechts: Sonagramme der Reviergesänge, Zuordnung entsprechend den Ästen des genetischen Stammbaums.

a

b

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212

getauscht werden. Im Gegensatz dazu wurde ein massiver Austausch von Genabschnitten beobachtet, die keine Prote- ine kodieren und nicht der positiven natürlichen Selektion unterliegen (Stuckas et al. 2009 a). Das spricht zunächst für eine nur leicht ausgeprägte reproduktive Barriere, die einen Genaustausch jedoch nicht vollständig verhindert! In den zurückliegenden Jahren wurde im Dresdener Fachbereich Populationsgenetik eine Vielzahl weiterer Gene identifiziert, die derzeit als sogeannte Biomarker verwendet werden, um ein besseres Verständnis über Ursachen der massiven Hybi- disierung zu erlangen (Stuckas et al. 2009 b; Heß et al. 2012;

Bartel et al. 2012).

untersucht. Dazu verwenden wir eine Kombination aus Markern der Kern- und mitochondrialen DNA, die jeweils für eine der beiden Mytilus-Arten diagnostisch sind.

In den Küstengebieten Nordamerikas (z. B. Neufundland, Kanada) bilden die Miesmuscheln in weiten Teilen soge- nannte Mosaik-Hybridzonen aus: Je nach Beschaffenheit des Habitats finden sich dort kleinräumige Bereiche, wo die Ausgangsarten als „reine Bestände“ vorkommen und mit zwischenartlichen Hybriden koexistieren, ohne dass es zu einer vollkommenen Durchmischung kommt. Im Gegensatz dazu wird im Fall der Miesmuschelbestände im Ostseeraum von einem Hybridschwarm gesprochen. Es gibt zudem eine sehr auffällige Zonierung von der Nordsee, wo die Bestände genetisch rein sind, über Skagerrak/Kattegat in die Ostsee, wo die genetische Durchmischung sehr stark ausgeprägt ist (Abb. 12).

Diese gegensätzlichen genetischen Strukturen warfen die Frage auf, ob im Ostseeraum Mechanismen fehlen, die in Nordamerika die Paarung von Individuen verschiedener Arten unterbinden. In einer populationsgenetischen Studie wurde gezeigt, dass Gene, die Proteine mit einer Funktion für die Erkennung zwischen Spermien und Eizellen kodieren und der natürlichen positiven Selektion unterliegen, nur bedingt zwischen M. edulis und M. trossulus des Ostseeraums aus- gesamten Mittelmeerraum (Hundsdoerfer et al. 2011a). Die

rezente Verteilung mitochondrialer Linien wies hingegen nur auf Malta auf kleinräumige Hybridisierungsphänomene hin (Vermischung verschiedener Linien), jedoch auf separate endemische Taxa in Süditalien und auf Kreta (Vorherrschaft einer einzelnen endemischen Linie; Hundsdoerfer et al.

2011b). Aufgeklärt wurde dieses Rätsel abermals mit Bele- gen aus Museumssammlungen: Die DNA-Analyse zeigte, dass sich die Verbreitung mitochondrialer Linien durch Ausbreitungs- bzw. Zufallsereignisse (genetischer Drift) unerwartet schnell verändern kann. Anstatt eines sich seit langer Zeit geografisch getrennt entwickelnden süd- italienischen Taxons waren noch vor wenigen Jahrzehnten

verschiedenste mitochondriale Linien auch in ganz Italien vermischt (Abb. 11). Es handelt sich also bei den vermeint- lich reproduktiv isolierten Arten in Süditalien und auf Kreta sehr wahrscheinlich um Hybridisierung bzw. eine dynami- sche Verbreitung mitochondrialer Linien innerhalb einer biologischen Art.

