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THOMAS HEYDEN BIEDERMEIER ALS ERZIEHER

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 THOMAS HEYDEN • BIEDERMEIER ALS ERZIEHER

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 Thomas Heyden

Biedermeier als Erzieher

Studien zum Neubiedermeier

in Raumkunst und Architektur  ‒ 

Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften Weimar 

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Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Heyden, Thomas:

Biedermeier als Erzieher : Studien zum Neubiedermeier in Raumkunst und Architektur  –  / Thomas Heyden. – Weimar : VDG, Verl. und Datenbank für Geisteswiss., 1994 Zugl.: Bonn, Univ., Diss., 

ISBN ---

© VDG • Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften • Weimar 

Alle Rechte, sowohl der Übersetzung, des Nachdrucks und auszugsweisen Abdrucks sowie der fotomechanischen Wiedergabe vorbehalten

Satz: Claus Pias, Weimar ISBN ---

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„Was die Söhne, um ihrer Selbstherrschaft willen niederreißen, bauen die Enkel auf.

Freilich auf ihre eigenwillige persönliche Art.

Die poesievolle Geschichte des Biedermeiers als Kunstereignis ist eine moderne Schöp- fung. Die persönliche Auffassung eines ein- zelnen, wie alle Geschichte.“

Joseph August Lux: Die Werdenden, in:

Hohe Warte, . Jg., ⁄, S. 

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 INHALT

. Das Neubiedermeier – Ein vergessener Stil? ...

. „Hello, Biedermeier!“ – Die neue Lust am Biedermeier ...

. „Biedermeier“– Vom Schimpfwort zum Ehrentitel ...

. Die Entdeckung des Biedermeierstils...

. Der doppelte Ursprung des Neubiedermeier ...

. Fortsetzung des Stilreigens: Vom Empire zum Biedermeier ...

. Parallelen zur Moderne ...

. Ein bürgerlicher Stil? ...

. Englische Ursprünge und englisches Vorbild ...

. Biedermeier zur Schau gestellt...

. Der Gang auf den Dachboden ...

. Jugendstil und Neubiedermeier ...

. Neubiedermeier-Raumkunst:

Stationen – Zentren – Protagonisten ...

. Das Zimmer von Helbig & Haiger auf der

Münchener Glaspalast-Ausstellung  ...

. Die Heymel-Wohnung – „Ein modernes Milieu“ ...

. Paul Schultze-Naumburg ...

. Von Eckmann zu Paul –

Die Anfänge des Neubiedermeier in Berlin ...

. Bruno Paul ...

. Die Dritte Deutsche Kunstgewerbe-Ausstellung Dresden  ... 

. Wiener Raumkunst auf den Spuren des genius loci ...

. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ...

. Der feminine Stil ...

. Goethe und Stifter: Vorläufer der Moderne ...

. „Als der Großvater die Großmutter nahm …“ ...

. Das Neubiedermeier und die Architektur ...

. Das „Biedermeierhaus“ ...

. Goethes Gartenhaus ...

. Neubiedermeier-Architektur ...

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. Neubiedermeier und Heimatschutz ...

. Biedermeier-Gärten ...

. Der Triumph des Neubiedermeier ... 

. Leibhaftige Biedermeier ...

. Bilder vom Biedermeier ...

. Die totale „Biedermeierei“ ...

. „Neumeyer“ contra „Altmeyer“ –

Das Neubiedermeier in der Diskussion ...

.  statt  – Das Ende des Neubiedermeier ...

. Biedermeier ohne Ende – Ein Ausblick ...

Anmerkungen...

Zeitschriften-Abkürzungsverzeichnis...

Literaturverzeichnis ...

Dokumente (Anhang)...

Abbildungsnachweis ... 

Danken möchte ich meinem Lehrer Prof. Tilmann Buddensieg, meinen Eltern, die mir das Studium ermöglichten, und den beiden Bibliotheka- rinnen der Landesgewerbeanstalt in Nürnberg, Heidrun Teumer und Erna Mißbach, in deren Bibliothek ich mich wie zu Hause fühlen durfte.

Orthographie und Interpunktion der zitierten Passagen entsprechen den Textvorlagen. Lediglich „ss“ wurde durch „ß“ ersetzt.

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. DAS NEUBIEDERMEIER – EIN VERGESSENER STIL?

I

J  hielt Hermann Muthesius auf der vierten Jahres- versammlung des Deutschen Werkbundes in Dresden einen öffentli- chen Vortrag mit dem Titel »Wo stehen wir?«: „Es seien jetzt etwa 

Jahre seit der Entdeckung der Biedermeierzeit verflossen, eine kritische Wende kündige sich an: die Dinge um  fingen an, amüsant zu er- scheinen und imitiert zu werden, dieselben Dinge, die Semper so scharf als ästhetisch minderwertig bezeichnet hatte.“ So wurde in der »Dekora- tiven Kunst« von Muthesius’ Standortbestimmung berichtet und mit gro- ßer Genauigkeit jener Zeitraum umrissen, der von der Entdeckung des Biedermeierstils und seiner Aneignung durch Raumkunst, Kunstgewer- be und Architektur geprägt worden war. Rechnet man vom Jahre 

fünfzehn Jahre zurück, so kommt man in das Jahr , das mit guten Gründen als Geburtsjahr des Neubiedermeier gelten darf. Alfred Lichtwark bezeichnete  das Empire und die Biedermeierzeit als „die eigentliche Keimperiode des modernen Möbels“. Im selben Jahr erin- nerte in Wien eine große Ausstellung über den Kongreß von / nicht nur an das vom Historismus bereits eingeholte Empire. Die Rekonstruk- tion des Arbeitszimmers von Kaiser Franz I. ließ auch an das Biedermei- er zurückdenken und schied die Geister. Während die einen der „dro- hend herannahende(n) Wiedergeburt der Biedermännerzeit“ entgegen- steuern wollten, standen andere, unter ihnen der Kunstschriftsteller Ludwig Hevesi, ihr nicht ablehnend gegenüber. Hevesis Prognose, daß

„nächstens … der Biedermeier ein anerkannter Stil“ sein würde, sollte sich bewahrheiten. Mit der Anerkennung des Biedermeier als Stil ver- band sich seine Wiedergeburt. Eineinhalb Jahrzehnte konnte sich das Neubiedermeier – vom Intermezzo des Jugendstils unterbrochen – be- haupten. Dann schritt die Stilmode von  weiter zu . Augenfällig wurde diese von Muthesius  beklagte Entwicklung etwa auf der Brüs- seler Weltausstellung von . Davon abgesehen, daß sich Stil- phänomene nur schwerlich auf das Jahr genau zeitlich einordnen lassen, kann das Neubiedermeier etwa auf die Jahre von  bis  datiert werden.

Den Zeitgenossen des Neubiedermeier schien die Wiederentdeckung vergangener Stilformen auf einer gewissen Gesetzmäßigkeit zu beruhen:

„Immer mußten erst fast genau zwei Generationen vergehen, rund 

Dok. 5

Dok. 3

Dok. 4

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

Jahre, ehe man den Formen früherer Zeit gerecht wurde.“ Tatsächlich hatte es ja rund siebzig Jahre gebraucht, bis der Stil des ersten Jahrhundertdrittels wieder gewürdigt werden konnte. Und noch einmal verstrichen siebzig Jahre, bis das Neubiedermeier selbst zum Gegenstand wissenschaftlichen Interesses wurde:  veröffentlichte der Volkskund- ler Bernward Deneke im »Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums«

einen grundlegenden, faktenreichen Aufsatz über »“Biedermeier“ in Mode und Kunsthandwerk  – «. Er beschäftigte sich vor allem mit der Umwertung des Biedermeier, der Entstehung des „Biedermei- er“-Stilbegriffs und dem Beginn der Wiederaufnahme biedermeierlicher Formen in Mode und Kunsthandwerk. Obwohl das Neubiedermeier nie ganz in Vergessenheit geraten war, betrat Deneke wissenschaftliches Neu- land. Denn jahrzehntelang war das Neubiedermeier eine in Darstellun- gen der Stilentwicklungen des späten . und frühen . Jahrhunderts eher beiläufig registrierte Erscheinung gewesen. Das dort skizzierte Bild ging hervor aus der die Biedermeier-Renaissance begleitenden und in den letzten Jahren vor  einen Höhepunkt erreichenden Diskussion. In diesem Zusammenhang entstand auch der neue Stilbegriff: Henry van de Velde sprach in seinem  erschienenen Buch »Vom neuen Stil« von

