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Aeka lshihara VON DER SKALA DER NATUR ZUM EVOLUTIONÄREN VEKTOR 1 DER ZWISCHENKIEFERKNOCHEN UND DAS AFFEN-MOTIV IN DER LITERATUR DER GOETHE-ZEIT

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Aeka lSHIHARA

VON DER SKALA DER NATUR ZUM EVOLUTIONÄREN VEKTOR 1

DER ZWISCHENKIEFERKNOCHEN UND DAS AFFEN-MOTIV IN DER LITERATUR DER GOETHE-ZEIT

Herrn Professor H. D. Irmscher imJahr seines 75. Geburtstages gewidmet

1. EINLEITUNG

Goethe erlebte im Jahre 1831 die wissenschaftliche Anerkennung seiner Ent- deckung des Zwischenkieferknochens beim Menschen, als die Leopoldinisch- Carolinische Akademie der Naturforscher seinen Text: Über den Zwischenkiefer des Menschen und der Tiere in ihren Nova Acta druckte und damit Goethes Auf- fassung von der Einheit des Typus der höheren Tiere akzeptierte. Noch Ende dieses Jahres trat Charles Darwin (1809-1882), der später die moderne Evolu- tionstheorie begründete, mit dem englischen Forschungsschiff HMS Beagle eine Weltreise an. Goethe deutete die Gestaltungsprozesse in der Natur bereits im Sinne einer „Evolution", nämlich eines langsam und kontinuierlich verlau- fenden Geschehens. Selbstverständlich hatte dieses Wort damals noch nicht jene Bedeutung, die es Jahre später im Zusammenhang mit der Evolutions- theorie Darwins bekam. Dezidiert nimmt Goethe aber bei seinen Nachfor- schungen über den Zwischenkieferknochen Partei für die Evolutionslehre und die Verwandtschaft aller Lebewesen.

1 Während die Skala eine grafische Darstellung und synonym zu „Stufenleiter" ist, ist der Vektor eine mathematisch-physikalische Größe, die einen Betrag und eine Richtung hat und als Pfeil dargestellt wird. Im Jahre 1859 erschien Darwins On the Origin of Species, womit eine vollkommen neue Naturwissenschaft begann: ( ... ) „der Darwinismus aber bringt ein völlig neues, bis dahin nicht vorhandenes Erkenntnismoment in die Naturwis- senschaft hinein, nämlich die Geschichte". Zitat aus: Adolf Meyer-Abich: Die Vollendung der Morphologie Goethes durch Alexander von Humboldt. Ein Beitrag zur Naturwissenschaft der Goethezeit. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 1970, hier S. 7.

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Von der Skala der Natur zum evolutionären Vektor

Der Zwischenkieferknochen (os intermaxillare) ist der sich bei den Wirbel- tieren zwischen den beiden Hauptknochen des Oberkiefers befindende drei- eckige Knochen, der bei Säugetieren die Schneidezähne des Oberkiefers trägt.

Dieser beim Menschen bald nach der Geburt mit dem Oberkiefer verwach- sende Knochen galt bis dahin als nicht existent. Goethe entdeckte allerdings schon am 27. März 1784 mit Hilfe des Anatomie-Professors Justus Christian Loder (1753-1832) zu Jena an menschlichen Embryonenschädeln die Gau- mennaht. Es ist bekannt, dass diese Entdeckung für Goethe selber im Hinblick auf einen allgemeingültigen „Typus" der Säuger bedeutsam war und dass sie außerdem zu seiner Zeit nicht nur von anatomischem, sondern auch von all- gemeinem philosophischen und theologischen Interesse war.

Angesichts dessen ist es erstaunlich, dass Goethe bis zur Veröffentlichung seiner Abhandlung mehr als 30 Jahre lang wartete, auch wenn er zwischen- zeitlich 1820 seine Abhandlung mit Ergänzungen in den Heften Zur Morpho- logie (unter dem Titel: Dem Menschen wie den Tieren ist ein Zwischenknochen der obern Kinnlade zuzuschreiben) publizierte, zumal insbesondere dem Affen in der Literatur der Goethezeit ein großes Interesse entgegengebracht wurde. Im Folgenden möchte ich auf der Grundlage der damaligen Zoologie und Anato- mie, aber auch im Vergleich mit der zeitgenössischen Literatur, im kulturellen Kontext des 18. und 19. Jahrhunderts das Verhältnis Goethes zur Zoologie un- tersuchen und eine zoologisch-literarische Landschaft vor dem Hintergrund der Evolutionsproblematik rekonstruieren.

2. EIN ÜBERBLICK ÜBER DIE GESCHICHTE DER ZOOLOGIE:

DIE POSITION DES MENSCHEN

Was für eine Position hatte der Mensch in der Goethezeit? In der Astronomie war der Geozentrismus faktisch bereits überholt. Kopernikus hatte den Men- schen von seinem Thron im Mittelpunkt des Universums vertrieben und ihn auf einen kleinen, um die Sonne kreisenden Planeten verbannt. Man setzte sich mit der Frage nach der Sonderstellung unserer Erde im Universum aus- einander und stellte damit auch die Frage nach der Einmaligkeit und Einzig- artigkeit des Menschen in der Schöpfung. Auf der Erde spielte der Mensch allerdings weiter die Rolle als Krone der Schöpfung, nämlich als „Herr über die Tiere". Doch diese Sicht galt nur bis zum 18. Jahrhundert.

Zunächst wollen wir die Geschichte der Zoologie bis zur Goethezeit kurz überblicken. Die Geschichte der Zoologie und vergleichenden Anatomie be- ginnt mit Aristoteles. Seine Kategorien und Termini bilden bis in die Früh- moderne hinein die Grundlage der europäischen Naturkunde. Aristoteles ord- nete mit Hilfe einiger charakteristischer Merkmale wie etwa Ernährung, Fort-

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bewegung, Fortpflanzung usw. die Tiere2 hierarchisch nach der „Scala natu- rae"3, wie man sie später nannte. Die Hierarchie der Schöpfung reicht von Gott und den Engeln über die Menschen bis hinunter zum allergeringsten Wurm.

