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Ob es spezifische „kulturelle Werte Europas“ gibt, ist ein durchaus kon- troverses Thema der Sozial- und Geisteswissenschaften.1 Konsens be- steht in der zentralen Rolle des Reli- giösen bei der Wertgenese. Doch wie Religion, Kultur, Politik und andere Sphären des Sozialen zusammenhän- gen, wird unterschiedlich gesehen.

Die Denkfigur eines „christlichen Abendlands“ operiert mit der Diffe- renz zum vor allem islamischen

„Morgenland“, das noch Ende des 17.

Jahrhunderts bis nach Budapest reichte. Dessen „Untergang“2 und damit die bis heute anhaltende wirt- schaftliche, politisch-militärische wie kulturelle Hegemonie Europas und seines nordamerikanischen Erbes las- sen sich wohl am besten über die Er- findung des modernen Staates durch die Europäer verstehen.

Eine historisch-anthropologische Perspektive sieht die europäische Be- sonderheit in einer seit dem Mittel- alter währenden Durchsetzung des äußeren und inneren Gewaltmono- pols – bis hin zum totalen Staat – und in der Emanzipation des Staates von

der Kirche.3 Der historisch-soziologi- sche Blick betont hingegen das kom- plexe Zusammenspiel von Religion und Staatsentwicklung. Dabei wird entweder die Bedeutung des zentra- len Städtegürtels in Europa betont, der durch die gemeinsame Religion mit dem Agrarland verbunden war und „alle Versuche einer militärisch- administrativen Zentrumsbildung bis ins 19. Jahrhundert“ scheitern ließ, wobei die Demokratisierung zur Na- tionenbildung genutzt wurde.4 Oder es wird eher von einer Entkopplung kultureller und struktureller Fakto- ren ausgegangen und das spezifisch Europäische in seinen „Großen Revo- lutionen“ gesehen, „in den weltlichen Ordnungen, im sozialen Leben, utopi- sche, eschatologische Visionen zu ver- wirklichen, die Gesellschaft durch ideengeleitetes politisches Handeln zu verändern“.5

Die Textform dieser politisch-religi- ösen Werte bilden die Verfassungen.

Eine starke und noch immer weiter führende Begrifflichkeit verwendete Georg W. F. Hegel: „Die Garantie einer Verfassung (…) liegt in dem

Prof. Dr. MICHAEL OPIELKA, geb. 1956, ist Professor für Sozialpolitik an der Fachhochschule Jena, Fachbereich Sozialwesen, Visiting Scholar an der University of California at Berkeley, School of Social Welfare und Lehrbeauftragter an der Universität Bonn. Seine Forschungs- schwerpunkte sind Sozialpolitik, Soziologische Theorie, Kultur- und Religions - soziologie.

Europas soziale Werte

Der Wohlfahrtsstaat als Projekt europäischer Identität?

von Michael Opielka

Die Verfassung der Europäischen Union wurde durch die Kontroverse zwischen den Befürwortern einer eher wohlfahrtsstaatlichen und einer eher wirtschaftsliberalen Ausrichtung politisch blockiert. Ohne eine Reflexion der kulturellen Dimension dieses Konflikts dürfte seine Über- windung nicht gelingen. Dabei erweist es sich als hinderlich, dass die sozialen Verfassungswerte bislang eher abstrakt postuliert, aber kaum auf ihre historische und institutionelle Verankerung analysiert wurden.

Genau darin liegt jedoch ihr Beitrag zur Identität Europas.

1 Hans Joas und Klaus Wiegandt (Hrsg.): Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt a.M. 2005;

Carsten Peter Thiede: Europa. Werte, Wege, Ziele, Berlin 2005; Dieter Blumenwitz u.a. (Hrsg.): Die Europäische Union als Wertegemeinschaft, Berlin 2005.

2 Bernard Lewis: Der Untergang des Morgenlandes, Bonn 2002.

3 So Wolfgang Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Euro- pas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999.

4 Stein Rokkan: Staat, Nation und Demokratie in Europa, Frankfurt a.M. 2000, S. 164.

5 Shmuel N. Eisenstadt: Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist 2000, S. 15.

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Geiste des gesamten Volkes“.6 Verfas- sungen sind also keine Emanationen eines abstrakten Weltgeists, wie He- gels Überlegungen später oft missver- standen wurden, sondern stehen in einem wechselseitigen, dialektischen Verhältnis zur gesamten Struktur und Kultur einer Nation.

Im Folgenden soll diskutiert wer- den, ob und warum soziale Verfas- sungswerte und ihre Institutionalisie- rung im Projekt des Wohlfahrtsstaats einen historisch und vergleichend kaum zu überschätzenden Beitrag Eu- ropas in der Evolution moderner Ge- sellschaften bilden. In einem ersten Schritt werden diese Werte in den Kontext der Spannung von Religion und Politik gestellt. Im zweiten Schritt wird gefragt, inwieweit der Wohl- fahrtsstaat in historischer und ver- gleichender Perspektive als „Projekt Europas“ gelten kann. Die Frage, was überhaupt eine „soziale“ Politik als Maßgabe „sozialer“ Verfassungswerte auszeichnet, wird an der Kontroverse um das „Schröder/Blair-Papier“ aus dem Jahr 1999 und damit zwischen Liberalismus und Sozialstaatlichkeit verfolgt. Abschließend geht es darum, ob der Wohlfahrtsstaat als ein Ele- ment europäischer Identität gelten kann. Eine Reflexion auf das spezi- fisch Europäische des Wohlfahrts- staatsprojekts auch im Vergleich zur USA kann zur Klärung beitragen.