„Neo-Biedermeier“. Ersatzweise für das griechische Präfix „Neo-“ fand auch das deutsche „Neu-“ Verwendung. Die zeitgenössischen Stellung- nahmen zeugen freilich von der oft hitzig geführten Debatte um den ge- genwärtigen Stand und die Zukunft der Stilentwicklung und sind fast ausnahmslos apologetischer oder polemischer Natur. Ansatzweise wur- den erste Versuche unternommen, die Geschichte des Neubiedermeier festzuhalten bzw. zu rekonstruieren. So versuchte etwa Eduard Heyck

 die Ursprünge der Biedermeier-Bewegung, die mittlerweile auch Berlin erreicht habe, in München und Sachsen zu orten. Erst ein gewis- ser zeitlicher Abstand erlaubte sachlichere, wenngleich immer noch sehr oberflächliche Beschreibungen des nun historischen Stilphänomens. Ge- org Hermann ging  in der Einleitung seines »Biedermeier«-Buches der Frage nach, wieso die „politische Betrachtung jener Periode“ in den letzten Jahren von einer „kulturellen“ verdrängt worden sei: „Es hängt mit den letzten literarischen Strömungen zusammen, mit einer erneuten Vorliebe für Romane, in denen die Wurzeln der Gegenwart aufgedeckt werden. Es ist ferner eine natürliche Reaktion gegen das übermäßig be- schleunigte Lebenstempo der Gegenwart. Weit mehr aber noch knüpft es sich doch wohl an die Bewegung des modernen Kunstgewerbes.“ Karl O. Hartmann ordnete  die „Annäherung an den Biedermeierstil“

zeitlich ein zwischen den „Stil des Purismus“, der den Jugendstil abge- löst habe, und die „Annäherung an den Barockstil“. Ebenfalls auf den

Dok. 33 Dok. 16 Dok.14

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

Bereich des Kunstgewerbes bezog sich in Bosserts »Geschichte des Kunst- gewerbes« Theodor Riewerts mit seinem knappen Hinweis auf die „Re- naissance“ des Biedermeier. Im selben Jahr erinnerten Fritz Schu- macher und Fritz Schmalenbach an weitere Aspekte des Neubiedermeier:

Schumacher kam in seinem  erschienenen Buch »Strömungen in deutscher Baukunst seit « auf die Biedermeier-Nachahmung der Heimatschutzbewegung zu sprechen. Schmalenbach fand in der Flächenkunst der Zeit des Jugendstils auch „historische Anregungen durch das Biedermeier“, die er als „eine Reaktion auf den Antihistorismus des Jugendstils“ deutete. In Friedrich Ahlers-Hestermanns  veröf- fentlichter Darstellung der »Stilwende« um  wurde die „selbständige Aufnahme und Weiterführung der Tradition von “ als eine der nach Ende des Jugendstils dominierenden Richtungen erkannt. Nach Ahlers- Hestermann stellte sie „… weniger eine Reaktion als vielmehr eine Art von Nebenprodukt der Erneuerungsbewegung dar und ist an einigen Endpunkten sogar eine organische Verbindung mit ihr eingegangen.“

Eine ebenfalls differenzierte, jedoch nur kurz angedeutete Interpretation des Neubiedermeier bot der bedeutende Kunstschriftsteller Karl Scheffler – wie der Maler Ahlers-Hestermann ein Zeitzeuge des Neu- biedermeier – in seinem  unter dem Titel »Die fetten und die mage- ren Jahre« erschienenen »Arbeits- und Lebensbericht«. Er unterschied jene historistische Neuauflage des Biedermeier, gegen die sich der „Neue Stil“ wandte, von einem „zweiten Biedermeier“, zu dem das Neue in den Händen „geschäftstüchtige(r) Opportunisten“ wurde.  brachte Willi Flemming von literaturwissenschaftlicher Seite der „Entdeckung des Bie- dermeier“ Interesse entgegen. Seine Problematisierung des „Biedermei- er“-Begriffs führte ihn einleitend zu einer Skizze des Neubiedermeier, von dem er als „Biedermeier-Mode um “ sprach. Ernst Scheyer bereicherte  das spärliche Wissen um die „Biedermaier-Renaissance

“ durch interessante Anmerkungen. Dabei machte er auch auf den

 von Charles A. Williams vorgeschlagenen Begriff „Biedermeier II“

aufmerksam. Im Jahre  wies Jost Hermand in einer ideologie- und stilgeschichtlichen Zusammenschau der verschiedenen „Ismen“ der Jahr- hundertwende die „Biedermeiermode“ für viele kulturelle Bereiche nach – von der Literatur über das Theater bis zur Malerei und Graphik – und ordnete sie der „ästhetisch-dekorativen Phase“ der »Stilkunst um «

zu.

Hatte der Kenntnisstand über das Neubiedermeier vor  auf nur wenigen Hinweisen beruht, so lenkte Denekes bahnbrechende Studie den Blick auf einen fast vergessenen Stil. Das stilgeschichtliche Interesse der ersten Nachkriegsjahrzehnte konzentrierte sich auf den Jugendstil, den

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

es als Ursprung der Moderne zu entdecken und nach den Jahren der braunen Diktatur zu rehabilitieren galt: „Aus Essays, Abhandlungen, neueren kunsthistorischen Werken und Auktionsberichten weiß man, daß der Jugendstil seit einigen Jahren eine Art Renaissance erlebt. Er wurde zum Gegenstand eines breiten modischen Interesses, aber auch wissen- schaftlicher Forschung“, schrieb Linda Koreska-Hartmann im Jahre

.

Seit  riß die Beschäftigung mit dem Neubiedermeier jedoch nicht mehr ab und korrigierte die einseitige Fixierung auf den Jugendstil. So befaßte sich Georg Himmelheber  in Kreisels »Kunst des deutschen Möbels« im Kapitel „Neoklassizismus“ auch mit Neubiedermeier-Mö- beln.  thematisierte Willi Geismeier das Neubiedermeier im Rah- men seines »Biedermeier«-Buches. Er schloß sich dem ideologie- geschichtlichen Ansatz Hermands an und suchte gemäß historisch-mate- rialistischer Methode die Ursachen der Biedermeier-Rezeption in den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnissen der von Mono- polkapitalismus und Klassenkampf geprägten Jahrhundertwende. Jörn Bahns griff  die alte, von van de Velde geprägte Stilbezeichnung auf und widmete in seinem Buch über »Biedermeier-Möbel« dem „Neo-Bie- dermeier um “ ein eigenes Kapitel.  beschäftigte sich zum er- sten Mal eine Ausstellung mit dem Neubiedermeier: Dort, wo die Bie- dermeier-Renaissance ihren Ausgang genommen hatte, nämlich in Wien, stellte die Ausstellung »Moderne Vergangenheit« den „Aufbruch“ um

 dem „Umbruch“ um  vergleichend gegenüber. Im zweiten Ursprungsort des Neubiedermeier, in München, erweiterte Georg Himmelheber im Jahre  diesen Vergleich. Die letzte Abteilung der großen Ausstellung »Kunst des Biedermeier« zeigte in wenigen ausgesuch- ten Stücken „Biedermeier als Vorbild“. Angedeutet wurden die unter- schiedlichen Spielarten der Biedermeier-Rezeption im .Jahrhundert:

vom Neubiedermeier bis zur Postmoderne. Schließlich präsentierte seit Dezember  das Münchner Stadtmuseum unter dem Titel »Neoklas- sizismus und Neue Sachlichkeit« eine Folge von Interieurs und Einzel- möbeln, die auch Beispiele des Neubiedermeier umfaßte.

Das Neubiedermeier ist also längst kein vergessener Stil mehr, auch wenn es sich bis heute in kunsthistorisch interessierten Kreisen und selbst bei vielen Kunsthistorikern nicht gerade großer Bekanntheit erfreuen darf. Die Kunstgeschichtsschreibung hat allzu oft die beiden letzten Jahr- zehnte vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs nur nach den Wurzeln und ersten Blüten der Moderne abgesucht. Zwischen Heroen wie van de Velde und Behrens, zwischen Jugendstil und Werkbund blieb kaum Raum für ein Bewußtsein um Beharrendes, Gegenläufiges und Ambivalentes. Ge-

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

rade letztere Eigenschaft erschwerte den Umgang mit dem Neubieder- meier, das ein eigentümlicher Zwitter aus spätem Historismus und frü- her Moderne ist. Daß das Biedermeier nicht nur vom wilhelminischen Bürgertum, sondern später auch von den NS-Machthabern ideologisch ausgeschlachtet worden ist, mag ebenfalls lange Zeit einer Würdigung des Neubiedermeier hinderlich gewesen sein. Die vorliegende Arbeit will mithelfen, das Neubiedermeier stärker als bisher ins Bewußtsein zu rufen und ihm in der Stilgeschichte des frühen . Jahrhunderts den ihm ge- bührenden Platz zu sichern.

Die bisher geleistete Forschung konzentrierte sich auf die Ursprünge des Neubiedermeier, die in der Entdeckung des Biedermeier und seines Stils liegen. Neubiedermeierliche Raumkunst wurde nur ansatzweise un- tersucht, ebenso die Frage, was für den Bereich der Architektur unter Neubiedermeier zu verstehen ist. Die vorliegende Arbeit will einen Bei- trag zur Schließung dieser Lücken leisten. Das Neubiedermeier wird da- bei als ein viele Bereiche durchdringendes Stilphänomen begriffen. Ge- rade diese Breitenwirkung ist kennzeichnend und verdient genauere Be- trachtung. Untersucht werden die verschiedenen Formen, in denen Biedermeier als Stil, Epoche und Lebenshaltung rezipiert wurde, sowie die Topoi dieser Aneignung. Das Neubiedermeier wird in den Kontext der ideologischen und stilistischen Strömungen seiner Zeit gestellt. Be- sonderes Augenmerk gilt dem zeitgenössischen Diskurs um die Frage, wie das Neubiedermeier im Spannungsfeld von Historismus und Moder- ne einzuordnen sei. Schließlich wird das durch die ausufernde „Bieder- meierei“ eingeleitete Ende des Neubiedermeier dargestellt, womit die auf den Anfang der Stilbewegung gerichtete bisherige Forschung abgerundet werden soll.