Man nennt sie auch „Seinskette", „die Kette der Wesen", „Catena Homeri" oder

„Stufenleiter". Bemerkenswert ist, dass bereits Aristoteles die Existenz von Zwischenformen in der Natur als Erfahrungstatsache bemerkte, die sich aus dem Versuch ergab, die Tiere nach bestimmten Unterscheidungsmerkmalen zu ordnen: Er siedelte die Affen zwischen den Menschen und den „Quadrupedia"

an. Dies sind Vierfüßler, die eine Hauptgruppe innerhalb der „Bluttiere" bilden.

Im 18. Jahrhundert leistete der Genfer Naturwissenschaftler Charles Son- net (1720-1793) den wichtigsten Beitrag zur wissenschaftlichen Ausarbeitung der Seinskette. In Traite d'insectologie (1745) beschrieb er Regenerationsversu- che analog zu denen von Trembley an der Hydra (einem Süßwasserpolypen).

Wegen ihrer Fähigkeit zur Fortpflanzung durch Sprossung hat Sonnet die Hy- dra als Bindeglied zwischen Pflanzen und Tieren eingeordnet und zum Anlass für die Aufstellung einer aristotelischen Stufenleiter genommen.

Parallel dazu schien die Entdeckung der großen Affen in Afrika und Asien den Gedanken einer großen „Seinskette" zu bestätigen. Das schockierend Menschliche an den Affen ermutigte die Naturforscher, sie zum lange gesuch- ten „missing link" (fehlendes Glied in der Kette) zwischen Mensch und Tier zu erklären. Im Jahre 1699 veröffentlichte der englische Chirurg Edward Tyson (1650-1708) die erste anatomische Untersuchung eines jungen Schimpansen, den er als Homo sylvestris4 bezeichnete ( Orang-Outang, sive Homo Sylvestris; or the Anatomy of a Pygmie Compared with that of a Monkey, an Ape, and a Man, 1699).

Dort führt Tyson 48 Punkte auf, in denen sein Pygmäe (Schimpanse) einem

2 Was die Einteilung der Tiere anbelangt, teilte Aristoteles sie zunächst in zwei große Haupt- gruppen, die sich durch das Blut unterschieden: „Bluttiere" verfügen ihm zufolge über war- mes, rotes Blut und höheres Vermögen der Seele, über feine Sinne, großen Mut und Intelli- genz; „Blutlose Tiere" haben dagegen eine farblose Flüssigkeit in sich, die dem Blut ver- gleichbar, aber ohne elementare Hitze sei. Vgl. Londa Schiebinger: Am Busen der Natur. Er- kenntnis und Geschlecht in den Anfängen der Wissenschaft. Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Nature's Body bei Beacon Press, Boston 1993. Aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt von Margit Bergner und Monika Noll, Stuttgart (Klett Cotta) 1995, hier S. 71.

3 Vgl. Arthur Oncken Lovejoy: Sonzai no ooinaru Rensa. Die Originalausgabe erschien unter dem Titel The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea, Harvard University Press, Cambridge, Mass., 1964. Aus dem Englischen ins Japanische übersetzt von Kenji Naitou, Tokyo (Shöbunsha) 1975.

4 Heute unterscheiden die Naturwissenschaftler vier Arten von Menschenaffen: den Orang- Utan, den Schimpansen, den Gibbon und den Gorilla. Im 17. und 18. Jahrhundert verwende- ten aber Reisende und Naturforscher zur Bezeichnung afrikanischer und asiatischer Men- schenaffen unterschiedslos den Terminus Orang-Utan (im Malaiischen gleichbedeutend mit

„wilder Mensch" oder „Waldmensch"). In den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts unterscheidet Camper als einer der ersten den afrikanischen Orang-Utan (Schimpansen) vom asiatischen und eigentlichen Orang-Utan. Die großen Affen werden auch Satyr oder Pygmäe genannt und mit Namen wie focko, Pongo und verschiedenen anderen bezeichnet. Vgl. Schiebinger, S. 118f.

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Menschen gleicht, und 34 Punkte, in denen er von ihm abweicht. Tyson bezeich- net den Schimpansen trotz der Ähnlichkeiten mit dem Menschen keinesfalls als Menschen, sondern als Bindeglied zwischen Mensch und Affe, nämlich als Halbmenschen. Der französische Naturforscher Buffon erwog die Möglichkeit, den Orang-Utan als Ersten unter den Affen oder als Letzten unter den Men- schen zu betrachten. 5 Andererseits hatte Rousseaus These, wonach sich der Mensch aus einem animalischen Urzustand ohne Sprache zu seiner jetzigen Le- bensweise entwickelt habe, einen großen Einfluss auf die Phantasien der Zeit- genossen. Der englische Lord Monboddo (1714-1799) betrachtete Rousseaus

„Homme naturel" und den „Homo sylvestris" als identisch und schlug deshalb vor, die Menschenaffen zu erziehen und in die menschliche Gesellschaft einzu- gliedern, wie das auch mit verwilderten Kindern versucht wurde.6

In der 1735 erschienenen ersten Auflage der Systema naturae verwendete der schwedische Naturwissenschaftler Carl von Linne (1708-1778) den seit Aristo- teles traditionellen Begriff „Quadrupedia". Sensationell war aber, dass er den Menschen in der Klasse der Vierfüßler unterbrachte. Linne verweist dabei so- wohl auf den behaarten Körper des Menschen und seine vier Gliedmaßen als auch auf die lebendgebärenden und milchgebenden Mütter. Auf der Grundlage von Gebissähnlichkeiten, vor allem der vier Schneidezähne, bringt er den Men- schen außerdem gemeinsam mit Menschenaffen, Affen und Faultieren in sei- nem System der „Anthropomorpha" unter. Linnes Einordnung des Menschen in die Klasse 11Quadrupedia" rief bei den damaligen Naturforschern einen Sturm der Entrüstung hervor. Seine Darstellung des Vernunftwesens Mensch als behaartes Tier mit vier Gliedmaßen und vier Schneidezähnen fanden sie einfach beleidigend. Nicht wenige Naturforscher lehnten die Vorstellung ab, dass der Mensch seinem Wesen nach ein Tier sei, und blieben getreu der Bibel dabei, dass Gott den Menschen nach seinem Bilde geschaffen habe. Später brach Linne mit der seit Aristoteles traditionellen Gattung der Vierfüßler, indem er den neuen Begriff „Mammalia" einführte. Seinen Kritikern gegenüber argu- mentierte Linne, auch wenn sie nicht glaubten, dass der Mensch ursprünglich auf allen Vieren gegangen sei, müssten sie doch die Tatsache akzeptieren, dass jeder vom Weibe geborene Mensch mit Muttermilch ernährt werde. Statt der

„Anthropomorpha" erfand Linne in der Auflage von 1758 den Begriff der 11Pri- mates", deren Gattung aus „homo" (Mensch) und „simia" (Affe) bestehen sollte. Gleichzeitig definierte er zwei Spezies des Menschen: „Homo sapiens oder diurnus" und „Homo troglodytes oder nocturnus".