Religion und Politik

Moderne Nationalstaaten kennen poli- tische Mythen, die fast immer religiöse

Verweise enthalten. „Die Berufung auf das Christentum, die die europäische Identität begründet, begründet zugleich ihre Verschiedenheit und Uneindeutig- keit“. Etienne François und Hagen Schulze berichten vom Eindruck, „die europäischen Nationen des ausgehen- den 20. Jahrhunderts seien Töchter der Religion und der (französischen, Anm. M.O.) Revolution“.7

Als problematisch gilt der Religi- onsbezug von Politik in seiner sozial- wissenschaftlichen wie verfassungs- theoretischen Reflexion. Soziologische Theorie und Empirie ist seit ihrem Beginn, dem Ende des 19. Jahrhun- derts, engstens mit der These der Sä- kularisierung, eines umfassenden Be- deutungsverlustes von Religion für die Wertbegründung verbunden. Da- gegen wurden in den letzten Jahren überzeugende religionssoziologische Einwände erhoben,8 auch aus Sicht der empirischen Wertforschung.9 Hans Joas plädiert sogar dafür, „aus der säkularisierungstheoretisch be- gründeten Selbsteinschüchterung her- auszukommen“.10

Gegen die These, Religion würde für politische Zwecke gewöhnlich in- strumentalisiert, stellt der Hegel-Ken- ner Henning Ottmann die „Gegenthe- se, dass Politische Theologie in erster Linie der Herrschaftsdistanzierung und Herrschaftsrelativierung dient.

Ihre wichtigste Aufgabe besteht dem- nach darin, ein Fenster zum Unver- fügbaren offen zu halten. (...) Politi- sche Theologie ist im allerweitesten Sinne jede Form der Reflexion und

6 Und weiter: „(…) nämlich in der Bestimmtheit, nach welcher es das Selbstbewusstsein seiner Vernunft hat, (die Religion ist dies Bewusstsein in seiner absoluten Substantialität)“, Georg W. F.

Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), Hamburg 1999, S. 513 (§ 540) (Rechtschreibung adaptiert).

7 Etienne François und Hagen Schulze: Das emotionale Fundament der Nationen, in: Monika Flacke (Hrsg.): Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama, München/Berlin 2001, S. 24 f.

8 José Casanova: Public Religions in the Modern World, Chicago/London 1994.

9 Jan W. van Deth und Elinor Scarbrough (Hrsg.): The Impact of Values. Beliefs in Government, Volume Four, Oxford 1995; Pippa Norris und Ronald Inglehart: Sacred and Secular. Religion and Politics Worldwide, Cambridge 2004.

10 Hans Joas: Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz, Freiburg 2004, S. 48.

Soziologische Theorie und Empirie sind seit ihrem Beginn engstens mit der These der Säkularisierung, eines

umfassenden Bedeutungsverlusts von Religion für die Wertbegründung verbunden.

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Systematisierung des jeweiligen Ver- hältnisses von Religion und Politik.“11 Der Verfassungstheoretiker Ernst- Wolfgang Böckenförde hat das Be- gründungsproblem auf die vielzitierte Formel gebracht: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraus- setzungen, die er selbst nicht garan- tieren kann. Das ist das große Wag- nis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.“ Er fährt dann fort:

„Der Staat, auf die inneren Bindungs- kräfte nicht mehr vertrauend oder ihrer beraubt, wird dann auf den Weg gedrängt, die Verwirklichung der so- zialen Utopie zu seinem Programm zu erheben. (...) So wäre denn noch einmal – mit Hegel – zu fragen, ob nicht auch der säkularisierte weltli- che Staat letztlich aus jenen inneren Antrieben und Bindungskräften leben muss, die der religiöse Glaube seiner Bürger vermittelt.“12

Dass der Säkularisierungsprozess gerade dafür Chancen bietet und,

„zumal als verfassungsrechtlicher Modernisierungsprozess, statt religi- onsverdrängend zunächst vor allem religionsbefreiend gewirkt hat“, er- scheint in der funktionalistischen Perspektive von Hermann Lübbe nur dem Provinzialisten irritierend:

„Sogar noch sektiererischer Funda- mentalismus stärkte und stärkt in diesem Wirkungszusammenhang die unverbrüchliche Geltung von Men- schenrechten. In Europa ist man nicht sehr prädisponiert, das zu erkennen oder gar anzuerkennen.“13

Verfassungswerte sind Rechtskon- struktionen, die im Subsystem Politik einer Gesellschaft institutionell veror- tet werden. Zugleich beziehen sie, wo- rauf indirekt einst Emile Durkheim und direkt Ernst Böckenförde hinwie- sen, ihre Geltung aus vorpolitischen Quellen, soziologisch gesprochen, aus dem Subsystem Legitimation einer Ge- sellschaft. Damit sind zwei der großen vier Subsysteme einer Gesellschaft be- nannt, die sich – im lockeren An- schluss an Talcott Parsons – wie folgt gliedern lassen: Level 1: Wirtschaft;

Level 2: Politik; Level 3: Gemeinschaft;

Level 4: Legitimation.14 Das Subsys- tem Legitima tion beinhaltet insbeson- dere das Wissenschafts- und das Reli- gionssystem, in beiden finden sich In- stitutionen und Handlungskomplexe, die den Bezug der Gesellschaft zum Kultursystem – mit Parsons das Sym- bolsystem – organisieren.15 Legitima- tionsdiskurse sind für moderne Demo- kratien unverzichtbar.