Um die immer noch offenen verwandtschaftlichen Zusam- menhänge innerhalb der Wolfsmilchschwärmer endgültig aufzulösen, sind mitochondriale Gene allerdings nicht ausrei- chend, da sie nur die weibliche Abstammungslinie abbilden (siehe oben). Deshalb wird zur Zeit der Genfluss zwischen Populationen anhand sehr variabler nukleärerMarker unter- sucht (Mende et al. 2011). Anhand dieser sogenannten Mikrosatelliten kann mittels statistischer Verfahren abge- schätzt werden, wie nah verwandt sich Populationen sind und wie häufig und in welche Richtung genetischer Aus- tausch zwischen ihnen stattfindet. Wahrscheinlich hat die Verbreitung von Farbmorphen und Genotypen der Wolfs- milchschwärmer auch eine ökologische Komponente: Es konnte nämlich eine direkte Korrelation zwischen der Kli- maerwärmung und der nordwärts gerichteten Ausbreitung der italienischen mitochondrialen Linie im letzten Jahr- hundert gezeigt werden (Mende & Hundsdoerfer 2013).

In der kontinentalen Klimazone konnte sich diese Linie jedoch bisher nicht etablieren. Deshalb wird im Dresdener Senckenberg-Labor auch an der Entwicklung genetischer Marker gearbeitet, die eine direkte Rolle in der Frostresis- tenz der überwinternden Puppen spielen. Bereits jetzt steht fest: Die Wolfsmilchschwärmer sind ein interessanter Modellorganismus zur Erforschung der Auswirkungen des rezenten Klimawandels auf die Evolution und Verbreitung der Fauna.

Hybridszenarien: taxonomische Sonderfälle oder biologisch relevante Phänomene?

An Hybridzonen (siehe Kasten „Hybridisierung“) können unter natürlichen Bedingungen Mechanismen studiert wer- den, die zur Isolation von Populationen und zur Entstehung neuer Arten führen. Ferner stellt sich oft die Frage, welche Bedeutung Hybride für die biologische Vielfalt einer Region oder die Funktion eines Ökosystems haben. Im Fachgebiet Populationsgenetik von Senckenberg Dresden wird die Hybridisierung zweier Miesmuschelarten (Mytilus edulis, M. trossulus) in zwei sehr unterschiedlichen Kontaktzonen Hybridisierung

Hybride entstehen, wenn Individuen zwei verschiedener Arten Nachkommen erzeugen. Insbesondere Hybride der ersten Generation (F1-Hybride) zeigen sehr deutlich die Merkmale beider Eltern (intermediär), beispielsweise hinsichtlich ihrer Morphologie, ihrer ökologischen Ansprüche oder ihrer genetischen Konstitution.

Wenn diese F1-Hybride fruchtbar sind, können sie mit anderen Hybriden oder Individuen der Ausgangsarten (Rückkreuzung) Nachkommen erzeugen. Insbeson- dere bei Rückkreuzungen verlieren sich über die Generationen hinweg graduell die intermediären Merkmale und die Nachkommen ähneln wieder stark den ursprüng- lichen Ausgangsarten. Im Laufe dieser Prozesse entstehen Areale, in denen reine Arten und zwischenartliche Hybride koexistieren, die sogenannten Hybridzonen.

Zur genauen Untersuchung solcher Szenarien müssen deshalb oftmals viele Merk- malskomplexe parallel analysiert werden, um insbesondere Rückkreuzungshybride in natürlichen Lebensräumen zu erkennen und deren biologische Eigenschaften zu verstehen.

atlas -Gruppe abietum-Gruppe

cypriotes ater -Gruppe

uppe pe

ateer r ate

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Abb. 9

Genetische, morphologische und bioakustische Differenzierung zwischen europäischen Unterarten der Tannenmeise (Periparus ater; verändert nach Pentzold et al. 2013; Zeichnungen der Morphotypen aus Harrap & Quinn 1996). Verbreitung und lokale Häufigkeiten mitochondrialer Linien sind anhand farbiger Kreise dargestellt, unterschiedliche Gesangstypen anhand farbiger Notensymbole; großräumiger nukleärer Genfluss (Kerngenom) dargestellt durch farbigen Pfeil.