5 Buffon, Georges Louis Ledere Comte de: Histoire naturelle, generale et particuliere l-10 (1766-1771), hier Bd. 14, S. 30.

6 Vgl. Margrit Wyder: Goethes Naturmodell. Die Scala Naturae und ihre Transformationen. Köln/

Weimar/Wien (Böhlau) 1998, hier S. 167.

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Auch mit dieser Klassifikation Linnes waren nicht alle Naturforscher ein- verstanden. Sie beschäftigten sich weiter intensiv mit der Frage nach der Be- ziehung zwischen Affe und Mensch und bis zu welchem Grad Affen gegebe- nenfalls zivilisierte bzw. zivilisierbare Lebewesen sein könnten. Um Mensch und Affe als getrennte Gattungen zu definieren, machten sich die Anthropo- logen auf die Suche nach einem unterscheidenden Merkmal. Camper (1722- 1789) fand bei einem anatomischen Vergleich von Mensch und Orang-Utan, dass der Affe weder perfekt aufrecht gehen noch sprechen kann, weil seine hinteren Extremitäten und sein Kehlkopf anders gebaut seien. Als weiteres Unterscheidungsmerkmal diente ihm der am Orang-Utan-Schädel deutlich erkennbare Zwischenkieferknochen, der in der Stufenfolge der höheren Tiere bis hinauf zum Affen vorhanden sei und sich beim Menschen nicht finde. Da- her ordnete Camper den Orang-Utan unter die vierfüßigen Tiere ein, während der Mensch als zweifüßiges Tier bezeichnet wurde. Blumenbach (1752-1840) unterstützte die Ansichten Campers und belegte sie durch eigene Untersu- chungen. In der 1776 erschienenen Abhandlung De generis humani varietate na- tiva (deutsche Übersetzung 1798: Ueber die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte) stellte Blumenbach den Menschen aufgrund seines Total- habitus und der damit verbundenen funktionalen Kriterien in eine eigene Ordnung: die „Bimana" (zweihändiges Tier). Die Affen dagegen bildeten sei- ner Meinung nach mit ihren handähnlich gestalteten Füßen die Ordnung

„Quadrumana" (vierhändiges Tier). Darüber hinaus betonte er neben dem aufrechten Gang des Menschen auch das Fehlen des Zwischenkieferknochens und behauptete, dass dadurch der gravierende Unterschied der Gesichts- bildung zwischen Menschen und Affen entstehe.7

3. GOETHES ENTDECKUNG IM RAHMEN DER DAMALIGEN ANATOMIE

Goethe hat in Fortsetzung seiner Straßburger anatomischen Bemühungen und als Schüler Loders kurz nach dessen Berufung an die Universität zu Jena, vor- nehmlich im Herbst 1781/82, Knochen- und Muskelstudien betrieben und auch selbst seziert. Allerdings war Goethe in diesen Jahren die Bedeutung des

7 Camper und Blumenbach definierten den Zwischenkieferknochen als Knochen, der die oberen Schneidezähne trägt. Allerdings stimmten die Befunde selbst bei Camper und Blu- menbach schon nicht überein: Blumenbach legte dar, dass der Zwischenkieferknochen, den alle Affen und die meisten Säugetiere hätten, beim Menschen fehle und auch bei Ameisenbären, Elefanten und Delphinen nicht nachweisbar sei. Im Gegensatz zu Blumen- bach ordnete Camper dem Ameisenbären und dem Elefanten einen Zwischenkieferkno- chen zu. Im Allgemeinen standen die Fachgelehrten unter dem starken Einfluss der kirch- lichen Lehrmeinung, die jede Verwandtschaft zwischen Tier und Mensch ablehnte.

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Zwischenkieferknochens offensichtlich noch nicht klar geworden, obwohl sein Freund Merk ihn bereits im Herbst 1780 erstmals auf das Problem des Zwischenkieferknochens aufmerksam gemacht hatte. Im Winter 1783/84 ar- beitete Goethe intensiv mit Herder, der an den ersten Büchern seiner Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit schrieb,8 an naturgeschichtlichen Ge- genständen.

Am 27. März 1784 entdeckte Goethe mit Loder an menschlichen Embryo- nenschädeln die Gaumennaht: den Zwischenkieferknochen beim Menschen.9 Sein Vorhandensein vermuteten zwar schon frühere Anatomen,10 konnten dies aber wegen des Mangels an Untersuchungen an Embryonen nicht nach- weisen. Durch diese Entdeckung schloss Goethe mit dem Beweis der Einheit aller Wirbeltiere die letzte Lücke in der Verwandtschaft von Mensch und Tier.

Zur Unterstützung seines Befundes war Goethe daran gelegen, auch einen

8 Herder sah als philosophierender Kulturhistoriker und Theologe große Linien und zog aus der Lehre vorn Menschen als der »imago dei« aufklärend-humanistische Konsequen- zen. In Ideen erwähnt Herder: 11 Wahrlich Affe und Mensch sind nie Ein' und dieselbe Gat- tung gewesen und ich wünschte jeden kleinen Rest der Sage berichtigt, daß sie irgendwo auf der Erde in gewöhnlicher fruchtbarer Gemeinschaft leben. Jedem Geschlecht hat die Natur gnug getan und sein eignes Erbe gegeben. Den Affen hat sie in soviel Gattungen und Spielarten verteilt und diese so weit verbreitet, als sie sie verbreiten konnte; Du aber Mensch, ehre dich selbst. Weder der Pongo, noch der Longirnanus ist dein Bruder; aber wohl der Amerikaner, der Neger". Zitat aus: Herder, Werke in 10 Bänden. Hrsg. v. Martin Bollacher. Frankfurt a. M. (Deutscher Klassiker Verlag) 1989, Bd. 6, S. 255.