Ist ein Konsens über Grundwerte in einer Gesellschaft notwendig? Mit Verweis auf die USA wird bisweilen behauptet, auch dort sei ein extremer Wertepluralismus – Beispiele: Todes- strafe, Abtreibung – keineswegs der nationalen Identität abträglich. Ent- sprechend könne auch Europa mit Differenzen leben.16

Der Vergleich mit den USA ist inso- weit nützlich, als gerade hinsichtlich der „unhintergehbaren“, letztlich re- ligiösen Werte, die Verschiedenheit zu Europa dramatisch erscheint. Wäh-

11 Henning Ottmann: Politische Theologie als Herrschaftskritik und Herrschaftsrelativierung, in:

Manfred Walther (Hrsg.): Religion und Politik. Zu Theorie und Praxis des theologisch-politischen Komplexes, Baden-Baden 2004, S. 73.

12 Ernst-Wolfgang Böckenförde: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt a.M. 1991, S. 112 f.

13 Hermann Lübbe: Modernisierungsgewinner. Religion, Geschichtssinn, Direkte Demokratie und Moral, München 2004, S. 10.

14 Michael Opielka: Gemeinschaft in Gesellschaft. Soziologie nach Hegel und Parsons, Wiesbaden 2004.

15 Michael Opielka: Kultur vs. Religion. Soziologische Analysen zu modernen Wertkonflikten, Biele- feld 2006.

16 Frank Hörnlein: Grundwerte für Europa?, in: Gotthard Breit und Siegfried Schiele (Hrsg.):

Werte in der politischen Bildung, Bonn 2000, S. 87–96.

Verfassungswerte sind Rechts- konstruktionen, die im Subsystem Politik einer Gesellschaft institutionell verortet werden.

Zugleich beziehen sie ihre Geltung aus vorpolitischen Quellen, aus dem Subsystem Legitimation einer Gesellschaft.

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rend in den USA „öffentliche Religio- nen“ die Regel sind, gilt Europa als Avantgardekontinent der Säkularisie- rung. Die Kontroverse über den feh- lenden bzw. völlig vagen Religionsbe- zug im Entwurf des Europäischen Konvents für eine Europäische Ver- fassung ist noch in Erinnerung.17 Womöglich lebt sie erneut auf, wenn jener Entwurf, der im „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ vom Herbst 2004 noch einige, in ihrer Ge- nese nicht recht nachvollziehbare Änderungen erfuhr,18 nach den ers- ten nationalen Zurückweisungen in Referenden im Jahr 2005 (Frank- reich, Niederlande) in absehbarer Zeit durch einen neuen, wohl schlan- keren Text ersetzt wird.

Kein religiöses Erbe?

Es erscheint berechtigt, den Verfas- sungstext auf seine Wertbezüge zu untersuchen und ihn darin als Text- material zur „Rekonstruktion der Re- ligionsvorstellungen der EU“19 ernst zu nehmen. Der grundlegende Wert- bezug im Präambeltext des Konvents- entwurfs – „Humanismus“ mit

„Gleichheit der Menschen, Freiheit, Geltung der Vernunft“ und, ganz un- bestimmt, „kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen“20 sowie eines „geistig-religiösen und sittlichen Erbes“ in der Präambel der

„Charta der Grundrechte“ – wurde im Vertragstext auf die Formulierung eines „kulturellen, religiösen und hu- manistischen Erbes Europas“ sowie

„Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte“ weiter ausgedünnt.

Bronislaw Geremek brachte den Prozess und seine Mängel auf den Punkt: „Zunächst weigerte man sich, das religiöse Erbe Europas überhaupt zu erwähnen; dann vergaß man, dem Christentum bzw. dem jüdisch-christ- lichen Erbe den gebührenden Platz einzuräumen und zitierte neben dem alten Griechenland und Rom nur die Tradition der Aufklärung. Die einst- weilen verabschiedete Kompromisslö- sung ist armselig, wenn nicht obskur, und das ist schade. Gewiss, man könnte auf die Präambel verzichten, um dieses heikle Thema und die ihm entspringenden Zwistigkeiten zu ver- meiden. Religiöse Konflikte und Schismen forderten in der Geschichte Europas einen hohen und schmerz- haften Preis. Ein Wiederaufleben sol- cher Streitigkeiten ist unter allen Um- ständen zu vermeiden. Wenn man je- doch in Betracht zieht, dass der Ver- fassungsvertrag die Funktionsweise der EU-Institutionen nicht nur kla- rer, transparenter und effizienter ge- stalten, sondern die Bürger auch näher an die Europäische Union her- anführen soll, so wird man ohne ein Körnchen ‚europäische Metaphysik‘

schwerlich auskommen können.“21 Auch die sozialen Verfassungswerte des Vertragstexts sind wenig präzise.

Zunächst werden (in Teil II, Titel III, Art. II–83 bis 86) Grundrechte für Männer, Frauen, Kinder, ältere und behinderte Menschen notiert, dann werden in der Tradition der EWG als einem offenen Wirtschaftsraum (unter Titel IV „Solidarität“) die Ar- beitnehmerrechte verfasst. Erst da- nach wird „Soziale Sicherheit“ in den

17 Thomas Läufer (Hrsg.): Vertrag über eine Verfassung für Europa. Entwurf des Europäischen Kon- vents vom 18. Juli 2003, Bonn 2004.