Aktualität darf die Beschäftigung mit dem Neubiedermeier insofern beanspruchen, als heute das Biedermeier erneut entdeckt wird. War es am Anfang unseres Jahrhunderts die beginnende Moderne, die zurück- blickte, so wird heute das Biedermeier unter nachmoderner Perspektive betrachtet und verstanden.

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

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

. „HELLO, BIEDERMEIER!“ – DIE NEUE LUST AM BIEDERMEIER

D

  J erlebten eine „Renaissance des Biedermeier“. Deutlich hob sie sich von jener latenten Biedermeierphilie ab, die seit dem Neubiedermeier des Jahrhundertanfangs kleinbür- gerlichen Geistern stets ein goldenes Zeitalter jenseits der Gegenwarts- problematiken hatte aufscheinen lassen. »Glückliches Biedermeier« – so ein Buchtitel von  – war und ist das Motto dieser naiven Biedermei- er-Rezeption: „Heute, inmitten aller Unrast unserer Gegenwart, erinnern wir uns ab und zu wieder gerne an sichere und ruhige Epochen und ge- winnen aus ihrer Betrachtung Beglückung und Bestärkung.“ Allen Korrekturversuchen zum Trotz hat sich dieses sentimental verzerrte Bild vom Biedermeier bis heute behauptet. Hans Ottomeyer hat gewiß recht, wenn er vermutet: „Auf die Frage »In welcher Zeit möchten Sie leben?«

antwortet jeder zweite »Im Biedermeier!«.“

Mit Postkutschen-Romantik und Biedermeier-Stilzimmer-Gemütlich- keit hat die neue Lust am Biedermeier wenig zu schaffen. Bewußt wird das Klischee von der vormärzlichen Idylle konterkariert: Die österreichi- sche Zeitschrift »Parnass« gab  einem Sonderheft den Titel »Das wil- de Biedermeier«. Von „gestörter Idylle“ war im Untertitel der  ver- anstalteten Biedermeier-Ausstellung des Münchner Stadtmuseums die Rede. Mit »Biedermeiers Glück und Ende« begann ein wahrer Reigen von Biedermeier-Ausstellungen: / folgte zunächst in Wien »Bürger- sinn und Aufbegehren« – auch diese Ausstellung war wie ihre Münchner Vorgängerin kulturhistorisch-breitbandig orientiert und um Richtigstel- lungen bemüht. Eher ästhetisierend-traditionell präsentierte /

Georg Himmelheber in München »Kunst des Biedermeier«. Schließlich war  wieder Wien am Zug: »Biedermeier in Wien« – gezeigt im Rah- men der Internationalen Tage in Ingelheim am Rhein.

Dokumentierte sich in diesen großen Ausstellungen und in einer Welle von Publikationen die fachwissenschaftliche Hausse in Sachen Bieder- meier, so ließ sich parallel dazu ein Biedermeier-Boom auf dem Antiqui- tätenmarkt beobachten. Dieser war bald erschöpft: „Wirkliche Top- qualität ist nur mehr ganz selten zu bekommen – und dann hat sie auch ihren Preis“, urteilte Matthäus Kattinger  über die Situation im öster- reichischen Handel mit Biedermeier-Möbeln.  erschien in der Rei-

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

he der »Battenberg Antiquitäten-Kataloge« der Band »Biedermeier-Mö- bel«. Die Autoren sprachen von einem „auf breiter Basis erwachende(n) Interesse am Mobiliar der Biedermeier-Zeit“: „Vor zehn Jahren noch hät- te sich für ein Buch wie das vorliegende wohl kein Verleger gefunden.

Heute ist dies anders.“ Als Ursache wurde ein Generationswechsel unter den Sammlern vermutet. Eine neue Käuferschicht schätze das Bieder- meier-Möbel, da dieses „… in seiner geradezu klassischen Zurückhal- tung, mit seinen schönen Hölzern, seinen ausgewogenen Proportionen wie kein anderes prädestiniert (sei), sich mit der Moderne zu arrangie- ren.“ Melanie Fleischmanns und Mick Hales’ »Modernes Wohnen mit Antiquitäten: Empire – Biedermeier – Regency« ist ein  erschienener Ratgeber für solche Arrangements. Bereits das Neubiedermeier hatte die Vereinbarkeit des Biedermeier-Möbels mit moderner Raumgestaltung erkannt: So sagte Hermann Muthesius  auf der Dritten Deutschen Kunstgewerbe-Ausstellung in Dresden angesichts des dort präsentierten Maschinenmöbel-Programms der Dresdener Werkstätten: „Der Einwand, daß sich die neuen Möbel mit dem Überkommenden nicht vertragen, trifft nur auf die schlechten Möbel der Stilimitationszeit, nicht aber auf die vor  zu.“

Erhellt der Vergleich mit dem Neubiedermeier jedoch nicht auch ei- nen Unterschied im Verständnis des Biedermeier-Möbels? Ist die Lesart heute nicht eine grundsätzlich andere, als noch zu Beginn unseres Jahr- hunderts? Muthesius und viele Zeitgenossen schätzten am Biedermeier- Möbel die mit Modernität identifizierte Funktions- und Material- gerechtigkeit. Diese Eigenschaften treten in der heutigen Wahrnehmung des Biedermeier-Möbels gegenüber einem anderen Aspekt zurück: „Heu- te wird das Biedermeier aufs Neue wiederentdeckt. Diese Entwicklung fällt zusammen mit der verbreiteten Vorliebe für den Klassizismus, für die die Architektur und das Möbeldesign der Postmoderne … beispielhaft dasteht.“ So beschrieb Angus Wilkie den Zusammenhang zwischen Postmoderne und Biedermeier-Renaissance. In postmoderner Perspekti- ve schiebt sich das klassizistische Moment im Biedermeier-Möbel in den Vordergrund. Damit kehrt sich – verglichen mit dem Neubiedermeier – die Lesart um. Erkannte die junge Moderne im Biedermeier-Möbel ein Versprechen auf Zukunft, so schließt sich die Postmoderne via Bieder- meier mit einer stilvollen Vergangenheit kurz, ohne dabei – dank des nur dezenten Klassizismus – die Moderne ganz preisgeben zu müssen.

Noch ein Vergleich mit dem Jahrhundertanfang drängt sich auf. Otto Eckmann beklagte im Jahre  den Export biedermeierlicher Antiqui- täten nach England und Amerika: „In Hamburg, Lübeck und Dänemark kennt jedermann solche Arbeiten als Großväterhausrath und jedermann

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

ist in unbegreiflicher Verblendung beflissen, sich so schnell als möglich davon zu befreien, damit in England und Amerika geschmackvollere Leu- te ihre Wohnungen damit zieren.“ Eckmann griff wohl eine Beobach- tung seines Hamburger Landsmannes Lichtwark auf, der bereits 

geschrieben hatte: „In der Tat gehen alljährlich viele Tausende von Stüh- len, Tischen, Kommoden und Schränken dieser Epoche nach England und Amerika …“. Wurden schon damals die Qualitäten des Biedermei- er im anglo-amerikanischen Raum früher geschätzt als in seiner deutsch- österreichischen Heimat, so wiederholte sich rund achtzig Jahre später dieser Vorgang unter neuen Vorzeichen. Bereits  lenkte die Ausstel- lung »Vienna in the Age of Schubert« im Londoner Victoria and Albert Museum die Aufmerksamkeit auf das Biedermeier und sein Mobiliar. Der New Yorker Antiquitäten-Händler Niall Smith blickt zurück: „Vor zehn Jahren kam in London die Ausstellung »The Age of Schubert«. Und schlagartig begann das Interesse – auch hier in New York.“ Die Folge war ein Run auf Biedermeier-Möbel, die bald zu Spitzenpreisen gehan- delt wurden: November  wurde bei Christie’s in New York ein lyraförmiger Biedermeier-Sekretär für . Dollar versteigert. Bie- dermeier hielt Einzug in die Apartments und Lofts der oberen Zehntau- send New Yorks. Hier führte man den Europäern vor, wie zeitgemäß es sich in diesem Stil leben läßt. Frisch bezogen – auch schon mal im Leo- parden-Look – und aufpoliert, umgeben von modernem bzw. post- modernem Design und zeitgenössischer Kunst verlor das aus Europa importierte Biedermeier-Möbel sein Großmutterstil-Image. In entgegen- gesetzter Richtung zu dem an die amerikanische Ostküste fließenden Antiquitätenstrom kam das neue Bild vom Biedermeier über den Atlan- tik nach Deutschland und Österreich. Vermittelt wurde es vor allem durch Angus Wilkies  in New York und im selben Jahr in deutscher Über- setzung erschienenes »Biedermeier«-Buch.  berichtete die Zeit- schrift »architektur & wohnen« unter der Überschrift »Hello, Biedermei- er! New York entdeckt eine Epoche« über die neue Leidenschaft der Upper Ten dieser Metropole.