9 Schon am selben Abend berichtete Goethe mit großer Freude an Herder. Vgl. Goethe an Herder, 27. März 1784. Zitat aus: Goethes Werke. Weimarer Ausgabe [WA]. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, IV-6, S. 258 (Nr. 1903): 11Ich habe ge- funden - weder Gold noch Silber, aber was mir unsägliche Freude macht - das os interma- xillare am Menschen! Ich verglich mit Lodern Menschen- und Thierschädel, kam auf die Spur und siehe da ist es. Nur bitt' ich dich, laß dich nichts merken, denn es muss geheim behandelt werden. Es soll dich auch recht herzlich freuen, denn es ist wie der Schlußstein zum Menschen, fehlt nicht, ist auch da! Aber wie!" Vgl. auch: Dorothea Kuhn: Goethe und die Biologie. In: Günther Schnitzler / Gottfried Schramm (Hrsg.): Ein unteilbares Ganzes.

Goethe: Kunst und Wissenschaft. Freiburg im Breisgau (Rombach) 1997, S. 323-357; Horst- Werner Korf / Gerhard Storch: Goethes Entdeckung des Zwischenkieferknochens und seine Wir- beltheorie des Schädels. In: Alfred Schmidt / Klaus Jürgen Grün (Hrsg.): Durchgeistete Natur.

Ihre Präsenz in Goethes Dichtung, Wissenschaft und Philosophie. Frankfurt a. M. (Peter Lang) 2000, S. 101-114; Aeka Ishihara: Hito to Saru no Kyökai. (=An der Grenze zwischen Affe und Mensch. Goethes Entdeckung des Zwischenkieferknochens) In: Kenkyü-Nenpö. Hrsg. vom Ger- manistischen Seminar der Keio-Universität. Heft 20 (2003), Tokyo, S. 1-17 (auf Japanisch).

10 Der französische Arzt und Anatom Felix Vicq d' Azyr (1748-1794) berichtete bereits 1780, d. h. vier Jahre vor Goethe, über die Existenz eines Zwischenkieferknochens beim Men- schen und wiederholte die Berichte in seinem 1786 erschienenen Anatomiebuch. Als Goe- the sie im selben Jahr durch einen Brief des Prinzen August von Gotha im Auszug kennen- lernte, freute er sich darüber (Goethe an Frau von Stein, 12. Mai 1786, WA IV-7, S. 218, Nr.

2315). Obwohl Goethe auf die schlechten Erfahrungen mit zeitgenössischen Gelehrten im- mer wieder zurückgekommen ist, hat er den Namen Vicq d' Azyr nie mehr erwähnt. Nach Wyders Vermutung hätte Goethe ihm dabei „die Priorität der Entdeckung zugestehen müssen". Vgl. Wyder, S. 183.

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Elefantenschädel und speziell dessen Zwischenkiefer zu untersuchen, und er erbat sich am 14. Mai 1784 von dem Anatomen Soemmering (1755-1830) aus Kassel, mit dem er in persönlichem Kontakt stand, leihweise den Schädel ei- nes Elefantenskeletts.11 Goethe fasste dann seine Studien zum Zwischenkie- ferknochen in einer Abhandlung zusammen: Versuch aus der vergleichenden Knochenlehre, daß der Zwischenknochen der obern Kinnlade dem Menschen mit den übrigen Thieren gemein sey, die in Zusammenarbeit mit Loder ausgearbeitet und von Waitz bebildert war. Hier erwähnte Goethe nicht nur den Vergleich des Affenschädels mit dem Menschenschädel, sondern stellte auch den Zwi- schenkiefer von Pferd, Ochse, Fuchs und Löwe dar; allerdings fehlt die Be- trachtung des Elefantenschädels.

Weshalb konnte Goethe den Zwischenkieferknochen beim Menschen ent- decken, während die zeitgenössischen Forscher nach dem Beweis der Überle- genheit des Menschen suchten? Seit dem 17. Jahrhundert beruht die Klassifi- kation der Tiere auf der Anatomie. Auch Goethe sah am menschlichen Schädel zunächst nicht mehr als die Fachleute und erwartete sogar, die „Einförmigkeit der Natur" auch im Knochenbau bestätigt zu finden. Die Entdeckung des Zwischenkieferknochens bestärkte die Überzeugung Goethes von der Einheit der Natur auf das Entschiedenste.12 Wichtig ist vor allem der Brief vorn 17.

November 1784 an seinen Freund Knebel. Hier betonte Goethe, dass man den Menschen in seiner Eigentümlichkeit nicht in Kleinigkeiten wie etwa dem Fehlen eines Knochens finden könne:

Die Übereinstimmung des Ganzen macht ein jedes Geschöpf zu dem was es ist, und der Mensch ist Mensch sogut durch die Gestalt und Natur seiner obern Kinlade [sie!], als durch Gestalt und Natur des letzten Gliedes seiner kleinen Zehe Mensch. Und so ist wieder iede Creatur nur ein Ton eine Schat- tirung einer grosen Harmonie, die man auch im ganzen und grasen studiren muß sonst ist iedes Einzelne ein todter Buchstabe. Aus diesem Gesichts- punckte ist diese kleine Schrifft geschrieben, und das ist eigentlich das Inter- esse das darinne verborgen liegt. (WA IV-6, S. 390, Nr. 2009)

Goethe sandte seine Abhandlung als Prachtschrift am 19. Dezember 1784 an Merck, der sie Soernmering und Camper weiterleitete. Nach Goethes Worten:

11 Einen Monat später erhielt Goethe das Präparat und ließ es in Weimar von J. Ch. Waitz (1766-1796) zeichnen.

12 Der englische Historiker der Biologie Charles Singer behauptet: The German poet and philosopher Johann Wolfgang von Goethe was perhaps the first since Aristotle to point out explicitly that the structures of animals exhibit uniformity of anatomical plan". Darüber hinaus deutet Singer darauf hin: „Not the least of away from the anatomy of man as the type to which all other creatures were tobe referred". Vgl. Carles Singer: A History of Bio- logy to about the Year 1900. A general lntroduction to the Study of Living Things. Ames (Iowa state university press) 1989, hier S. 218.