2004–2010

0 50 100 200 Kilometer

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Abb. 10

Larven des Wolfsmilch- schwärmers mit Blick auf die Insel Capri (links) und bis über hundert Jahre alte Falter aus dieser Region im Museum für Tierkunde Dresden (rechts). Fotos und Collage: Michael Mende

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Abb. 11 a/b

Verbreitung der mitochondri- alen Linien des Wolfsmilch- schwärmer-Artenkomplexes in Italien (verändert nach Hundsdoerfer et al. 2011a und Mende & Hundsdoerfer 2013). Während das Gebiet von Mittelitalien bis Sizilien heute von einer einzigen Linie (grün) dominiert wird (a), waren im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts dort auch noch die im restlichen Europa verbreiteten Linien (blau, braun) vertreten (b).

1910–1929

8 42

20

a b

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suchungen und entsprechend überprüfbare Prognosen entwickeln kann. Die Basiseinheiten, die Biologen zäh- len und in allen Dimensionen vermessen, sind die Arten der Organismen. Die Defi nition und Abgrenzung dieser zu messenden Einheiten ist jedoch keineswegs unumstrit- ten (siehe Infokasten „Artkonzepte“ auf Seite 209). Die anhaltende taxonomische Kontroverse ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass es sich im Falle von (biologi- schen!) Arten natürlicherweise nicht um statische Einheiten handelt, sondern um dynamische Entitäten, die sich ständig weiterentwickeln. Unabhängig von Klassifi zierungssystem oder -perspektive fi nden deshalb inzwischen sogenannte Taxon-Konzepte breite Akzeptanz innerhalb der Biodiversi- tätsforschung. Die durch sie defi nierten Taxa repräsentieren die fundamentalsten Einheiten biologischer Vielfalt, man- che von ihnen lösen sich vom klassischen Artbegriff mittels eher pragmatischer konzeptioneller Begriffe (z. B. operative taxonomische Einheiten, engl. OTUs). Jede Biodiversitäts- studie kann letztlich nur so präzise sein wie die Abgrenzung der ihr zugrunde liegenden Einheiten. Somit ist auch die aus guten Gründen inzwischen weitläufi g propagierte inte- grative Biodiversitätsforschung auf die Ergebnisse einer integrativen taxonomischen Forschung angewiesen. Der integrative Ansatz ist das Rückgrat vieler Studien, deren Ziel es ist, jene Prozesse besser zu verstehen, die für glo- bale Muster der Artenvielfalt, ihre Verteilung aber auch für die Koexistenz von Organismen in Ökosystemen verantwort- lich sind.

Studie mit 25 000 Individuen in drei Kontinenten Vor diesem Hintergrund kombinieren Forscher am Dresdner Senckenberg-Standort umfangreiche ökologische Daten- sätze aus Langzeitfeldstudien mit integrativen Phylogenien (Ernst et al. 2012; Abb. 14). Bei der Studie von Ernst et al. (2012) beispielsweise wurden über 25 000 Individuen 84 unterschiedlicher Froscharten auf 549 unabhängigen Untersuchungsfl ächen während mehr als 850 Stunden Wie wirkt der Salzgehalt in der Ostsee auf den

Genfl uss?

Zusammen mit Wissenschaftlern des Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung Kiel (GEOMAR) erweitern wir derzeit unsere Untersuchungen der Genfl ussrate zwischen den verschiedenen Mytilus-Beständen des Ostseeraums. Unter Verwendung dieser speziell ausgewählten DNA-Abschnitte (Biomarker-Loci) sollen zunächst die Mechanismen der reproduktiven Isolation intensiver untersucht werden.