Die neue Lust am Biedermeier teilen auch jene amerikanischen Archi- tekten, die die Postmoderne ins Rollen gebracht hatten. Robert Venturi, dessen  erschienenes Buch »Complexity and Contradiction in Architecture« als Manifest der Postmoderne gilt, entwarf ab  neun Sperrholzstühle in neun verschiedenen Stilrichtungen, die  von Knoll auf den Markt gebracht wurden. Das Spektrum der Stile reicht von Queen Anne bis Art Déco. Auch dem Biedermeier ist ein Stuhl gewid- met, der in der Gestaltung seiner Lehne Wiener Biedermeier-Stühle zi- tiert. In der beliebigen Verfügbarkeit historischer Stile offenbart sich der

Abb. 1

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

historistisch-eklektizistische Habitus der Postmoderne. Gleichzeitig illu- striert diese Stuhl-Kollektion die von Venturi als Maxime verkündete Widersprüchlichkeit. Diese liegt im Kontrast von Material und Stilform begründet. Sperrholz ist nämlich ähnlich wie Stahlrohr ein typisches Material der Moderne im Möbeldesign: Mit Sperrholz experimentierte man am Bauhaus, Marcel Breuer entwarf Mitte der er Jahre Sperrholz- möbel für einen englischen Hersteller und Egon Eiermanns Sperrholz- stühle prägten die er Jahre. Ein Sperrholzstuhl im Biedermeierstil ist ein ironisches Sakrileg, begangen an einer modernen Materialtradition.

Andererseits wird die Moderne in Gestalt dieser Tradition selbst histori- siert und – quasi als zehnter Stil – zitiert. „In der Tat scheint eine nostal- gische Sehnsucht nach den Lebens- und Ausdrucksformen der Vergan- genheit ein starker Unterstrom in der Kultur der Postmoderne zu sein, und diese Nostalgie schließt immer häufiger auch ein sehnsüchtiges Sich- Erinnern an jene Zeiten ein, da die Moderne noch wirklich eine Moder- ne war und noch nicht selber in die Schatzkammer der Traditionen inte- griert war.“

Ist für Venturi Biedermeier nur ein Stil unter anderen, so haben Charles Jencks und Michael Graves ein spezifischeres Verhältnis zum Biedermei- erstil. In Jencks’ eigenem Haus in London, dem sogenannten „Thematic House“, gehen Biedermeier-Stühle mit postmodernem Möbeldesign eine eigentümliche Symbiose ein. Auch Michael Graves umgibt sich in sei- nem Büro mit Biedermeier-Möbeln. Hinzu kommen selbst entworfene, an den Biedermeierstil angelehnte Möbel, die den gemeinsamen Nenner von Postmoderne und Biedermeier verdeutlichen: Es ist der stereome- trisch-additive Klassizismus, der das Biedermeier-Möbel den post- modernen Architekten gefallen läßt. Beispiele für Graves’ Biedermeier- Rezeption sind die - für Sunar Hauserman entworfenen Ahorn- holz-Möbel. Neben den Formen läßt vor allem der Wechsel von hellem und schwarz-gebeiztem Holz an Biedermeier denken. Ein Hocker, den Graves für Diane von Fürstenbergs New Yorker Boutique gestaltete, spielt mit seinen Säbelbeinen ebenfalls auf diesen Stil an. Die  von Graves entworfene und seit  von Alessi hergestellte „Mantel Clock“ ruht auf vier schwarz-gebeizten, dorischen Säulen. Postmoderne Mikro-Architek- tur gibt in dieser Kaminuhr Biedermeier die Hand.

Postmoderne Biedermeier-Anleihen sind schließlich auch im europäi- schen Design der er Jahre auszumachen. So griff der „Frankfurter Schrank“ der deutschen Architekten Berghof, Landes und Rang /

den Typus des Biedermeier-Schreibschrankes auf. Ein ironisch-verfrem- deter Biedermeier-Schaufelstuhl nach Entwurf von Ernst M. Dettinger findet sich im WK Wohnen-Sortiment. Dieser Polsterstuhl parodiert den

Abb. 2

(19)



für das Biedermeier-Möbel typischen Kontrast von hellen und dunklen Holzteilen, indem er hier an „falscher“ Stelle zur Anwendung kommt:

Die Vorderbeine und das Lehnenbrett zeigen den hellen Ton von Kirsch- baum oder Buche, während die Zargen, die Hinterbeine und der übrige Rücken dunkel gebeizt sind.

Angesichts jener Biedermeier-Welle, die in Ausstellungen, Veröffentli- chungen und im Design zum Ausdruck kam und selbst vor der Werbung und dem Kinderbuch nicht haltmachte, stellte sich die Frage von allein, was die er Jahre mit der Zeit des Biedermeier gemein hatten: „Es muß da eine bestimmte Affinität unserer Zeit zum Biedermeier geben.“ Fra- gen und Antworten zielten oft auf eine Kritik politisch-gesellschaftlicher Zustände: „Was verbindet die New Yorker der ausgehenden Reagan-Ära mit den hölzernen Zeugen der Metternich-Zeit?“ So kam neben dem positiv besetzten „Biedermeier“-Stilbegriff ein auf konservativ-spießigen Geist zielender „Biedermeier“-Kulturbegriff in aller Munde. Christoph Stölzl erinnerte  im Vorwort des Katalogs zur Biedermeier-Ausstel- lung des Münchner Stadtmuseums an „… die öffentliche Diskussion, welche sich mit der Reizfrage »Neues Biedermeier« um den wirklichen bzw. scheinbaren Wertewandel seit dem Wechsel zur bürgerlichen Regie- rung der Bundesrepublik dreht …“. Auch in Österreich sprach man von

„Neobiedermeier“.

Dieser gesellschaftskritische, in der Bundesrepublik auf die seit 

angeblich herrschende „Wendekultur“ bzw. die Folgen der deutschen Einheit gemünzte Begriff kann mit dem hier behandelten Stilbegriff des frühen . Jahrhunderts kaum verwechselt werden. Er ruft den Ursprung des „Biedermeier“-Begriffs in Erinnerung, der ebenfalls in Spott und Kritik lag.

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

Abb. : Robert Venturi, Sperrholz- stuhl »Biedermeier«, hergestellt von Knoll International, /

Abb. : Ernst Martin Dettinger, Stuhl »WK «, hergestellt von WK,



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

. „BIEDERMEIER“ –

VOM SCHIMPFWORT ZUM EHRENTITEL

U

nd wie es oft erging: was anfänglich Schimpfwort war, ward spä- ter Ehrentitel: Biedermeier.“ In Anlehnung an Joseph August Lux charakterisierte Arthur Roeßler so die Karriere des „Bie- dermeier“-Begriffs. Begonnen hatte sie  in Karlsruhe, wo dem später bedeutenden Arzt Adolf Kußmaul ( – ) im Elternhaus eines Stu- dienfreundes ein Buch in die Hände fiel, das er – wie er sich später erin- nerte – „… mit unbeschreiblichem Vergnügen durchlas.“ Es handelte sich um eine  in Karlsruhe erschienene Sammlung von Gedichten des Dorfschulmeisters Samuel Friedrich Sauter ( – ), in denen Kußmaul „einen bisher ungehobenen Schatz einer eigenartigen Poesie von ungewöhnlich komischer Kraft“ entdeckte. Inspiriert von der eben- so naiven wie unfreiwillig komischen Dichtung Sauters begann Kußmaul in dessen Geist weiterzudichten. Bald schuf auch Kußmauls Freund Lud- wig Eichrodt ( – ) Gedichte in Sauterscher Manier. Diese Nach- dichtungen wurden zusammen mit Original-Gedichten Sauters zwischen Oktober  und Mai  in den »Fliegenden Blättern«, einer 

gegründeten humoristischen Zeitschrift, veröffentlicht. In Kußmauls Vorrede zur Veröffentlichung der ersten Gedichte betrat der fingierte Autor „Gottlieb Biedermaier“, hinter dem sich der Sautersche Prototyp verbarg, erstmalig die literarische Bühne. Ältere Spottfiguren wie Fried- rich Theodor Vischers „Schartenmaier“ oder Karl Immermanns „Piep- meyer“ mögen Pate gestanden haben. Victor von Scheffels „Bummel- meier“ und „Biedermann“ (/) müssen als nächste Vorfahren der

„Biedermaier“-Figur gelten. Daneben tummelten sich noch andere

„Maier“ zuhauf in den »Fliegenden Blättern«, „… als da sind die Bier- tischkumpane Knobelmaier und Knüttelmaier, der geizige Herr Thaler- meier, der Schuhmacher Ledermeyer, der Schnapshändler Fuselmaier, der Horcher Spitzelmaier, Börsenmeier, Brandmeyer und so weiter.“ Die Kombination des vulgären Familiennamens „Maier“ mit der Bezeich- nung „bieder“, deren ursprünglich eindeutig positive Bedeutung bereits im Barock eingeschränkt worden war, bedeutete „… fast eine Tautologie.