18 Europäische Union: Vertrag über eine Verfassung für Europa, Luxemburg 2005.

19 Jürgen Gerhards: Kulturelle Unterschiede in der Europäischen Union. Ein Vergleich zwischen Mit- gliedsländern, Beitrittskandidaten und der Türkei, Wiesbaden 2005, S. 57.

20 Läufer (Anm. 17), S. 21.

21 Bronislaw Geremek: Welche Werte für das neue Europa? Zur Einführung, Transit 26 (Winter 2003/2004), S. 12.

Zunächst weigerte man sich, das religiöse Erbe Europas im Verfassungstext zu erwähnen; dann vergaß man, dem Christentum bzw.

dem christlich- jüdischen Erbe den gebührenden Platz einzuräumen und zitierte neben dem alten Griechenland und Rom nur die Tradition der Aufklärung.

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klassischen Risikolagen Mutterschaft, Krankheit, Arbeitsunfall, Pflegebe- dürftigkeit, Alter, Arbeitslosigkeit und

„soziale Unterstützung“ gegen Armut (Art. II–94) sowie ein „Recht auf Zu- gang zur Gesundheitsvorsorge“ (Art.

II–95) thematisiert.

Nicht nur, dass diese sozialen

„Grundrechte“ kaum über die ent- sprechenden Artikel der Allgemei- nen Erklärung der Menschenrechte von 1948 hinausgehen. Entscheiden- der ist wohl der durchgängige Bezug auf die „Maßgabe der einzelstaatli- chen Rechtsvorschriften und Gepflo- genheiten“. Hier setzt auch die Kritik von Böckenförde an: „Viel wird davon abhängen, ob und inwieweit die Europäische Union als eigener Träger von Gemeinwohlverantwor- tung für die Menschen erfahren und erlebt werden kann. Solange diese Gemeinwohlverantwortung, wie ge- genwärtig, nahezu allein dem natio- nalen Staat zugeschrieben und von ihm erwartet wird, ist eine europäi- sche politische Solidarität noch nicht ausgebildet.“22 Ohne substanzielle soziale Verfassungswerte und ihre praktische Institutionalisierung, so der berechtigte Befund, wird Europa nicht zusammenwachsen.

Stephan Leibfried und Paul Pierson sprechen zwar von „halb-souveränen“

Wohlfahrtsstaaten in einer „Mehr- Ebenen-Politik“, die aufgrund einer Art Teilsouveränität der EU den Be- griff einer eigenständigen „europäi-

schen Sozialpolitik“ berechtigt er- scheinen lässt.23 Umstritten ist aller- dings, ob man von einem „europäi- schen Sozialmodell“ ausgehen kann, das auf eine Konvergenz der Plurali- tät nationaler Wohlfahrtsregime wirkt.24 Zwar versuchte der EU-Ver- fassungsvertrag die bisherige Be- schränkung auf erwerbsarbeitszen- trierte Sozialrechte hin zu allgemei- nen sozialen Grundrechten zu erwei- tern.25 Auch die „offene Methode der Koordinierung“ dürfte zumindest mittel- bis langfristig über sozialrecht- liche Normierungen die europäische Sozialpolitik stärken.26

In der rechtspolitischen Diskussion scheinen verhaltene Optimisten Ober- hand zu gewinnen, die in der Grund- rechtecharta Ausdruck und Weiser eines Wandels „von der Wirtschafts- zur Wertegemeinschaft vom homo oe- conomicus zum wertgebundenen Uni- onsbürger“ erkennen. Im Europäi- schen Konvent habe sich als „Mittel- weg“ zwischen völlig kontroversen Positionen gegenüber sozialen Grund- rechten ein „Drei-Säulen-Modell“

durchgesetzt: 1. die Aufnahme des Begriffs „Solidarität“ als Präambel- wert möglichst gleichrangig mit Frei- heit, Gleichheit und Demokratie; 2. die Aufnahme der unstreitigen Wirt- schafts- und Sozialrechte und 3. eine

„Querschnittsregelung“, wonach „kei- nes der in der Charta enthaltenen Rechte nationale oder internationale Standards absenken dürfe“.27

22 Ernst-Wolfgang Böckenförde: Die Bedingungen der europäischen Solidarität, Transit 26 (Win- ter 2003/2004), S. 27.

23 Stephan Leibfried und Paul Pierson (Hrsg.): Standort Europa. Europäische Sozialpolitik, Frank- furt a.M. 1998.

24 Dazu Michael Opielka: Sozialpolitik. Grundlagen und vergleichende Perspektiven, Reinbek 2004, S. 245 f.

25 Frank Schulz-Nieswandt u.a.: Zur Genese des europäischen Sozialbürgers im Lichte der neueren EU-Rechtsentwicklung, Münster 2006.

26 Bernd Schulte: Die „offene Methode der Koordinierung“ (OMK) als politische Strategie in der Europäischen Sozialpolitik, Sozialer Fortschritt, 5–6 2005, S. 105–113; zur völkerrechtlichen Dimension vgl. Angelika Nußberger: Sozialstandards im Völkerrecht, Berlin 2005.