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„Und zwar Format und Schrift so anständig daß sie der treffliche Mann [Cam- per; d. Vfn.] mit einiger Verwunderung aufnahm, Arbeit und Bemühung lobte, sich freundlich erwies; aber nach wie vor versicherte, der Mensch habe kein os intermaxillare11 (MA1312, S. 174). Zwar machte Loder Goethes Ent- deckung 1788 in seinem Anatomischen Handbuch bekannt (vgl. Tag- und Jahres- hefte 1790), aber Goethe war enttäuscht über die negative Reaktion der Fach- welt und veröffentlichte seine Abhandlung erst im Jahre 1820. Könnte es für die hinausgezögerte Veröffentlichung noch weitere Gründe geben?

4. EIN „GERÄUSCHVOLLES LEBEN" MIT AFFEN:

LUCIANE IN GOETHES WAHL VERWANDTSCHAFTEN

Bemerkenswert ist, dass sich Fachleute in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun- derts mit der Frage auseinandersetzten, ob der Mensch mit den Tieren, spezi- ell den Affen, biologisch verwandt sei. Damals hatte jene biblische und scho- lastische Erklärung immer noch Gültigkeit, dass der Affe nach dem verhäng- nisvollen Biss in den Apfel genauso in Ungnade wie der Mensch selbst gefal- len sei: Der Affe erscheint „einerseits als Vergegenwärtiger der teuflischen Versuchung, die im sexuellen Trieb und im Erkenntniswillen des Sündenfalls ihre Wirkung entfaltet"14 (tierische Natur des Menschen), „andererseits als

»agent provocateur« des Schöpferischen des Menschen, das mit eben diesem Sündenfall in die Welt kam": ars simia naturae (ins Deutsche übersetzt: Die Kunst ist der Affe der Natur).

Im Jahre 1799 brach Goethes junger Freund und Naturforscher Alexander von Humboldt (1769-1859)15 zu seiner Forschungsreise durch Lateinamerika auf, wo er auch „viele neue Affen"16 sah. Am 3. August 1804 kehrte er nach

13 Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe [MA]. Hrsg. v. Karl Richter in Zusammenarbeit mit H. G. Göpfert, N. Miller, G. Sauder und E. Zehm. 20 Bde. in 32 Teilbänden und 1 Registerband. München (Carl Hanser) 1982-1998.

14 Zitat aus: Gerhard Neumann: Der Blick des Anderen. Zum Motiv des Hundes und des Affen in der Literatur. In: Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft 40 (1996), S. 87-122, hier

s. 106f.

15 Vgl. Gerhard Schulz: „Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen". Über Goethe, Alexander von Humboldt und einen Satz aus den Wahlverwandtschaften. In: ders.: Exotik der Gefühle. Goe- the und seine Deutschen. München (Oscar Beck) 1998, S. 48-74 und Anmerkungen S. 203- 206.

16 Vgl. Humboldts Brief vom 21. Februar 1801 aus Havanna an Karl Ludwig Wildenow. Zitat aus: Schulz, S. 64. In seinen Reiseberichten (zunächst 1814 in Paris erschienen, Original- titel: Voyage de Humboldt et Bonpland) erscheinen verschiedene Zeichnungen von Affen.

Vgl. Alexander von Humboldt: Reise in die Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents.

Hrsg. v. Ottomar Ette. Mit Anmerkungen zum Text und zahlreichen zeitgenössischen Ab- bildungen sowie einem farbigen Bildteil. Frankfurt a. M./Leipzig (Insel) 1991.

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Europa zurück und begann mit der Ausarbeitung seiner Forschungsergeb- nisse. Anfang 1807 erschien sein Reisewerk teilweise auf Deutsch: Ideen zu einer Geographie der Pflanzen nebst einem Naturgemälde der Tropenländer, und zwar mit einer Widmung an Goethe. Darauf reagierte Goethe charmant im 1809 entstan- denen Roman Die Wahlverwandtschaften. Seine Protagonistin Ottilie liest tro- pisch-exotische Reisebeschreibungen und schreibt ihren Wunsch im Tagebuch nieder: „Wie gern möchte ich nur einmal Humboldten erzählen hören" (MA 9, S. 457). Umso interessanter ist aber, dass diese Notiz mit ihrer ängstlichen Frage beginnt: /1 Wie man es nur über das Herz bringen kann, die garstigen Affen so sorgfältig abzubilden. Man erniedrigt sich schon, wenn man sie nur als Tiere betrachtet; man wird aber wirklich bösartiger, wenn man dem Reize folgt, bekannte Menschen unter dieser Maske aufzusuchen" (MA 9, S. 456).

Diese Frage bezieht sich direkt auf eine Frauenfigur, auf Luciane, die ein abso- lutes Gegenbild zur ruhigen Ottilie ist.

Luciane, die Tochter Charlottes aus erster Ehe, macht einen Affen zu ihrem Lieblingstier, bringt ihn aber bei dem Besuch im Hause der Mutter nicht mit.

Aufgrund ihrer „Affen-Liebe" lässt Luciane aus der Hausbibliothek einen ganzen Band der wunderlichsten Affenbilder kommen: „Der Anblick dieser menschenähnlichen und durch den Künstler noch mehr vermenschlichten ab- scheulichen Geschöpfe machte Lucianen die größte Freude", und sie versucht mit Vergnügen, 11bei einem jeden dieser Tiere die Ähnlichkeit mit bekannten Menschen zu finden" (MA 9, S. 424). Während Ottilie die Gesellschaft von diesem Thema befreien möchte, macht Luciane die Bemerkung: „Im Grunde sind doch die Affen die eigentlichen Incroyables und es ist unbegreiflich, wie man sie aus der besten Gesellschaft ausschließen mag" (ibid).