Denn beides meint etwas Beschränktes, Naives …“.

„Biedermaier“ war für Kußmaul und Eichrodt Repräsentant „… jener vormärzsündfluthlichen Zeiten …, wo Teutschland noch im Schatten

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kühler Sauerkrauttöpfe gemüthlich aß, trank, dichtete und verdaute, und das Übrige Gott und dem Bundestage anheimstellte.“ Damit traf der Spott nicht nur den poetischen Dilettantismus Sauters, sondern darüber hinaus die philiströse Beschränktheit und politische Lethargie von Sauters Zeitgenossen. „Biedermaier“ wurde von einer zweiten Figur, dem „von der Politik bereits angekränkelten“ „Buchbinder Horatius Treuherz“, be- gleitet, der als Autor jener vor allem von Eichrodt stammenden Gedichte herhalten mußte, „… die bis auf wenige nicht in die Kategorie der echten Biedermaierpoesie gehörten.“ „Treuherz“ berichtet in einem fingierten Brief, daß „Biedermaier … wegen seines vorgerückten Alters nicht mehr zum Fortschritte zu bewegen …“ gewesen sei. So war von Anfang an mit der „Biedermaier“-Figur auch Kritik an Duckmäusertum und Un- tertanengeist der Vormärzzeit verbunden. Diese politische Bedeutungs- komponente sollte in den folgenden Jahrzehnten noch stärker betont wer- den.Voraussetzung war das Fortleben der „Biedermaier“-Figur nach .

Dafür sorgte eine Neuveröffentlichung der Gedichte Sauters, Kußmauls und Eichrodts. Die Anthologie »Biedermaiers Liederlust. Lyrische Kari- katuren« erschien  jedoch nur noch unter Eichrodts Namen, was dazu führte, daß lange Zeit Eichrodt als Vater des „Gottlieb Biedermaier“

galt. Neben dem literarischen Fortleben ist auch an einen umgangs- sprachlichen Gebrauch des Spottnamens „Biedermaier“ zu denken.

Im Kaiserreich wurde die „Biedermaier“-Figur zum Inbegriff politi- schen Krähwinkeltums. „Biedermaier“ war nun nicht mehr Zeitgenosse Metternichs, sondern braver Untertan im frischgebackenen Hohenzol- lern-Kaiserreich:

„Schau, dort spaziert Herr Biedermeier Und seine Frau, den Sohn am Arm;

Sein Tritt ist sachte wie auf Eier,

Sein Wahlspruch: Weder kalt noch warm!

(…)Regierlich stimmt er bei den Wahlen, Zuwider ist ihm aller Streit;

Obwohl kein Freund von Steuerzahlen, Verehrt er sehr die Obrigkeit.

(…)“

Ähnlich wie der an der Revolution von  aktiv beteiligte Dichter Lud- wig Pfau in einem Gedicht von  bediente sich auch Friedrich Engels des Spottnamens. In einem Brief an August Bebel aus dem Jahre 

bezeichnete er so die rechte Sozialdemokratie. Im »Süddeutschen Po- stillion« von , einer Maizeitung der Arbeiterbewegung, kam „Bieder-

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meier“ selbst zu Wort. Als rechtschaffener Dresdener Bürger beklagt er, daß man beim Sonntagsspaziergang auf demonstrierende Arbeiter tref- fen könne: „Mein’twegen kennte d’r Deif’l d’n gans’n – ne, d’n gans’n nich, awer a’n erschtt’n Mai kennt’r hol’n, womit ich verbleibe – Dei gedreier Biedermeier.“  wechselte „Biedermaier“ in einer satiri- schen Erzählung von Alfons Thieberg das Lager, ohne die Charakterzüge des Beschränkten und Philiströsen ganz abzustreifen. Der brave Dorf- schulmeister „Jakob Gottlieb Biedermaier“ aus „Plempersdorf“ wird zum Anarchisten: „Biedermaier hatte aufrührerische Reden gehalten. Bieder- maier hatte mit Bomben und Dynamit gedroht, Biedermaier hatte die rote Fahne geschwungen.“ Zusammen mit anderen europäischen Anar- chisten gründet er auf den Kerguelen-Inseln den anarchistischen Staat

„Ravacholia“, der schließlich in Anarchie versinkt. Der geläuterte

„Biedermaier“ kehrt in seine Heimat zurück, wo er nun vor der noch schlimmeren Anarchie des „Fängdesjekel“ warnt.

Als die Redaktion der »Fliegenden Blätter« selbst schon biedermeierli- che Züge angenommen hatte, wie Thomas Theodor Heine später spöt- tisch berichtete, erschienen  in München zwei neue Zeitschriften, die in Sachen Satire und Humor den »Fliegenden Blättern« bald den Rang abliefen: der »Simplicissimus« und die »Jugend«. Bereits im ersten Jahr- gang der »Jugend« trat ein „Biedermaier (junior)“ in die Fußstapfen des dichtenden „Biedermaier“ der »Fliegenden Blätter«. Unter dem Pseud- onym verbarg sich vermutlich Fritz von Ostini, der erster leitender Re- dakteur der »Jugend« war. Weitere zeitkritische Gedichte Ostinis folgten ab  unter einem geänderten Pseudonym: „Biedermeier mit ei“ – zur Unterscheidung von Kußmauls „Biedermaier“ mit „ai“. „Zum . Ge- burtstag Sr. Excellenz des Herrn Geheimraths Professor Dr. Adolf Kuß- maul, des weiland wahren und Ur-Biedermaier“, schuf Ostini ein Ge- dicht, in dem es unter anderem heißt:

„Den ersten Dichter muß ich in Euch lieben, Der Lyrik schön mit Biedersinn verband.

Und habt Ihr Euch mit ai auch geschrieben, Im Herzen fühl’ ich innig mich verwandt!“

Ostini, der sich als Erbe Kußmaulschen Humors verstand, veröffentlich- te  seine gesammelten, aus bürgerlich-liberaler Warte Politik und Ge- sellschaft kritisierenden Gedichte unter dem Titel »Lieder eines Zeitge- nossen«. Ostinis „Biedermeier mit ei“ war ein Kind seiner Zeit, die be- reits das „Biedermeier“ als Epoche und Stil zu schätzen gelernt hatte.

Deshalb war „Biedermeier mit ei“ eher Subjekt als Objekt des Spotts.

Nur eine gewisse ironische Distanz trennte den Autor von seinem Pseud- onym. Zur Popularisierung des Wortes „Biedermeier“ haben Ostinis Ge-

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dichte gewiß beigetragen. Eduard Heyck bemerkte dazu : „In Eich- rodts komisch-metrischen Spuren wandelnd ist dann weiterhin ein neue- rer Biedermeier mit ei in der Münchner »Jugend« als pedantisch-phili- strös tuender Barde der Zeit- und Kulturereignisse aufgetreten. Sicher ist durch die »Jugend« der Begriff Biedermeierei am direktesten zu denen gekommen, die neuestens etwas allgemein Verstandenes aus dem Worte gemacht haben.“

Als „Biedermeier“ bereits zum Stilbegriff aufgestiegen war, verhalf Ostini der gleichnamigen komischen Figur zum Fortleben. Und wie in seinen Jugendtagen, die er in den »Fliegenden Blättern« verlebt hatte, durfte sich „Biedermeier mit ei“ einer großen Verwandtschaft erfreuen:

Da gab es etwa das „Röschen Biedermeier“ und den „alten Bitter- meier“. Verfechter und Gegner der modernen kunstgewerblichen Bewe- gung erhielten in der »Maler-Zeitung« die Namen „Neumeyer“ und „Alt- meyer“. „Nudelmeyer“ – der sprechende Name verrät es bereits – war der personifizierte Jugendstil. Und wenn es „Biedermeier“ als Figur gab, mußte es folglich auch einen „Herrn Neu-Biedermeier“ geben. Auch den alten „Biedermann“ ließ man wieder aus dem Grabe steigen, was allerdings zu einem Rechtsstreit mit einem echten „Biedermann“ führte:

„Professor Rudolf Biedermann in Steglitz hat ein richterliches Urtheil dahin erwirkt, daß der »Berliner Illustr. Ztg.« die Benennung einer stän- digen humoristischen Figur mit dem Namen »Professor Biedermann« un- ter Androhung von  Mark Strafe für jeden Fall untersagt wird.“ So berichtete die »Jugend« von diesem kuriosen Prozeß. Karl Ettlingers

„Karlchen“ befürchtete für den „Biedermeier mit ei“ Schlimmes:

„Ach ich seh schon, wie den Biedermeier Einer dieses Namens attakiert

und beleidigt die bewährte Leyer Vor das löbliche Gericht zitiert.“

Die sehr beliebten „Bieder-“ und anderen „Meier“ lenkten zwangsläufig die Aufmerksamkeit auch auf den alten „Biedermaier“. Mit dem »Buch Biedermaier« erschienen  die Gedichte Sauters, Kußmauls und Eich- rodts „… als selbständiges Buch …, mehr als ein halbes Jahrhundert nach ihrer Entstehung, jetzt zum ersten Male.“ Wer sich über die Hinter- gründe und Umstände der „Biedermaier“-Schöpfung informieren woll- te, konnte auf die  veröffentlichten »Jugenderinnerungen eines alten Arztes« Kußmauls oder auf die fünf Jahre später erschienene Eichrodt- Biographie Kennels zurückgreifen.