27 Norbert Bernsdorff und Martin Borowsky: Grundrechte in Europa. Von der Grundrechtechar- ta zur Europäischen Verfassung, Deutsche Richterzeitung (DRiZ), Juni/Juli 2005, S. 188 ff.

Ohne substanzielle soziale

Verfassungswerte und ihre praktische Institutionalisierung wird Europa nicht zusammen- wachsen.

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Das sind pragmatische, inkremen- talistische Perspektiven angesichts eines tiefen Dissenses in Europa, wie weit dessen hoheitliche und wohl- fahrtsstaatliche Integration überhaupt gehen solle. Dass „Solidarität“ schließ- lich in der Präambel des Verfassungs- texts nur noch als wolkiges Ziel („dass es ein Kontinent bleiben will, der ...

auf Frieden, Gerechtigkeit und Soli- darität in der Welt hinwirken will“) und nicht mehr als einer der „univer- sellen Werte“ (Freiheit, Gleichheit, Demokratie) gefasst wurde, kann kein Zufall sein und zeigt, wie schwach die sozialen Verfassungswerte noch ver- ankert sind. Allein die Verankerung von „Rechtsstaatlichkeit“ als vierter der „universellen Werte“ könnte man im Sinne jenes juristischen Optimis- mus als Türöffner für eine richter- rechtliche Ausweitung sozialer Grundrechte und damit von „Solida- rität“ interpretieren.

Was ist soziale Politik?

Es scheinen folglich nicht nur die noch immer nationalstaatlichen Um- verteilungsmechanismen durch Steu- ern und Beiträge zu sein, die den von Pierre Bourdieu postulierten „europä- ischen Wohlfahrtsstaat“28 verhindern.

Ein Konsens über die Grundwerte eines „europäischen Sozialmodells“

selbst ist kaum auszumachen.29 Hier lohnt an einen der bemerkenswerten Texte in der Diskussion um ein euro- päisches Sozialmodell zu erinnern, das so genannte „Schröder-Blair-Pa- pier“ aus dem Jahr 1999. Der Rück- blick darauf geschieht mit Gewinn

auch im Kontext der politischen Kon- troversen zwischen Chirac/Schröder und Blair nach den gescheiterten Ver- fassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden um ein „soziales“

versus ein marktwirtschaftliches Eur- opa im Frühjahr 2005. Einer der Schlüsselsätze jenes Textes lautete:

„Moderne Sozialdemokraten wollen das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in ein Sprungbrett in die Eigenverant- wortung umwandeln.“30

Die politische Kritik an jenem Pa- pier richtete sich unmittelbar nach seinem Erscheinen – neben Einwän- den, es sei zu unkonkret und nur tak- tisch zu verstehen – vor allem darauf, es sei zu „neoliberal“. Dagegen wandte Hans Joas ein, man müsse es als „kom- munitaristisch“ deuten, die politische Kritik am Schröder-Blair-Papier spie- gele geradezu die deutsche Kommuni- tarismus-Rezeption der neunziger Jahre „in desaströser Weise“.31

Ralf Dahrendorf hatte dem Papier vorgehalten, es habe einen „merk- würdig autoritären Anflug“ („Ar- beitszwang“, „Zwangssparen“), über- haupt komme das Wort „Freiheit“

nicht vor. Joas machte nun in der Auseinandersetzung mit der Kritik Dahrendorfs am Schröder-Blair-Pa- pier auf eine eigentümliche Polarität im Liberalismus aufmerksam. Es ist jene Polarität von „negativer Frei- heit“ – liberalen Abwehrrechten vor allem gegen staatliche Herrschaftsan- maßung – und „positiver Freiheit“, die sich zunächst in der Demokratie äußert, aber ihre Weiterungen im sozialdemokratischen (wohlfahrts-

28 Pierre Bourdieu u.a.: Perspektiven des Protests. Initiativen für einen europäischen Wohlfahrtsstaat, Hamburg 1997

29 Ilona Ostner: Review-Essay: Auf der Suche nach dem Europäischen Sozialmodell, in: Zentrum für Europa- und Nordamerika-Studien (Hrsg.): Sozialmodell Europa. Konturen eines Phänomens.

Jahrbuch für Europa- und Nordamerika-Studien 4/2000, Opladen 2000, S. 23–37.

30 Gerhard Schröder und Tony Blair: Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten. London 8. Juni 1999 (www.glasnost.de/pol/schroederblair.html), S. 11.

31 Hans Joas: Das Schröder-Blair-Papier ist nicht „neoliberal“, Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 11/1999, S. 991.

Es scheinen nicht nur die noch immer nationalstaatlichen Umverteilungs- mechanismen durch Steuern und Beiträge zu sein, die einen

„europäischen Wohlfahrtsstaat“

verhindern.

Ein Konsens über die Grundwerte eines europäischen Sozialmodells ist kaum auszumachen.

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staatlichen) Begriff „sozialer Frei- heit“ findet – der wiederum metho- disch eher ex negativo gewonnen wurde, aus „konkreten Erfahrungen der Unfreiheit“.32

Isaiah Berlin, in der angelsäch- sischen Welt der wichtigste liberale Denker des 20. Jahrhunderts, bezich- tete in seiner Schrift „Two Concepts of Liberty“33 die „positiven Freihei- ten“ einer inhärenten Gefahr des To- talitarismus; eine Kritik, die – ähnlich von Friedrich A. Hayek vorgetragen und im Ordoliberalismus bis heute fundamental – genetisch nur vor dem Hintergrund der West-/Ost-Blockkon- frontation verständlich ist.