Es ist einleuchtend, dass Luciane eine regelrechte Sympathie zu Affen ent- wickelt, weil ihr selbst gewisse affenähnliche Züge eigen sind. Das könnte man als eine Nachahmung des Menschen ohne humane Substanz ansehen:

Luciane ist von turbulenter Lebhaftigkeit, ungeduldiger Geschäftigkeit, lauter Geselligkeit, egoistischer Gefallsucht, auffallender Oberflächlichkeit und zeigt eine Vorliebe für luxuriöse Feste, mit der sie wie ein Wirbelwind in Edu- ards stillen Landsitz einbricht. Sie dient hier der kritischen Betrachtung des Hochadels, seiner Personal- und Materialverschwendung und ebenso zur Darstellung seiner gehässigen Arroganz und leeren Selbstinszenierung. Nie- mals erträgt Luciane, still zu bleiben, jedoch haftet ihren Bewegungen etwas störend Ungraziöses und Groteskes an. Wenn Goethe statuiert: „Wenn die Af- fen es dahin bringen könnten, Langweile zu haben, so könnten sie Menschen werden" (Maximen und Reflexionen Nr. 918, MA 17, S. 877), so lässt sich am Beispiel der Luciane erhellen, was Goethe meinte. Der Mensch ohne Lange- weile ist der Affe mit menschlichem Aussehen. Die problematische Verwandt- schaft zwischen Mensch und Primaten spiegelt sich hier wider.

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Luciane bringt nicht nur viel Gepäck mit, um eine unendliche Abwechs- lung in Kleidern zu genießen: Sie selbst ist Incroyable; sie bringt auch unbere- chenbar die »große Welt« in die Stille des Landsitzes, nach der Definition der Ottilie: „ein buntes geräuschvolles Leben dazu, um Affen, Papageien und Mohren um sich zu ertragen" (MA 9, S. 456f. ). Jenes Affenbilderbuch, das nach dem Fortgang der Luciane liegen geblieben war, gibt Ottilie erneut den Anlass zu einem Gespräch mit dem „Gehülfen". Dieser stimmt Ottilies Frage: „Wie man es nur über das Herz bringen kann, die garstigen Affen so sorgfältig ab- zubilden?" völlig zu und behauptet, dass jede Naturkenntnis sich auf das be- grenzen sollte, „ was uns unmittelbar lebendig umgibt", alles Exotische dage- gen als das Fremde ausgeschlossen werden müsse. Er denkt, die Gewächse und Tiere seiner Umgebung seien seine echten Kompatrioten, und empfiehlt, sich zu fragen, „ob nicht ein jedes fremde, aus seiner Umgebung gerissene Geschöpf einen gewissen ängstlichen Eindruck auf uns macht, der nur durch Gewohnheit abgestumpft wird" (MA 9, S. 456). Was für Ängste sind damit gemeint?

5. DIE ILLUSION UND ANGST, DASS DIE AFFEN EINES TAGES ZU MENSCHEN WÜRDEN

Goethe vermittelt in den Wahlverwandtschaften nicht den „gewissen ängstli- chen Eindruck", den der exotische Affe hervorrufen sollte. Diese Angst zeigt sich aber in der anderen Literatur seiner Zeit. In diesem Kontext ist es bemer- kenswert, dass der Affe als Protagonist in der europäischen Literatur der er- sten Hälfte des 19. Jahrhunderts häufig auftaucht und auch Zutritt zur menschlichen Gesellschaft hat.17 Es geht um die Textgruppe, die den Kultur- menschen als gelehrigen Affen gestaltet. Hier zeigt sich der dressierte Affe als das wahre Bildungsziel unserer Kultur. Gewiss ist es eine Ironie Goethes, dass die affenartige Luciane tatsächlich als Musterschülerin im Internat das höch- ste Lob erhält. Der Kulturmensch ist ein Affe, ohne es zu bemerken, denn er- rungene Kultur bedeutet stets errungene Anpassung, aber Anpassung heißt gekonnte Nachahmung. Als Beispiele in der deutschen Literatur seien ge- nannt: E. T. A. Hoffmanns Nachricht von einem gebildeten jungen Mann und Wil- helm Hauffs Der Affe als Mensch.

17 Als Sekundärliteratur besonders: Patrick Bridgwater: Rotpeters Ahnherren, oder: Der gelehrte Affe in der deutschen Dichtung. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 56 (1983), S. 447-462; Horst-Jürgen Gerigk: Der Mensch als Affe in der deutschen, französischen, russischen, englischen und amerikanischen Literatur des 19. und 20.

Jahrhunderts. Stuttgart (Guido Pressler) 1989.

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Aeka lSHlHARA

Die Nachricht von einem gebildeten jungen Mann erschien zunächst in der Allgemeinen musikalischen Zeitung vom 16. März 1814, bevor sie 1815 in die Phantasiestücke in Callots Manier aufgenommen wurde. Diese kleine Erzählung zeigt uns, dass man sich damals tatsächlich in hochfliegenden Phantasien über Affen erging, die zu Menschen werden. Bei E. T. A. Hoffmann geht es um die.Erziehung. Der Erzähler lernt im Hause des Geheimen Kommerzienrats R.

einen gebildeten jungen Mann namens Milo kennen.1 der eigentlich ein ehrgei- ziger Affe ist. In einem Brief an seine Affengeliebte schildert Milo ausführlich seinen Werde- und Bildungsgang: Schreiben Milos, eines gebildeten Affen, an seine Freundin, Pipi, in Nord-Amerika. Aus seiner tierischen Existenz wird Milo von einem Jäger befreit und nach Deutschland gebracht. Bei einem angesehe- nen Intellektuellen erhält Milo Unterricht, lernt Sprechen, Lesen, Schreiben, Zeichnen, Musizieren und Komponieren: Milo wird im höchsten Maße kulti- viert, nämlich ein Musterbild des herrschenden Bildungsideals. Am Ende sei- nes Briefes unterzeichnet er: „Milo, ehemals Affe, jetzt privatisierender Künst- ler und Gelehrter" 18.

Milo wurde von einem schlauen Jäger mit „wohlgewichsten Klappstie- feln" geködert, die er sich „mit lüsternem Verlangen" überzog ohne in ihnen laufen zu können, was seine Gefangennahme zur Folge hatte. Dieser „Stiefel- trick" ist bereits bei Strabo, Plinius und anderen klassischen Autoren verbrei- tet.19 Angesichts dieses Vorgangs beginnt sein alter Affenonkel laut zu schreien und dem Jäger und seinem Neffen Milo Kokosnüsse nachzuwerfen.