Wir interessieren uns aber auch für solche Gene, die mit den Anpassungsprozessen an Umweltbedingungen im Zusammenhang stehen (z. B. Umweltstress, Immunabwehr oder die Bildung des Kalks, aus dem die Muschelschalen aufgebaut sind). Es wird vermutet, dass insbesondere der Salzgehalt des Meerwassers eine Ursache dafür ist, dass Mytilus-Hybriden im Ostseeraum so massiv auftreten.

Zwischen den Lebensräumen in der Nord- und Ostsee gibt es große Unterschiede in der Salinität des Wassers und es könnte sein, dass die Hybrid-Miesmuscheln an deratig extreme Umweltbedingungen besser angepasst sind. Es liegt also nahe, gezielt solche Wechselwirkungen zwischen Umwelt und genetischer Konstitution der Miesmuschelpo- pulationen zu untersuchen. In der Tat gibt es erste Hinweise darauf, dass sich Hybrid-Miesmuscheln aus dem Skagerrak/

Kattegat besser an wechselnde Salinitäten anpassen kön- nen, als Miesmuscheln (M. edulis) aus der Nordsee oder Miesmuscheln (Hybridschwarm) aus der Ostsee (Kossak 2006). Eine Bestätigung solcher Befunde durch molekular- genetische Daten hätte auch eine enorme Bedeutung für die kommerziellen Miesmuschel-Aquakulturen im Ostseeraum.

Integrative Biodiversitätsforschung auf Basis integ- rativer Taxonomie

Die moderne Biodiversitätsforschung ist eine quantitative, von Hypothesen getriebene Wissenschaft. Sie benötigt klar defi nierte Einheiten, damit sie nachvollziehbare Unter-

Mytilus trossulus – Hybridschwarm

(starke genetische Durchmischung)

Mytilus edulis

(genetisch reine Bestände)

Mytilusedulis

Mytilus trossulus

Übergangszone: starke Veränderung der Allelfrequenzen

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Abb. 12 Genetische Struktur der Miesmuschelpopulationen in der Ost- und Nordsee. In der Nordsee fi nden sich genetisch reine Bestände von Mytilus edulis. Im Skagerrak/Kattegat hingegen sehen die Muscheln morphologisch M. edulis aus der Nordsee ähnlich, jedoch fi nden sich in diesen Popu- lationen sowohl Rückkreu- zungshybride (M. edulis x M. trossulus) als auch gene- tisch reine Individuen. In der

Ostsee hingegen sind die Tiere morphologisch mit M. trossulus vergleichbar, jedoch können alle Individu-

en als Rückreuzungshybride klassifi ziert werden; gene- tisch reine Individuen sind bisher nicht gefunden wor- den. Zwischen den Beständen

des Skagerrak/Kattegat und der Ostsee fi ndet sich eine Übergangszone, in der sich die Häufi gkeiten der art- spezifi schen Allele drastisch ändern.

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Abb. 13

Wissenschaftliche Sammlungen der Naturkundemuseen sind Archive der Biodiversi- tät. Die Objekte sind Belegexemplare für rezente und historische Artverbreitung und neben klassischen morphologischen Studien können heute auch DNA-Analysen von bis zu mehreren hundert Jahre alten Exemplaren durchgeführt werden (hier Vogel- bälge einer südostasiatischen Singvogelgruppe, den Pittas, Pittidae; siehe Irestedt et al. 2013). Foto: Heidi und Hans-Jürgen Koch, www.heidihanskoch.com