Während Joas eine Versöhnung von „negativer“ und „positiver“ Frei- heit im kommunitaristischen Kon- zept der Bürgergesellschaft und im soziologisch-differenzierungstheore- tischen Konzept einer Trennung von

„Sphären“ (im Anschluss an Michael Walzer) erhofft – die sozialdemokra- tisch-sozialstaatliche Tradition eher ausblendend –, wäre für unsere Fra- gestellung noch an eine weitere Deu- tung zu erinnern: an Thomas H.

Marshalls Dreischritt der Staatsent- wicklung bzw. der damit verbunde- nen politischen Kämpfe um liberale Staatsbürgerrechte (im 18. Jahrhun- dert), um demokratische Staatsbür- gerrechte (im 19. Jahrhundert) und um soziale Staatsbürgerrechte (im 20. Jahrhundert).34 Anders als Ber- lin versuchte Marshall der Entwick- lung von Freiheit, Demokratie und Wohlfahrtsstaatlichkeit eine je glei- chursprüngliche, evolutionäre Deu- tung zu geben.

Das europäische Projekt Wohlfahrtsstaat?

Über die Frage, warum es in den USA keinen Sozialismus und nicht einmal eine starke sozialistische Bewegung gibt, raisonnierten von Alexis de Toc- queville über Werner Sombart, Max Weber bis zu Theodor W. Adorno eu- ropäische Beobachter stets und mit unterschiedlichem analytischen Er- trag.35 Die Idee einer Staatsverfassung mit kollektiver Glücksorientierung scheint dem amerikanischen Denken, zumindest dem Mainstream des ame- rikanischen Liberalismus, jedoch kei- neswegs fremd. Entscheidend ist wohl, dass die in der Unabhängig- keitserklärung von 1776 angelegte Anerkennung des „pursuit of happi- ness“ innerhalb einer der Selbstbe- stimmung des Einzelnen dienenden, tugendfördernden Gemeinschaftsbil- dung überwiegend aus der Sicht des Individuums als Programm sozial- staatlicher Zurückhaltung interpre- tiert wurde.36

Die sozial- und geistesgeschichtli- chen Wurzeln der politischen Diffe- renz Europa-USA sind komplex. Sa- muel B. Huntington rekonstruierte überzeugend, dass in den USA auf- grund ihrer Gründungsgeschichte die politischen Grundideen der spätmit- telalterlichen englischen Tudor-Mon- archie, ihr konsensuales und zugleich duales Repräsentationssystem (König/

Präsident als Gemeinwohlrepräsen- tant, Parlament als Repräsentant der Dezentrale, der „constituency“) bis heute überlebten: „The United States thus combine the world’s most mo- dern society with one of the world’s

32 Hans Joas: „Freiheit und Verantwortung“, in: SPD (Hrsg.): Grundwerte heute: Freiheit, Berlin 2000, S. 13.

33 Isaiah Berlin: Two Concepts of Liberty, in: ders.: Four Essays on Liberty, Oxford 1969 (1958).

34 Thomas H. Marshall: Bürgerrechte und soziale Klassen. Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaates, Frankfurt/New York 1992 (1981).

35 Claus Offe: Selbstbetrachtung aus der Ferne. Tocqueville, Weber und Adorno in den Vereinigten Staaten, Frankfurt a.M. 2004.

36 Opielka: Sozialpolitik (Anm. 24), S. 10 ff.

Die Idee einer Staatsverfassung mit kollektiver Glücksorientierung scheint dem amerikanischen Denken, zumindest dem Mainstream des amerikanischen Liberalismus, keineswegs fremd.

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most antique polities.“37 In Bezug auf

„policies“, auf die Gestaltung von Po- litikfeldern, empfiehlt sich allerdings auch das Gemeinsame zu fokussieren – und zugleich auf die Differenzen innerhalb Europas.

So zeigt beispielsweise die Kontro- verse in den USA um eine (Teil-)Pri- vatisierung der als Bürgerversiche- rung aufgestellten „Social Security“, des alle US-Bürger umfassenden Ren- tenversicherungssystems, sämtliche Ingredienzen der europäischen Wohl- fahrtsstaatsdebatten. Die Demokra- ten, im Verbund mit Gewerkschaften und Altenorganisationen (NAACP), verteidigen jene Errungenschaft des

„New Deal“ unter Roosevelt aus dem Jahr 1935, eine späte Adaption der europäischen Sozialverfassungsdis- kussion. Die Republikaner, vor allem Präsident George W. Bush, argumen- tieren liberal-konservativ für mehr Markt und private Vorsorge.38

Die Wertewandelforschung hat auf die binneneuropäischen Differenzen in Bezug auf sozialpolitische Werte umfassend aufmerksam gemacht.39 Deutschland selbst kennt eine sozial- politische Zweiteilung in einen post- sozialistischen Werteraum Ostdeutsch- land und einen sozial-marktwirtschaft- lichen Werteraum Westdeutschland, freilich auch dort auf hohem wohl- fahrtsstaatlichem Akzeptanzniveau.