Eine davon hat Milo hart ans hintere linke Ohr getroffen und vielleicht deswe- gen „herrliche neue Organe zur Reife gebracht". 20 Hier parodiert E. T. A. Hoff- mann deutlich die Schädellehre des Wiener Arztes Franz Joseph Gall (1758- 1828), die damals weit verbreitet und populär war. Gall leitete bei einem auf- fälligen Zusammenhang von Schädelwölbung und Anlagen die Beule aus der Wirkung eines darunter befindlichen Organs ab.21 Milo schließt von der durch die Kokosnuss erhaltenen Beule auf ein besonderes Talent und zeigt gleichzei- tig den Widerspruch der Gallschen Lehre auf, indem er die Ursache der Beule angibt und naiv die Entwicklung von außen betrachtet. Milo schreibt eine iro- nische Passage an seine Freundin Pipi:

18 E. T. A. Hoffmann: Fantasiestücke in Callot's Manier. Werke 1814. Sämtliche Werke in 6 Bän- den, Bd. 2/1. Hrsg. v. Hartmut Steinecke unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen und Wulf Segebrecht. Frankfurt a. M. (Deutscher Klassiker Verlag), hier S. 428.

19 Desmond & Ramona Morris: Ningen to Saru. Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Men and Apes bei Hutchinson, London 1966. Aus dem Englischen ins Japanische übersetzt von Hideo Obara, Tokyo (Kadokawa) 1970, hier S. 38.

20 ibid., S. 421.

21 ibid., Kommentar, S. 837f.

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Du mußt nämlich wissen, liebe Pipi, dass die geistigen Anlagen und Ta- lente, wie Beulen am Kopfe liegen, und mit Händen zu greifen sind; mein Hinterhaupt fühlt sich an, wie ein Beutel mit Kokosnüssen, und jenem Wurf ist vielleicht noch manches Beulchen und mit ihm ein Talentchen ent- sprossen. Ich hab' es in der Tat recht dick hinter den Ohren!22

In der Erzählung Hoffmanns führt der Affe Milo mit viel Geschick ein erfolg- reiches Leben in der gehobenen Gesellschaft. Im Gegensatz dazu trägt im di- daktischen Märchen Hauffs Der Affe als Mensch (1827) die Natur des Affen den Sieg über die Erziehung davon.

Im Jahre 1827 erscheint Wilhelm Hauffs (1802-1827) Märchen Der Affe als Mensch, oder der junge Engländer23 innerhalb des Zyklus Der Scheik von Alessan- dria und seine Sklaven. Eines Tages taucht in einer kleinen Stadt namens Grün- wiesel in Süddeutschland ein Fremder auf, angeblich direkt aus Berlin. Da er sich zunächst gegen die Gesellschaft abkapselte, halten die Leute der kleinen Stadt ihn für einen Verrückten, einen Juden oder einen Zauberer. Bald wird jedoch ruchbar, dass der Fremde mit seinem angeblichen Neffen zusammen lebt. Sein Neffe ist mit einem roten Frack, grünen, weiten Beinkleidern und Glacehandschuhen elegant gekleidet und lernt ein mittelmäßiges Deutsch.

Die Bürger sind darauf bedacht, sich den vermutlich aus vornehmem Hause in England stammenden Gentleman als künftigen Schwiegersohn zu erwer- ben, und laden ihn nach Hause und in den Club ein. Während des langen Winters gewinnt dieser junge „Engländer" oft beim Schachspiel, tanzt auf Bäl- len und singt „wie ein Engel". Selbst seine groben Manieren werden als exo- tisch bestaunt, und die jungen Männer in Grünwiesel eifern ihm nach. Bei ei- nem Konzertabend am Ende des Winters besinnt sich der Neffe plötzlich auf seine tierische Natur und springt über Tisch und Bänke. Nach einer Hetzjagd wird er aufgegriffen, und ein gelehrter Herr identifiziert ihn als Homo Troglo- dytes Linnaei. 24 Er wird von jenem gelehrten Manne übernommen und in des- sen Naturalienkabinett Fremden als Seltenheit gezeigt.

Horst-Jürgen Gerigk nennt zwei Gründe dafür, warum Hauff seinen Af- fen-Protagonisten als einen Engländer einführt25: einerseits die herrschende Anglomanie und andererseits die oben genannten Forschungen Tysons Orang-Outang, sive Homo Sylvestris, die Hauff allerdings nur vom Hörensagen kannte. Tyson hat darin ein Lebewesen, das er für einen typischen Pygmäen

22 ibid., S. 422.

23 Im Jahre 1965 wurde dieses Märchen Hauffs als abendfüllende Oper präsentiert, und zwar mit einem Libretto von Ingeborg Bachmann, unter dem Titel Der junge Lord. Vgl. Horst- Jürgen Gerigk, S. 49-52.

24 Wilhelm Hauff: Sämtliche Werke in 3 Bänden, München (Winkler), Bd. 2, hier S. 168.

25 Vgl. Horst-Jürgen Gerigk, hier S. 47.

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hielt, zwischen Affe und Mensch angesiedelt. Der von Tyson dargestellte Pyg- mäe war in Wahrheit ein afrikanischer Schimpanse; dessen Skelett befindet sich im naturgeschichtlichen Museum in London. Zwar qualifizierte Tyson den Orang-Utan eindeutig als Tier ab, setzte aber mit der Bezeichnung Homo Sylvestris Vorstellungen in Gang, die sich besonders in Linnes Systema naturae positiv niederschlugen. Diese Vorstellungen bringt Hauff satirisch zum Aus- druck, wenn er seinen Affen als Linneischen Menschenaffen präsentiert.

Nicht nur in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, sondern auch in der des damaligen Europa findet man viele ähnliche Beispiele, in denen die Abrichtung des Affen zum Menschen als das geheime und wahre Bildungs- ziel der zeitgenössischen Gesellschaft und Literatur kenntlich gemacht wird.