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standardisierter Transektgänge in drei biogeografi schen Regionen (Guianaschild, Oberguinea, Indomalayischer Raum) erfasst. Mit solchen Untersuchungen will man unter ande- rem herausfi nden, welchen Anteil stammesgeschichtliche Komponenten (gemeinsame Abstammung = phylogene- tisches Signal) und rezente ökologische Wandelprozesse (z. B. menschengemachte Störungen wie Landnutzungs- und Klimawandel, Extremereignisse = ökologisches Signal) an der Entstehung und Veränderung organismischer Viel- falt in Ökosystemen haben. Als Modellsystem dienen den Dresdner Forschern die artenreichen Amphibiengemein- schaften der tropischen Wälder Südamerikas, Afrikas und Asiens. In ihnen leben Arten mit unvorstellbar komplexen Fortpfl anzungsverhalten und sehr spezifi schen Ansprüchen an ihre Umwelt. Sie reagieren zudem äußerst sensibel auf Umweltveränderungen, sodass schon kleinste Störungen sehr deutliche Auswirkungen auf Vielfalt und Funktion dieser

Systeme haben können. Die komplizierten Wechselwirkun- gen zwischen stammesgeschichtlich-evolutionären und rezenten ökologischen Prozessen, zu denen auch anthro- pogene Veränderungen der Biogeosphäre gehören (z. B.

Klima- und Landnutzungswandel) und deren Auswirkungen auf die Evolution von Artengemeinschaften, bilden somit den Kerngegenstand einer Forschung, die ohne solide taxo- nomische Basisarbeit nicht möglich wäre.

Schriften

Bartel, M., Hartmann, S., Lehmann, K., Postel, K., Quesada, H., Philipp, E., Heilmann, K., Micheel, B. & Stuckas, H. (2012): Identifi cation of sperm proteins as candidate biomarkers for the analysis of reproductive isolation in Mytilus: a case study for the enkurin locus. Marine Biology, 159: 2195–2207.& Castroviejo-Fisher, S., Vilà, C., Ayarzagüena, J., Blanc, M. & Ernst, R. (2011): Species diversity of Hyalinobatrachium glassfrogs (Amphibia: Centrolenidae) from the Guiana Shield, with the descrip- tion of two new species. Zootaxa 3132: 1–55.& Costello, M. J., May, R. M. & Stork, N. E. (2013 a): Can we name earth’s species before they go extinct? Science 339:

413–416.& Costello, M. J., Wilson, S. & Houlding, B. (2013 b): More taxonomists describing signifi cantly fewer species per unit effort may indicate that most species have been discovered. Systematic Biology, published online ahead of print.& Currat, M., Ruedi, M., Petit, R. J. & Excoffi er, L. (2008): The hidden side of invasions:

massive introgression by local genes. Evolution 62: 1908–1920.& Daniels, S. R., Hofmeyr, M. D., Henen, B. T. & Baard, E. H. W. (2010): Systematics and phylogeog- raphy of a threatened tortoise, the speckled padloper. Animal Conservation 13: 237–246.& Ernst, R., Keller, A., Landburg,G., Grafe, T. U., Linsenmair, K. E., Rödel, M.-O. & Dziock, F. (2012): Common ancestry or environmental trait fi lters: cross-continental comparisons of trait-habitat relationships in tropical anuran amphibian assemblages. Global Ecology and Biogeography 21: 704–715.& Fritz, U., Hundsdoerfer, A. K., Široký, P., Auer, M., Kami, H., Lehmann, J., Mazanaeva, L. F., Türkozan, O. & Wink, M. (2007): Phenotypic plasticity leads to incongruence between morphology-based taxonomy and genetic differentiation in western Palaearctic tortoises (Testudo graeca complex; Testudines, Testudinidae). Amphibia-Reptilia 28: 97–121.& Fritz, U., Auer, M., Chirikova, M. A., Duysebayeva, T. N., Eremchenko, V. K., Kami, H. G., Kashkarov, R. D., Masroor, R., Moodley, Y., Pindrani, A., Široký, P. & Hundsdoerfer A. K. (2009): Mitochondrial diversity of the widespread Central Asian steppe tortoise (Testudo horsfi eldii Gray, 1844): Implications for taxonomy and relocation of confi scated tortoises. Amphibia-Reptilia, 30: 245–257.& Fritz, U., Branch, W. R., Hofmeyr, M. D., Maran, J., Prokop, H., Schleicher, A., Široký, P., Stuckas, H., Vargas-Ramírez, M., Vences, M. & Hundsdoerfer, A. K. (2011): Molecular phylogeny of African hinged and helmeted terrapins (Testudines: Pelomedusidae: Pelusios and Pelomedusa). Zoologica Scripta 40: 115–125.& Heß, A.-K., Bartel, M., Roth, K., Messerschmidt, K., Heilmann, K., Kenchington, E., Micheel, B. & Stuckas, H. (2012): Expression M6 and M7 lysin in Mytilus edulis is not restricted to sperm but occurs also in oocytes and somatic tissue of males and females. Molecular Reproduction and Development 79: 517–524& Hundsdoerfer, A. K., Mende, M. B., Harbich, H., Pittaway, A. R. & Kitching, I. J. (2011a): Larval pattern morphotypes in the Western Palaearctic Hyles euphorbiae complex (Lepidoptera: Sphingidae: Mac- roglossinae). Insect Systematics & Evolution 42: 41–86.& Hundsdoerfer, A. K., Mende, M. B., Kitching, I. J. & Cordellier, M. (2011b): Taxonomy, phylogeography and climate relations of the Western Palaearctic spurge hawkmoth (Lepidoptera, Sphingidae, Macroglossinae). Zoologica Scripta 40(4): 403–417.& ICZN [International Commission on Zoological Nomenclature] (1999): International Code of Zoological Nomenclature. Fourth Edition. London, International Trust for Zoological Nomencla- ture, xxix + 306 pp.& Irestedt, M., Fabre, P. H., Batalha-Filho, H., Jonsson, K. A., Roselaar, C. S., Sangster, G. & Ericson, P. G. (2013): The spatio-temporal colonization and diversifi cation across the Pacifi c by a great “speciator” (Aves, Erythropitta erythrogaster).& Kok, P. J. R. & Ernst, R. (2007): A new species of Allobates (Anura:

Aromobatidae: Allobatinae) exhibiting a novel reproductive behaviour. Zootaxa 1555: 21–38.& Kossak, U. (2006): How climate change translates into ecological change: Impacts of warming and desalination on prey properties and predator-prey interactions in the Baltic Sea. Ph. D. dissertation, IFM-GEOMAR, Christian-Albrechts- Universität, Kiel.& Mende, M. B. & Hundsdoerfer, A. K. (2013): Mitochondrial lineage sorting in action – historical biogeography of the Hyles euphorbiae complex (Sphingidae, Lepidoptera) in Italy. BMC Evolutionary Biology 13: 83. doi:10.1186/1471-2148-13-83.& Mende, M. B., Stuckas, H. & Hundsdoerfer, A. K. (2011): Eight new microsatellite loci of the Western Palearctic Hyles euphorbiae complex (Lepidoptera, Sphingidae). Annales Zoologici Fennici 48:142–146.& Mikulíček, P., Jandzik, D., Fritz, U., Schneider, C. & Široký, P. (2013): AFLP analysis shows high incongruence between genetic differentiation and morphology-based taxonomy in a widely distributed tortoise. Biological Journal of the Linnean Society 108: 151–160.& Mora, C., Tittensor, D. P., Adl, S., Simpson, A. G. B. & Worm, B. (2011): How many species are there on earth and in the ocean? PLOS Biology 9: e1001127.& Päckert, M., Martens, J., Liang, W., Hsu, Y.-C. & Sun, Y.-H. (2013): Molecular genetic and bioacoustic differentiation of Pnoepyga wren babblers. Journal of Ornithology 154: 329–337.& Pentzold, S., Tritsch, C., Martens, J., Tietze, D. T., Giacalone, G., LoValvo, M., Nazarenko, A. A., Kvist, L. & Päckert, M. (2013): Phylogeography and secondary contact of western Palearctic coal tits (Periparus ater: Aves, Passeriformes, Paridae). Zool. Anz. 252: 367–382.& Praschag, P., Sommer, R. S., McCarthy, C., Gemel, R. & Fritz, U. (2008): Naming one of the world’s rarest chelonians, the southern Batagur. Zootaxa 1758: 61–68.& Praschag, P., Hundsdörfer, A. K. & Fritz, U. (2007): Phylogeny and taxonomy of endangered South and South-east Asian freshwater turtles elucidated by mtDNA sequence variation (Testudines: Geoemydidae: Batagur, Callagur, Hardella, Kachuga, Pangshura). Zoologica Scripta 36: 429–442.& Rau- pach, M. J., Hannig, K. & Wägele, J.-W. (2010): DNA Barcoding – Perspektiven und Chancen: Eine Fallstudie am Beispiel der Laufkäfer (Coleoptera: Carabidae).