Die „Biedermeier“-Figur blieb auch um die Jahrhundertwende eine Spottfigur, doch war der Umgang mit ihr ironisch-wohlwollend. Ein ge- ändertes Verhältnis zum Wort „Biedermeier“ spiegelte sich darin. Schließ-

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lich hatte „Biedermeier“ längst einer neuen Epochen- und Stil- bezeichnung Pate gestanden, die den abschätzigen Beigeschmack zuneh- mend verlor. Wann sie aus der Taufe gehoben wurde, läßt sich nur schwer sagen. „Um  finde ich das Wort Biedermeier in feineren geschmacks- geschichtlichen Abhandlungen bereits angewendet als etwas, das der Le- ser kennt, oder doch als etwas, das er ohne weiteres verstehen wird“, schrieb Eduard Heyck . Es ist möglich, daß Heyck dabei die 

erschienene dritte Auflage von Georg Hirths »Das deutsche Zimmer« im Auge hatte. Hießen die früheren Auflagen »Das deutsche Zimmer der Renaissance«, so wurden  erstmalig auch das Mittelalter sowie das

. und . Jahrhundert behandelt. Hirth erwähnte beiläufig den soge- nannten „Biedermänner-Stil“, den er als „Stil ohne Stil“ abqualifizier- te. Diese aus „Biedermann“ statt „Biedermeier“ gebildete Begriffs- variante konnte sich bei einzelnen Autoren bis zur Jahrhundertwende behaupten: So sprach etwa der Wiener Kritiker Fritz Minkus noch im Jahre  von „Biedermännerstil“.

Für Adolf von Grolmans Aussage, „… Biedermeier sei im Unterricht um  ein völlig klarer Begriff gewesen, was Möbel, Raumdekoration und Kostüm anbetrifft“, fehlen die Belege. So sind bis heute Wilhelm Heinrich Riehls »Kulturgeschichtliche Charakterköpfe« aus dem Jahre

 der früheste Nachweis für den „Biedermeier“-Epochenbegriff. Im Kapitel »Der moderne Benvenuto Cellini« schrieb Riehl: „Unsere heuti- gen Künstler nennen die zwanziger und dreißiger Jahre die »Biedermeier- zeit« …“. Geismeier hat gewiß recht, wenn er unterstreicht, daß der von Riehl  erwähnte Wortgebrauch „… wohl schwerlich allerneuesten Datums war.“ Wenn außerdem die von „Biedermann“ abgeleitete Be- zeichnungsvariante als synonym zu verstehen ist, dürfen die er Jahre folglich als jenes Jahrzehnt gelten, in dem sich der „Biedermeier“- Epochen- und Stilbegriff zögerlich einzubürgern begann.

Parallel zur wachsenden Wertschätzung des vormärzlichen Erbes konn- te sich in den er Jahren der Begriff „Biedermeierstil“ für Mode und Kunsthandwerk jener Zeit durchsetzen. Nachdem man lange gebraucht hatte, um der verachteten Hinterlassenschaft überhaupt einen Namen zu geben, und sich nicht mehr mit Umschreibungen wie „großväterlich“

begnügte, bevorzugte man anfänglich die Epochenbezeichnung „Bieder- maierzeit“. Riehl berichtete , daß in Künstlerkreisen von „Bieder- meierzeit“ gesprochen werde. Anhand der Zeitschrift »Innen-Dekorati- on« läßt sich diese Beobachtung auch für die folgenden Jahre bestätigen:

So war etwa in Beiträgen Clementine von Braunmühls (), Georg Böttichers () und Richard Streiters () lediglich von „Biedermai- erzeit“ die Rede. Tunlichst vermied man, von einem Stil zu sprechen,

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schließlich galt noch immer Hirths Verdikt: „Stil ohne Stil“. So wurde beispielsweise  im »Kunstgewerbeblatt« der „Stil … v.J. “ als

„Nicht-Stil“ gebrandmarkt. In dieser Ausdrucksweise offenbarte sich ein „Stil“-Begriff, der nicht nur ein kunsthistorisches Erkenntnis- und Klassifikationsinstrument meinte, sondern auch ein Qualitätsurteil ent- hielt. Was qualitativ als zu schlecht galt, durfte nicht als „Stil“ angespro- chen werden.

, im Jahr der Wiener Kongreß-Ausstellung, anläßlich derer Lud- wig Hevesi vermutete, bald werde „der Biedermeier ein anerkannter Stil“

sein, hielt der „Biedermeierstil“ Einzug in die »Innen-Dekoration«.

 mußte schließlich selbst Fritz Minkus einräumen, daß der „Bieder- männerstil … seit kurzem in die Reihe der »offiziell anerkannten« Stile vorgerückt ist …“.

Nun hatte „Biedermeier“ zwar die Weihen eines Stils, doch konnte er seine Abstammung von einer komischen Figur nicht ganz vergessen las- sen. So sprach Alfred Lichtwark  vom „vorläufig als komisch emp- fundenen und bezeichneten sogenannten Biedermeierstil“.  wurde

„Biedermeierstil“ in der »Innen-Dekoration« ebenfalls als „Spottnamen“

charakterisiert. Innerhalb weniger Jahre sollte sich dies im Zuge des Neubiedermeier ändern: Bereits  war „Biedermaier“ für Ludwig Hevesi ein „Kosenamen“. Oskar Schwindrazheim erinnerte  im

»Kunstwart« daran, was ursprünglich mit „Biedermeier“ gemeint war:

„Biedermeier! – fühlen Sie nicht ohne lange Erklärung, daß das Wort auf genau derselben Seite des Scheltwörterlexikons steht, wie die Worte Phi- lister, Hinz und Kunz und Gevatter Schuster, Schneider und Handschuh- macher?“ Eine Beobachtung Joseph August Lux’ aufgreifend, fuhr Schwindrazheim fort: „Heut ist dieses Scheltwort ein Ehrenwort gewor- den …“. Doch dieser Meinung waren nicht alle: Paul Schultze-Naum- burg hatte  im »Kunstwart« geschrieben: „Das Wort ist unglücklich gewählt, weil es für eine ernsthafte Sache eine komische Bezeichnung gebraucht; schlecht gewählt darum, weil es neben und über den »Bieder- meiern«, den komisch altväterischen Käuzen doch noch andere Leute gab, bedeutende Menschen genug, denen der Stil der Zeit mehr verdan- ken dürfte als jenen Spießbürgern.“ Diese Argumentation erinnert an Wilhelm Heinrich Riehl, der sich bereits  gegen den Begriff „Bieder- meierzeit“ ausgesprochen hatte: „… eine höchst ungerechte Benennung, wenn man aufs Ganze, wenn man auf die epochemachenden künstleri- schen Genien jener Jahrzehnte blickt.“ Zu diesen Genien rechneten Riehl wie Schultze-Naumburg auch Schinkel, der nach einem späteren Vorschlag Ernst Rudorffs „Biedermeier“ als Namenspatron für die Vor- märzzeit ersetzen sollte: „Haben wir wirklich Veranlassung, mit unsrer

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Maschinenbrutalität und unsrer Impotenz auf manchem Gebiet künstle- rischen Schaffens mit leisem Spott auf unsre Großväter oder Urgroßvä- ter herabzusehen? Vielleicht würde es sich am ehesten empfehlen, wenn doch irgendein Name gegeben werden soll, Ludwig Richter oder Schin- kel für Biedermeier zu setzen.“ Die Redaktion des »Kunstwarts«, wo Rudorffs Vorschlag  veröffentlicht wurde, hatte gegen den Begriff

„Schinkel-Zeit“ grundsätzlich keine Einwände, gab allerdings zu beden- ken, daß „Biedermeier“ „… als Zeitbezeichnung … längst einen andern, bessern Klang bekommen (hat), bei dem von Spott kaum noch etwas durchklingt.“

Als in den er Jahren eine germanistische Diskussion um die literaturhistorische Epochenbezeichnung „Biedermeier“ entbrannte, schrieb Paul Kluckhohn: „Gesprächsweise wurde mir von Fachgenossen entgegengehalten, dies Wort habe doch einen allzu geringschätzigen klein- lichen Beigeschmack und entwerte so die Dichter, die man damit be- zeichne.“ Doch Kluckhohn wies darauf hin, daß „… auch die Worte Go- tik und Barock zunächst eine sehr geringschätzige Bedeutung gehabt …“

hätten. So wiederholten sich in der Germanistik die Geburtswehen des

„Biedermeier“-Epochen- und Stilbegriffs, die die Kunstgeschichte be- reits hinter sich gebracht hatte. Mit Paul Ferdinand Schmidts Buch über die »Biedermeier-Malerei« von  hatte sich die Bezeichnung „Bieder- meier“ auch für die bildende Kunst durchgesetzt, nachdem sie zunächst nur auf Kunstgewerbe und Mode bezogen worden war.