Der französische Romancier Nicolas-Edme Restif de la Bretonne (1734-1806) zeigt seinen gebildeten Pavian Cesar de Malaca bei der Abfassung eines Brie- fes, in dem er seine Artgenossen warnt, dass sie die Menschen nicht nachäffen sollten (Brief eines Affen an seine Artgenossen, 1781). Cesar ist der Sohn aus der Verbindung einer Frau aus Malakka und einem Pavian, er wird bei seiner Ge- burt von einem Europäer vor dem Erstickungstod gerettet und schließlich nach Frankreich gebracht. Unter Anleitung einer reichen Frau erhält Cesar eine europäische hohe Bildung. Der englische Schriftsteller Thomas Love Pea- cocks {1785-1866) macht in Schloß Melincourt (Melincourt, 1817) aus einem Orang-Utan einen Vertreter des Natur- und Urmenschen, nämlich ein Abbild des vernunftbegabten Adam. Der Protagonist Sir Oran Haut-ton erwirbt schließlich ein Landgut und einen Sitz im Parlament.

Es ist weder Zufall noch naiver Scherz, dass der Affen-Protagonist als Mensch in der europäischen Literatur am Anfang des 19. Jahrhunderts wieder- holt auftaucht. Im Hintergrund der amüsanten Phantasien steht die Angst, dass die Affen eines Tages zu Menschen würden. Immerhin spielt der kluge Pavian seine ehrwürdige Rolle aus, und die Affen werden literarisch gezähmt und hauptsächlich in satirische Dienste gestellt. Aus einem anderen Blickwinkel ver- suchte Edgar Allan Poe diese Angst zu schildern26: Im Jahre 1841 veröffentlicht Poe die berühmteste seiner Detektivgeschichten, die Morde in der Rue Morgue.

Ein lohfarbener Orang-Utan der Borneo-Spezies ermordet hier auf bestialische Weise zwei Frauen, Mutter und Tochter, nachts in ihrem Schlafzimmer mitten in Paris. Der Mörder, der sogar eine Fremdsprache gesprochen haben soll, war kein Mensch, sondern ein Affe, der bloß mit einem Messer das Rasieren nachah- men wollte. Die Nachahmung ist in der Tat eine typische Eigenschaft von Affen.

Auf die Gestalt des Menschenaffen, der eine Frau verfolgt, stoßen wir bereits kurz zuvor in Walter Scotts Roman Graf Robert von Paris (1831).

26 Vgl. Hiroshi Aramata: Dai-Hakubutsugaku-f idai. Shinka to Cho-Shinka no Yume (=Der Traum der Naturgeschichte), Tokyo (Kousaku-sha) 1982, hierS. 337f.; Desrnond & RarnonaMorris, S. 33f.

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6. SCHLUSS

Goethes Entdeckung des Zwischenkieferknochens beim Menschen ist wich- tig, weil er damit klar die Verwandtschaft des Menschen mit den Säugetieren belegte und den Menschen in die Reihe der übrigen Organismen stellte. Aber damit drohte dem Menschen ein Verzicht auf seine Sonderstellung in der Na- turgeschichte. Er ist immerhin in die Gattung Primates (wörtlich „die Ersten und Vornehmsten") eingeordnet, aber nicht mehr der Einzige, direkt unter den Engeln stehend, sondern mit Anthropoiden und Affen gleichgestellt.

Zwar ist Goethes Entdeckung im Zusammenhang mit der damaligen Anato- mie oft interpretiert, aber bis jetzt kaum mit der zeitgenössischen Literatur verglichen worden. Ohne die damaligen Überraschungen, Verwirrungen und Ängste angesichts des neu entdeckten Affen und ohne die religiösen Ausein- andersetzungen in Betracht zu ziehen, kann man jedoch weder die starke Ab- lehnung der Gelehrten noch Goethes langjähriges Zögern wegen seiner Publi- kation verstehen.

Goethe verkleinerte zwar den Abstand zwischen den Menschen und den Affen in der Stufenleiter, erreichte aber nicht die Evolutionstheorie im Dar- winschen Sinne. Gerade das Festhalten an der Idee eines Urtyps, nämlich an dessen ideal und gestaltungsfähig gedachter Einheit, hinderte ihn daran, evo- lutionsbiologische Ansätze zu erreichen. Vielleicht tat er das sogar absicht- lich? Vermutlich hatte auch Goethe inmitten des gewaltigen Wandels der Weltkenntnis und des Weltverständnisses am Anfang des 19. Jahrhunderts eine latente, uneingestandene Scheu vor den Konsequenzen seiner Entde- ckung, während er gleichzeitig genauso wie Ottilie ein neugieriges Verlangen nach dem Exotisch-Fremden in sich trug und den Weltreisenden beneidete. Er ahnte dunkel, dass er die strenge Grenze zwischen Menschen und Affen auf- heben würde und dass die beiden dann gemeinsame Vorfahren hätten. Jeden- falls verzichtete Goethe freiwillig auf ein buntes geräuschvolles Leben mit exotischen Tieren, blieb gern in seiner vertrauten Umgebung und lebte weiter- hin auf der traditionellen Stufe des Menschen. Nach seiner Erkenntnis wird der Reisende ein anderer Mensch: „Es wandelt niemand ungestraft unter Pal- men" (MA 9, S. 457).

Nachdem Linne den Orang-Utan in die Nachbarschaft des Menschen ge- stellt hatte, benutzten Schriftsteller gern das Affen-Motiv, antizipierten - frü- her als die Naturwissenschaftler - auf der literarischen Ebene, was nun kom- men musste: Darwins Evolutionstheorie. Nach langer Überlegung veröffent- lichte Charles Darwin 1859 On the Origin of Species. Bald danach fasste Th. H.

Huxley (1825-1895) in Evidence as to Man's Place in Nature (1863) die neuen Erkenntnisse zusammen als ersten Versuch, die Evolutionstheorie explizit auf den Menschen anzuwenden. Anschließend publizierte Darwin im Jahre 1871

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The Descent of Man, was wiederum großes Aufsehen erregte. Der Gedanke der evolutionären Entwicklung, des 11evolutionären Vektors" als folgerichtige Weiterentwicklung der Scala naturae, war auf dem Wege, seinen festen Platz in der Naturwissenschaft einzunehmen.

* Diese Arbeit wurde von the Japan Society for the Promotion of Science (= JSPS-Postdocto- ral Fellowships for Research Abroad) gefördert.

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