Entomologie Heute 22: 171–190.& Schlick-Steiner, B. C., Steiner, F. M., Seifert, B., Stauffer, C., Christian, E. & Crozier, R. H. (2010): Integrative Taxonomy: A multi- source approach to exploring biodiversity. Annual Review of Entomolpgy 55: 421–438.& Stuckas, H., Stoof, K., Quesada, H. & Tiedemann, R. (2009a): Evolutionary implications of discordant clines across the Baltic Mytilus hybrid zone (Mytilus edulis, Mytilus trossulus). Heredity 103:146–156.& Stuckas, H., Messerschmidt, K., Putzler, S., Baumann, O., Schenk, J. A., Tiedemann, R. & Micheel, B. (2009b): Detection and characterization of gamete specifi c molecules in Mytilus edulis using selec- tive antibody production. Molecular Reproduction and Development 76: 4–10.& Stuckas, H., Gemel, R. & Fritz, U. (2013): One extinct turtle species less: Pelusios seychellensis is not extinct, it never existed. PLOS ONE 8: e57116.& Tietze, D. T., Martens, J., Sun, Y. H., Liu Severinghaus, L. & Päckert, M. (2011): Song evolution in the Coal Tit (Parus ater). Journal of Avian Biology 42: 1–23.& Turtle Conservation Coalition (2011): Turtles in trouble: The world’s 25+ most endangered tortoises and freshwater turtles – 2011. Lunenburg, MA: IUCN/SSC Tortoise and Freshwater Turtle Specialist Group, Turtle Conservation Fund, Turtle Survival Alliance, Turtle Conservancy, Chelonian Research Foundation, Conservation International, Wildlife Conservation Society, and San Diego Zoo Global, 54 pp.& Vargas-Ramírez, M., Vences, M., Branch, W. R., Daniels, S. R., Glaw, F., Hofmeyr, M. D., Kuchling, G., Maran, J., Papenfuss, T. J., Široký, P., Vieites, D. R. & Fritz, U. (2010): Deep genealogical lineages in the widely distributed African helmeted terrapin: evidence from mitochondrial and nuclear DNA (Testudines: Pelomedusidae: Pelomedusa subrufa). Molec- ular Phylogenetics and Evolution 56: 428–440.

Die Autoren

Dr. Martin Päckert, geb. 1970, studierte Biologie an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Nach Abschluss seiner Dissertation im Jahre 2003 und einem anschließenden zweieinhalbjährigen wissenschaftlichen Volontariat am Hessischen Landesmuseum Darmstadt leitet er seit 2006 die Sektion Ornithologie an den Senckenberg Naturhistorischen Sammlungen Dresden. Seine Forschungsschwerpunkte sind neben der Stammesgeschichte und Systematik eurasiatischer Vögel auch bioakustische und populationsgenetische Analysen.