Der unaufhaltsame Aufstieg des Wortes „Biedermeier“, der sich nach dem Ersten Weltkrieg fortsetzen sollte, wurde zu Zeiten des Neu- biedermeier von mancherlei Unklarheiten und Irrtümern begleitet:

„Qu’est-ce que c’est que »Biedermeier«? Wer es im Grunde nicht weiß, weiß es natürlich heutzutage ganz genau …“, stellte Eduard Heyck 

fest. Ein Beispiel für die Unklarheit, die noch  über „Biedermeier“

herrschte, gibt eine an die Zeitschrift »Der Innenausbau« gerichtete Fra- ge: „Sie betrifft den sogenannten »Biedermeierstil«. Das Publikum ist rein verrückt nach diesem Kram. Was bedeutet denn eigentlich »Biedermeier«

in diesem Zusammenhange? War er eine Persönlichkeit, die diesen Stil erfunden hat …?“ Die Antwort enthält den nächsten Irrtum, da Sauter und Kußmaul zu einer Person verschmelzen: „Biedermeier“ sei „das Pseudonym eines schwarzwälder Schullehrers und Mitarbeiters der »Flie- genden Blätter«“ gewesen, heißt es da in der „Fachlichen Auskunftei“.

Nicht minder irrtümlich war die Annahme, das „Originalwort Bieder- meier“ sei geprägt worden, „… um damit die »altmodischen Philister«, die den neuen von den Neumodischen von dazumal aufgebrachten stil- vollen Möbeln ihre »Biedermeier«-Sachen vorzogen, als Philister zu ver-

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spotten“. Hier wurde offensichtlich unter dem Eindruck des neuen

„Biedermeier“-Stilbegriffs der Entstehungszusammenhang des Wortes

„Biedermeier“ falsch gedeutet. Anachronistisch verwendete Joseph Au- gust Lux den „Biedermeier“-Stilbegriff in seinem historischen Roman

»Grillparzers Liebesroman«, wo schon Kathi Fröhlich von „Biedermeier“

spricht. Fast scheint es, als hätte sich Lux, der Propagandist des Neu- biedermeier, nicht mehr vorstellen können, daß die „Biedermeier“ das Wort „Biedermeier“ noch gar nicht kannten.

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Abb. : Julius Diez, Illustration zu Fritz von Ostinis »Im Sachsenwald«, veröffentlicht in der »Jugend«, 

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. DIE ENTDECKUNG DES BIEDERMEIERSTILS

J

 L, seit  Direktor des Berliner Kunstgewerbemuse- ums, hielt anläßlich der Wiener Weltausstellung von  Rückschau auf die Entwicklung des Kunstgewerbes. Die ersten Jahrzehnte nach der Französischen Revolution charakterisierte Lessing als „Zeit des Pu- rismus“. Das schlichte und einfache Biedermeier – ein Stilbegriff, den Lessing freilich noch nicht kannte – war dem Förderer der Neu- renaissance gleichbedeutend mit dem durch die Armut nach den napo- leonischen Kriegen beschleunigten Verfall des Kunstgewerbes: „Es be- gann jene Periode der Mahagoni-Möbel, in der man sich mit dem Reize begnügte, welchen die zufälligen Bildungen der Mahagonifaser auf sonst glatten Flächen allenfalls gewähren können. (…) Die Tische wurden vier- eckig oder rund mit spindeldürren Säulenfüßen, die Stühle schmal mit steifen Lehnen, die Bettstellen schrumpften zu sargähnlichen Behältern zusammen, die Sofa’s glaubten durch eine steile Schnecke an jeder Seite allen berechtigten Ansprüchen genügt zu haben, die Polster waren flach und knapp oder wurden durch Rohrgeflechte ersetzt. Der Charakter der Dürftigkeit konnte nicht weiter getrieben werden.“

„Es ist leicht, über diese Kunst zu spotten … Wir denken heute an- ders“, schrieb rund dreißig Jahre später Erich Haenel in der

»Ausstellungs-Zeitung« der Dritten Deutschen Kunstgewerbe-Ausstel- lung Dresden . Auch Haenel blickte auf die Entwicklung des deut- schen Kunstgewerbes zurück. Fast wortwörtlich übernahm er Lessings Charakterisierung des Biedermeier-Möbels, fügte aber hinzu: „Wir ach- ten in diesen dürftigen Erzeugnissen die solide Arbeit, die den inneren Zweck des Gegenstandes nicht aus den Augen verliert, und die Abkehr von allem nichtssagenden Prunk; wir genießen mit Entzücken die zarte und keusche Stimmung jener Räume und wir bewundern die Ehrlich- keit, mit der sie sich zum Träger des Zeitgeistes zu machen verstehen.“

Zwischen den Texten von Lessing und Haenel lag ein Zeitraum, der vom wachsenden Interesse an jener „Zeit des Purismus“ über deren Tau- fe auf den Namen „Biedermeier“ schließlich zur Umwertung und Re- naissance des Biedermeier geführt hatte. Diese Vorgeschichte des Neu- biedermeier soll im folgenden als Entdeckung des Biedermeierstils be- schrieben werden.

Die Biedermeierzeit geriet in den er und er Jahren als Negativ-

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Folie für die unter dem Zeichen der deutschen Renaissance angetretene kunstgewerbliche Erneuerungsbewegung in den Blick. In der Rückschau durfte sich die Gründer-Generation des Fortschritts vergewissern. Gera- dezu mit Abscheu erinnerte man sich jener Zeit, in der „… Wohnraum und Geräth den Anforderungen nackten Bedürfnisses, oder wenn dies über die tödtende Kahlheit von Tünche, schablonenhaft vertausendfach- ter Tapete oder formscheuer Politur hinauszugehen wagte, der Ge- schmacklosigkeit, Disharmonie und Willkür“ überantwortet waren. Die- ses  in der Jubiläums-Festschrift des Münchener Kunstgewerbe- vereins von Franz Reber ausgesprochene Verdammungsurteil galt insbesondere dem Biedermeier-Möbel: „Man kann behaupten, daß das Mobiliar der dreißiger Jahre an öder Formlosigkeit oder im besten Falle in ungeschickter Manierirtheit unerreicht dasteht.“

In den von Lessing und Reber verwendeten Begriffen wie „Dürftig- keit“, „Kahlheit“, „Formscheu“ und „Disharmonie“ kam das eigene Gestaltungs- und Einrichtungsideal zum Ausdruck, das als konträr zu jenem der Biedermeierzeit begriffen wurde. Mobiliar und Dekoration dienten im historistischen Interieur mit ihren Formen und ihrer Polychromie einem malerischen, harmonischen Gesamteindruck. Dolf Sternberger hat dies als „merkwürdige Verkehrung“ analysiert: „… aller bestimmte Zweck und Nutzen sowohl des ganzen Raumes als der einzel- nen Gegenstände, die sich darin befinden, aller Unterschied der prakti- schen wie der schmückenden Dinge, ja aller Bau und Formcharakter von Möbeln und Türen wird diesem überfangenden, einhüllenden, keine Unterbrechung, nichts »Hartes und Unruhiges« duldenden Gesamtein- druck nachgeordnet. Das letzte, was sich sonst ungewollt von selber ein- zustellen pflegt, eben der »Eindruck«, den das Ganze macht, wenn alles einzelne fertiggestellt und nach seiner jeweiligen Funktion angebracht ist – dies letzte gilt hier als das erste.“ Dieses Primat des malerischen Ge- samteindrucks ließ den Biedermeier-Raum mit seinen als Individualitäten behandelten und in ihrer Funktion und Körperlichkeit präsenten Mö- beln zwangsläufig als „disharmonisch“ erscheinen.

Hinzu kam ein weiteres: Der Blick der Neurenaissancisten war auf das farbige Hell-Dunkel plastisch-ornamentierter Möbel und Dekorationen eingestellt. In der „Kahlheit“ des Biedermeier-Raumes mußte er sich ver- lieren, von seiner Helligkeit geblendet werden und an den glatten Mö- beln abgleiten: „Das Möbel ist platt und flach und strahlt in spiegelndem Glanze.“ Was sich heute wie eine neutrale Aussage liest, war  von Jakob von Falke, dem späteren Direktor des Wiener Kunstgewerbemuse- ums, abwertend gemeint. Denn Falke vermißte am Biedermeier-Möbel das „Relief seiner Facaden und deren Wirkung durch Schatten und

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Licht“. Dieses Licht- und Schatten-Spiel, hervorgerufen durch das Re- lief der „constructiv-architektonischen Gestaltung“, hätte aber erst das Möbel seinen Beitrag zur polychrom-dämmrigen Raumstimmung leisten lassen: „Die Herrschaft der Stimmung macht vor der Tektonik des Mö- bels keineswegs halt. Kanten, Gesimse und Säulen verschwimmen in Lichter und Schatten, die massiven Bauelemente verflüchtigen sich zu farbigen Nuancen.“ In diesen von Sternberger treffend geschilderten Zielen historistischer Raumkunst sah Otto Schulze  sogar die Grün- de für den Rückgriff auf die deutsche Renaissance: „Wir können ja wohl heute bereits das offene Geständnis ablegen, daß wir seiner Zeit nicht aus praktischen Gründen auf die Kunst- und Werkformen der deutschen Re- naissance des . Jahrhunderts zurückgriffen, daß uns vielmehr ein Ver- langen nach scharfer Licht- und Schattenfluthung, nach malerischen Ef- fekten, nach Gegensätzen zwischen Körper und Fläche dazu trieb.“ Das