Die Aussage: „Der Staat muss dafür sorgen, dass man auch bei Krankheit,

Not, Arbeitslosigkeit und im Alter ein hohes Auskommen hat“, wurde im Jahr 2000 in Westdeutschland zu 85 Prozent, in Ostdeutschland zu 93 Pro- zent bejaht.40 Daten des Allensbach- Instituts zeigen, dass im Vergleich der Werte Freiheit versus Gleichheit 1990 nur 25 Prozent der Westdeutschen, aber fast 45 Prozent der Ostdeutschen für die Gleichheit votierten. 2000 bleibt der Abstand etwa konstant, die Voten für Gleichheit steigen in West- deutschland auf knapp unter 40 Pro- zent, in Ostdeutschland auf etwas unter 60 Prozent.41

Das sind insgesamt deutlich höhere Präferenzen für Gleichheitswerte als beispielsweise in den USA oder auch in Großbritannien. Zwar ist die Interpre- tation solcher aus Massenbefragungen gewonnenen Befunde schwierig. Den- noch zeigen die europäischen Daten, ob European Values Survey, Eurobaro- meter, ISSP oder andere Quellen, stets eine hohe Akzeptanz wohlfahrtsstaatli- chen Risikoschutzes in der Bevölke- rung – die seitens der Regierungen oft negiert wird.42 Diese hohe Akzeptanz gilt sogar noch vermehrt für die neuen Beitrittsländer (seit 2004) wie für die Beitrittskandidaten (Rumänien, Bulga- rien, Türkei) zur EU.43

Die Werte Europas

Es erscheint deshalb wohl berechtigt, die wohlfahrtsstaatliche Kultur als zentralen Bestandteil der kulturellen

37 Samuel P. Huntington: Political Modernization. America vs. Europe, World Politics, 3/1966, S. 406.

38 Thomas N. Bethell: Roosevelt Redux. Robert M. Ball and the Battle for Social Security, The American Scholar, 2/2005, S. 18–31.

39 Zugleich auch darauf, dass wohlfahrtsstaatliche Zustimmung und kommunitäre Orientierung kein Widerspruch sind, vgl. Wil Arts, Loek Halman und Wim van Oorschot: The Welfare State:

Villain or Hero of the Piece?, in: Wil Arts u.a. (Hrsg.): The Cultural Diversity of European Unity, Leiden/Boston 2003, S. 275–310.

40 Opielka: Sozialpolitik (Anm. 24), S. 23; Angaben lt. Statistisches Bundesamt.

41 Helmut Thome: Wertewandel in Europa aus der Sicht der empirischen Sozialforschung, in:

Joas/Wiegandt (Anm. 1), S. 423.

42 Anne Daguerre und Peter Taylor-Gooby: Neglecting Europe: explaining the predominance of American ideas in New Labour’s welfare policies since 1997, Journal of European Social Policy, 1/2004, S. 25–39.

43 Siehe Gerhards (Anm. 19).

Deutschland selbst kennt eine sozialpolitische Zweiteilung in einen post- sozialistischen Werteraum Ostdeutschland und einen sozial- marktwirtschaftlichen Werteraum Westdeutschland.

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Werteordnung Europas zu verstehen.

Dass dies heute selbst in avancierten Studien und Sammelbänden über die

„kulturellen Werte Europas“ noch immer nicht, vage oder nur verschämt geschieht, ist eher ein Desiderat.

Warum ist das so? Eine kultursoziolo- gische Kritik samt Ausblick sei er- laubt. Die Diskussion um die „Werte Europas“ beschränkt sich bislang weitgehend auf zwei analytische Zu- gänge: Einerseits und historisch do- miniert eine geistes-/ideengeschicht- liche Perspektive auf die Genese und Geltung von Wertideen; andererseits und neuerdings die Perspektive auf Werteinstellungen der Bürger, auf die sich die „politische Kultur“-For- schung konzentriert. Der dritte und vermittelnde Zugang zwischen Ideen und Einstellungen wäre die Analyse von Institutionen: Wie werden „Wert- paradigmen“44 sozial verfasst und damit praktisch?

Diese dritte Dimension praktischer Werte, in Institutionen geronnene Werte, kommt ohne geistige Geltung und individuelles Gelten nicht aus.

Dennoch, gerade in ihr erweist sich ein Element europäischer Identität.

Für Emile Durkheim (und später Tal- cott Parsons) transformierte sich das religiöse, vor allem christliche Erbe Europas in den „Kult des Individu- ums“, in eine Sozial- und Bürgerreli- gion sozialer Grundrechte. Unterdes- sen haben wir gelernt, dass dies die

Religion nicht ablöste, da die (in Para- phrase auf Durkheim) „vorvertragli- chen Elemente des Vertrags“, hier des Gesellschaftsvertrags, nicht in einem historisch-evolutiven Ablaufpro- gramm verschwinden dürfen, um den Gesellschaftsvertrag gelten zu lassen.

Nicht nur in den Einstellungen der Individuen weltweit müssen Religio- nen als politikbestimmender Faktor in Rechnung gestellt werden.45 Auch die vergleichende Analyse konkreter Wohlfahrtsregime in Europa zeigt, wie sehr beispielsweise das katholische46 und das protestantische47 Erbe sozial- politisch wirksam bleiben. Jener He- gelsche „Geist des gesamten Volkes“

konkretisiert sich auch darin.