Dr. Heiko Stuckas, geb. 1973, studierte Biologie an der Freien Universität Berlin und der University of Wales Swansea (Großbritannien). Nach Abschluss der Dissertation im Jahr 2003 an der Humboldt Universität Berlin und einem Postdoc an der Universität Potsdam leitet er seit 2009 das Fachgebiet Populationsgenetik an den Senckenberg Naturhistorischen Samm- lungen Dresden. Heiko Stuckas untersucht mittels molekulargenetischer Methoden Mechanismen der Entstehung oder des Verschwindens von Populationstrukturen und trägt damit zur Lösung von Fragen im Bereich der Taxonomie/Systematik, der Naturschutzgenetik und der Evolutionsbiologie bei.

Dr. Raffael Ernst, geb. 1975, studierte Biologie an den Universitäten Mainz, Marburg und Würzburg, wo er 2006 über Gemeinschaftsökologie tropischer Amphibien promovierte. Nach zweijährigem wissenschaftlichem Volontariat am Staatli- chen Museum für Naturkunde Stuttgart und dreijähriger Tätigkeit am Fachgebiet Biodiversitätsdynamik der TU Berlin leitet er nun seit 2010 die Sektion Herpetologie an den Senckenberg Naturhistorischen Sammlungen Dresden. Seine Forschungs- schwerpunkte sind neben taxonomischen Arbeiten zu tropischen Amphibien und Reptilien Südamerikas und Afrikas primär gemeinschaftsökologische Untersuchungen und integrative Studien zur Biodiversitätsdynamik dieser Organismengruppe.

Michael Mende, geb. 1981, studierte Biologie an der Universität Hamburg. Seit 2009 arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter im DNA-Labor des Museums für Tierkunde am Senckenberg Standort Dresden in Kooperation mit dem Biodi- versität und Klima-Forschungszentrum (BiK-F). Er schreibt seine Dissertation über den potenziellen Einfl uss des Klimas auf die Verbreitung genetischer Linien des Wolfsmilchschwärmer-Artenkomplexes.

Prof. Dr. Uwe Fritz, geb. 1963, studierte Biologie an der Universität Hohenheim und arbeitete danach mehrere Jahre im Stuttgarter Zoo als Leiter des Aquariums und Terrariums. 1996 promovierte er und wechselte als Herpetologe an das Dresdener Museum für Tierkunde, das er seit 2001 leitet. Seit 2008 ist er außerdem außerplanmäßiger Professor an der Uni- versität Leipzig. Er forscht vor allem über die Biogeografi e und Systematik von Reptilien, insbesondere von Schildkröten.

Bei Senckenberg ist er im Direktorium für die Sammlungen und die wissenschaftlichen Zeitschriften zuständig.

Kontakt (korresp. Autor): Dr. Martin Päckert, Senckenberg Naturhistorische Sammlungen, Königsbrücker Landstraße 159, D-01109 Dresden; E-Mail: martin.paeckert@senckenberg.de

S E T

Arten

Arten

Arten

Arten

„Traits“

Lokalität Lokalität

Umwelt

Lokalität

P

Datensätze

+ ( )

regional global

Abb. 14

Schematische Darstellung der von der Dresdner Arbeitsgruppe verwendeten Datensätze im Rahmen einer vergleichenden groß-skaligen integrativen Biodiversitätsstudie, bei der phylogenetische Daten eine entscheidende Rolle zur Quantifi zierung phylogenetischer Signale spielten (nach Ernst et al. 2012). P entspricht hierbei einer Matritze, die echte genetische Distanzen zwischen allen beteiligten Arten enthält („Supertree“), S beinhaltet Artenabundanzen in den jeweiligen Untersuchungsabschnitten, E die damit korrespondierenden Umweltparameter und T die artspezifi schen (ökologischen) Eigenschaften, sogenannte „Traits“.

Ameerega trivittata, Grüner Riesenpfeilgiftfrosch, Kabo, Suriname, Foto: Raffael Ernst

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Referenzen

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