„platte und flache“ Biedermeier-Möbel, seine – wie Schulze es nannte –

„gegensatzlose, flache Nüchternheit“, hätte sich aber der so angestreb- ten Raumstimmung verweigert. Sie wäre außerdem durch den Spiegel- glanz des polierten Biedermeier-Möbels verletzt worden: „Barbarisch und stillos heißt … das Spiegelnde darum, weil es den wohlig glühenden Dämmer scharf unterbrechen, weil es die gleitenden Farbübergänge zer- schneiden und weil es vor allem die Gewißheit des inneren, in den Stof- fen aufbewahrten und über ihnen spielenden Lichtes jäh zerstören würde durch den Anblick des Reflexes, der die andere und äußere Lichtquelle geheimnislos einschießen und zurückprallen ließe, ohne daß sie aufge- saugt würde.“

Nicht nur bei den Theoretikern und Historikern des Kunstgewerbes lassen sich Beschreibungen des Biedermeier-Möbels und -Raumes fin- den. In Otto Bährs kulturgeschichtlicher Skizze »Eine deutsche Stadt vor sechzig Jahren« () schildert der Verfasser seine Erinnerungen an Kas- sel im dritten Jahrzehnt des . Jahrhunderts: „Auch die Zimmereinrich- tungen waren im Durchschnitt sehr einfach. Die Möbel waren ohne Stil und von geringem Geschmack. Vorherrschend war das polirte Kirschholz.

Mahagoni galt als etwas besonders feines. Möbel mit Schnitzwerk kannte man garnicht.“ Auch Bähr, der um eine sachliche Beschreibung der

„wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zustände dieser Zeit“ bemüht war, konnte sich die Anmerkung „ohne Stil und von geringem Ge- schmack“ nicht verkneifen.

Härter als in dieser kulturhistorischen Darstellung mußte das Urteil freilich in Georg Hirths Geschmacksgeschichte »Das deutsche Zimmer«

ausfallen, da hier auch „Anregungen zu häuslicher Kunstpflege“ gegeben werden sollten. Die dritte Auflage dieses Standardwerkes erweiterte 

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den Betrachtungshorizont in Richtung Gegenwart. Die Rehabilitation bislang verschmähter Stile erreichte die letzten Jahrzehnte des .Jahr- hunderts: „Auch in Deutschland ist in den Jahren  –  viel Schö- nes geschaffen worden, viel mehr, als man gemeinhin anzunehmen ge- neigt ist …“. Damit durfte sich der „Zopfstil“ der Kette anerkannter Stile anschließen. Mit dem „Empire-Zopf“ hätten sich die seit Mitte des

. Jahrhunderts vorherrschenden „antikisirenden Bildungen“ schließ- lich zum „kalten, herzlosen Cäsarenstil Napoleon’s“ abgekühlt. Von die- sem „Empire-Zopf“ unterschied Hirth die „Biedermännerei“: „Mit dem Sturze des großen Korsen war nämlich auch die freudlose Antike auf Ein- mal abgethan, fast verfehmt, und es begann jenes »gemüthliche«, sinnlose Durcheinander, der »Biedermänner-«, in Wirklichkeit ein Verlegenheits- Stil, ein Stil, dessen Anspruchslosigkeit seinem Mangel an wirklicher Kunst entsprach und der uns darum in gewissem Sinne noch genießbarer erscheint als sein hochmüthiger Vorgänger. Aber die harmlos-spießbür- gerliche Idylle dieses ärmlichen »Stils ohne Stil« konnte nicht von Dauer sein …“. Als „Krankheit“ der er bis er Jahre des . Jahrhunderts diagnostizierte Hirth: „»Chronische Schwindsucht der künstlerischen Dekoration, complicirt durch Atrophie der kunstgewerblichen Tech- nik«“. Hirths Ausführungen zum Kunstgewerbe der Zeit nach den na- poleonischen Kriegen gaben durch die Differenzierung zwischen „Em- pire-Zopf“ und „Biedermännerei“ der weiteren Beschäftigung mit der jüngsten stilgeschichtlichen Vergangenheit einen wichtigen Anhaltspunkt.

Daß diese Unterscheidung lange brauchte, bis sie sich schließlich end- gültig durchsetzen konnte, beweist ein Artikel Leopold Gmelins aus dem Jahre , in dem davon gesprochen wird, daß der „Biedermaierstil“

auch „Empirestil“ genannt werde.

Die Beschreibungen von Biedermeier-Raum und -Möbel blieben in der ersten Hälfte der er Jahre stereotyp. Betont wurde der Gegensatz zwischen biedermeierlicher und zeitgenössischer Raumkunst.  ver- glich Jakob von Falke »Unsere Wohnung von Einst und Jetzt«. Erst die letzten Jahrzehnte hätten ihr „Form, Farbe, Stimmung, Reiz und Poesie“

zurückgegeben, nachdem „Nüchternheit“ und „Reizlosigkeit“ in den Wohnungen der „Großväter und Großmütter“ geherrscht hätten. Al- bert Hofmann-Reichenberg hob im selben Jahr die „Kunstlosigkeit“ der

„Wohnung nach den Befreiungskriegen“ hervor. Ebenfalls  unter- strich auch Hans Schliepmann die „Kunstlosigkeit“ der Biedermeierzeit, die ihm als „elende Zeit ästhetischer Süßmeierei und kraftlosesten Kräh- winkeltums“ galt: „Wer zwei Säulchen »reinlich und schicklich« mit einem Giebelchen zu überdecken wußte, galt schon als Künstler …“. „Nüch- tern, stil- und schmucklos“ – auf diese Formel verständigten sich fast alle

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Autoren. Das Bild vom Biedermeierstil blieb das gleiche, ob nun im einzelnen von „steifer Pedanterie“ oder von „gespreizte(r) Langweilig- keit“ die Rede war.

Nur ganz untergründig bereitete sich eine Umwertung vor. Ein frühes Dokument ist Julius Faulwassers Aufsatz über »Die Ausstattung von Woh- nungen einzelner Personen«, der  in der »Innen-Dekoration« veröf- fentlicht wurde. Der Autor stellte die ihm aus Jugendtagen persönlich vertrauten Wohnungseinrichtungen von verwitweten Großmüttern und Großtanten als vorbildlich dar. Wenn Faulwasser erwähnte, „… wie er- staunlich schlicht selbst die beste bürgerliche Wohnung noch vor einem halben Jahrhundert beschaffen war“, so hatte diese Bemerkung im Kon- text seiner Darstellung nichts Abschätziges. Faulwasser schilderte fast mit Bewunderung den „Komfort jener Stuben seiner Jugenderinnerun- gen“, der sich vor allem dem Mobiliar verdankte, denn „jedes Stück ent- sprach seinem besonderen Zweck …“. Faulwasser ging so weit, „… die- se Einrichtungen in Bezug auf ihren »praktischen« Nutzen speziell für die Wohnungen einzelner Personen als unsern heutigen Mobilien vielfach weit überlegen (zu) bezeichnen …“. Illustriert war der Beitrag durch zwei Zeichnungen aus dem Jahre , die das Schlafzimmer von Groß- und Urgroßmutter des Autors sowie das Wohnzimmer seiner Großtante zeigten.

In Faulwassers Aufsatz deutete sich bereits  an, auf welchem Wege man dem Biedermeier größere Gerechtigkeit widerfahren lassen konnte:

durch den Hinweis auf Komfort und Zweckdienlichkeit. In diese Rich- tung ging  im »Kunstgewerbeblatt« Richard Grauls Bemerkung, man wisse „… das intime sans-gène zu schmecken …, das in der Ausstattungs- kunst der ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts zuweilen herrscht …“.

Die Solidität der Biedermeier-Arbeiten geriet ins Blickfeld: „Unser heu- tiger Nähtisch stammt in seiner jetzigen Form aus den -er Jahren.

(…) Verbessert hat er sich kaum nennenswerth, eher verschlechtert. Die Arbeiten der damaligen Zeit waren, wenn auch nichts weniger als schön, doch solid, was man von unseren heutigen Sachen mit ihren auf- und angepaßten Verzierungen … durchaus nicht rühmen kann“, hieß es 

in der »Innen-Dekoration«. Bereits ein Jahr später galt der „Stil … von

“ einem anderen Autor auch als „schön“.

Zu dieser Umwertung des Biedermeierstils führte auch ein Neben- weg, auf dem Argumente durch Sentimentalität ersetzt wurden. Das Juli- Heft von  der »Innen-Dekoration« wurde durch eine Titel-Vignette geschmückt, die ein Biedermeier-Mädchen zeigte. Die Redaktion kom- mentierte: „Mit dem Mädchenköpfchen unserer heutigen Titel-Vignette führen wir unsere Leser zurück in jene schöne Zeit, wo der Großvater die

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