Wohlfahrtsstaatlichkeit ist hierbei sehr anspruchsvoll und die Frage der Mitgliedschaft als Bürger, die im (de- mokratischen) Nationalstaat eine erste Antwort fand, verschärfte sich mit der Entwicklung sozialer Rechte (auf So- zialleistungen) und sozialer Pflichten (Solidarität mit anderen Bürgern).48 Ob es jedoch ein „europäisches Volk“

je geben kann, ist schwer zu beurtei- len: „Europa ist nun kulturell noch viel heterogener als das bereits födera- listisch organisierte Amerika und ver- trägt von daher sicher nur eine höchst dezentrale politische Verfassung. Dies setzt jedoch auch der Möglichkeit, ge- meinsame demokratische und wohl- fahrtsstaatliche Institutionen zu ent- wickeln, enge Grenzen.“49

44 Lutz Leisering: Paradigmen sozialer Gerechtigkeit. Normative Diskurse im Umbau des Sozial- staats, in: Stefan Liebig, Holger Lengfeld und Steffen Mau (Hrsg.): Verteilungsprobleme und Gerechtigkeit in modernen Gesellschaften, Frankfurt/New York 2004, S. 29–68; vgl. auch Birgit Pfau-Effinger: Culture and Welfare State Policies: Reflections on a Complex Interrelation, Journal of Social Policy, 1/2005, S. 3–20.

45 Norris/Inglehart (Anm. 9).

46 Francis G. Castles: On religion and public policy: Does catholicism make a difference?, Euro- pean Journal of Political Research, 1/1994, S. 19–40.

47 Philip Manow: „The Good, the Bad, and the Ugly“. Esping-Andersens Sozialstaats-Typologie und die konfessionellen Wurzeln des westlichen Wohlfahrtsstaates, Kölner Zeitschrift für Soziolo- gie und Sozialpsychologie, 2/2002, S. 203–225.

48 Peter Wagner und Bénédicte Zimmermann: Citizenship and Collective Responsibility. On the Political Philosophy of the Nation-Based Welfare State and Beyond, in: Lars Magnusson und Bo Stråth (Hrsg.): A European Social Citizenship?, Brussels u.a. 2004, S. 31–53.

49 Peter Flora: Einführung und Interpretation, in: Rokkan: Staat (Anm. 4), S. 118.

Die vergleichende Analyse konkreter Wohlfahrtsregime in Europa zeigt, wie sehr

beispielsweise das katholische und protestantische Erbe sozialpolitisch wirksam bleiben.

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Man könnte nun darauf vertrauen, dass die europäischen Wertprinzipien in einer „westlichen Kultur“ aufge- gangen sind, die unterdessen zur

„Weltkultur“ wurde und quasi die hier diskutierten sozialen Verfas- sungswerte generalisierte: „Die menschliche Gesellschaft kann und muss in der westlichen Kultur nach dem Kriterium der Gerechtigkeit be- urteilt werden.“50 Vermutlich müs- sen wir, wie dies François Julliet in einer behänden Reflexion der europä- ischen Wertbegründung über den Umweg der chinesischen Moralphilo- sophie des Konfuzius-Schülers Men- zius versuchte,51 neben der christ- lich-europäischen Sozialontologie auch andere, grundlegend differente Formen der Letztwertbegründung von Sozialverfassungen ernsthaft kennen lernen und in unsere politi- schen Kalküle einbeziehen.52

Die Institutionalisierung sozialer Verfassungswerte ist schließlich von der künftigen Verfassung Europas ab- hängig. Armin von Bogdandy schlug vor, den alteuropäischen Begriff der

„Republik“ für das neue Europa gel- tend zu machen. Er argumentiert, dass sich der Begriff einer „Europäi- schen Republik“ in hervorragender

Weise diskursiv eigne, um unabhän- gig von den Begriffen Staat und staat- licher verfasster Nation „Natur und Zweck“ des europäischen Zusammen- schlusses als „politische Idee und ver- fassungstheoretisches Konzept“ zu klären. Eine an die EU-Tradition in- soweit anschließende „supranationa- le“ europäische Republik kann frei- lich, darin ist Bogdandy zuzustim- men, nur „ein liberaldemokratisches, gewiss aber kein kommunitaristisches Gemeinwesen bilden“.53

Das mag sich in einem längeren Zeitraum, durch Erfahrung von Ver- trauen oder Katastrophen ändern. Für uns Heutige resultiert daraus keine Zurückhaltung gegenüber sozialen Verfassungswerten, vielmehr die Auf- forderung, uns auf die wesentlichen zu konzentrieren. Eine europäische Republik kann kein „starker“ Wohl- fahrtsstaat sein, aber sie muss wohl ein tatsächlich liberaler und demokra- tischer werden, der durchgängig Mini- ma garantiert und höhere soziale Ga- rantien einzelner Mitgliedsstaaten nicht behindert. Begriff und Konzept eines sozialpolitischen „Garantis- mus“54 harmonieren vielleicht beson- ders gut mit dieser neuen europäi- schen Idee, deren Zukunft offen ist.

50 John W. Meyer: Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, Frankfurt a.M.

2005, S. 42 f.

51 François Julliet: Dialog über die Moral. Menzius und die Philosophie der Aufklärung, Berlin 2003.

52 Dazu Opielka: Kultur vs. Religion (Anm. 15).

53 Armin von Bogdandy: Die europäische Republik, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 36/2005, S. 24, 26.

54 Dazu Opielka: Sozialpolitik (Anm. 24).

Eine europäische Republik kann kein „starker“

Wohlfahrtsstaat sein, aber sie muss wohl ein liberaler und demokratischer werden, der durchgängige Minima garantiert und höhere soziale Garantien einzelner Mitgliedsstaaten nicht behindert.

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